Kronprinz die Hochburg des preußischen Rationalismus, die Provinz Sachsen: auf keinen Fall sollte der von Altenstein begünstigte Leipziger Großmann die Stelle des Bischofs und Generalsuperintendenten in Magdeburg er- halten. Ich halte es für undenkbar, schrieb der Prinz, "daß ein Mann, der als flacher, herzloser, eitler Rationalist bekannt, dessen nackter Quasi- Jacobinismus ihn selbst in Leipzig! zum Gespött seiner Collegen macht, daß solch ein Mann zu solcher Stelle in dieser Provinz vor- geschlagen werden und noch viel weniger vom Könige genehmigt werden könnte." *) Der Thronfolger erreichte in der That, daß Dräseke aus Bremen nach Magdeburg berufen wurde. Der neue Bischof riß durch seine mächtige Beredsamkeit alle Hörer hin, und als er auf dem Lützener Schlachtfelde bei der Enthüllung des Gustav-Adolf-Denkmals die Weihe- predigt hielt, da ging ein Jubelruf religiöser Begeisterung durch die vor- dem so nüchterne Provinz.
So begann allmählich ein neuer Geist in das preußische Kirchen- regiment einzuziehen. Hengstenberg's Kirchenzeitung sprach schon in einem Tone, als ob ihrer Partei allein die Herrschaft über die Kirche zustände, und ihre Macht ward durch die Tübinger Bewegung nur noch befestigt. Wenige Monate nach dem Erscheinen des Lebens Jesu schrieb der Kron- prinz dem Minister: jetzt scheine es hoch an der Zeit, einen gläubigen Theo- logen nach Halle zu berufen, wo Tholuck ganz allein stehe: "Mehr als zwei Drittel der jungen Studenten saugen Grundsätze ein, die dem Ra- tionalismus (dem Machwerk menschlicher Satzungen und Meinungen), nicht aber dem lauteren Worte Gottes angehören, und verpesten mit diesen Grundsätzen, ausgesendet und angestellt, als Boten des Heils das ganze Land;" die Berufung Baur's sei ganz unmöglich, denn er habe sich neuerdings "den Ansichten eines Dr. Strauß angeschlossen!" **)
Ueberall in Deutschland erstarkten der Pietismus und die Orthodoxie, die man allmählich für gleichbedeutend ansah; sie bekämpften die specula- tive Theologie auf Tod und Leben, sie vertheidigten bis auf den letzten Buchstaben "das Wort und das Wort allein und nichts als das Wort", sie bewährten ihre Kraft in den Werken des praktischen Christenthums. Während von Basel aus das deutsche Oberland mit einem Netze christ- licher Missionsanstalten überspannt wurde und die schwäbischen Pietiften in Calw durch geschmacklose Tractätchen, aber auch durch Werke der Barm- herzigkeit die gläubigen Gemüther zu gewinnen suchten, erbaute der fromme F. W. Krummacher die armen, gequälten Arbeiter des Wupperthales durch liebevolle Seelsorge und durch tiefgemüthliche Kanzelreden, welche der alte Goethe freilich für "narkotische Predigten" erklärte. Vor den Thoren Ham- burgs errichtete Hinrich Wichern im Rauhen Hause eine Rettungsanstalt
*) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenstein, 15. Nov. 1831.
**) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenstein, 20. April 1836.
IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Kronprinz die Hochburg des preußiſchen Rationalismus, die Provinz Sachſen: auf keinen Fall ſollte der von Altenſtein begünſtigte Leipziger Großmann die Stelle des Biſchofs und Generalſuperintendenten in Magdeburg er- halten. Ich halte es für undenkbar, ſchrieb der Prinz, „daß ein Mann, der als flacher, herzloſer, eitler Rationaliſt bekannt, deſſen nackter Quaſi- Jacobinismus ihn ſelbſt in Leipzig! zum Geſpött ſeiner Collegen macht, daß ſolch ein Mann zu ſolcher Stelle in dieſer Provinz vor- geſchlagen werden und noch viel weniger vom Könige genehmigt werden könnte.“ *) Der Thronfolger erreichte in der That, daß Dräſeke aus Bremen nach Magdeburg berufen wurde. Der neue Biſchof riß durch ſeine mächtige Beredſamkeit alle Hörer hin, und als er auf dem Lützener Schlachtfelde bei der Enthüllung des Guſtav-Adolf-Denkmals die Weihe- predigt hielt, da ging ein Jubelruf religiöſer Begeiſterung durch die vor- dem ſo nüchterne Provinz.
So begann allmählich ein neuer Geiſt in das preußiſche Kirchen- regiment einzuziehen. Hengſtenberg’s Kirchenzeitung ſprach ſchon in einem Tone, als ob ihrer Partei allein die Herrſchaft über die Kirche zuſtände, und ihre Macht ward durch die Tübinger Bewegung nur noch befeſtigt. Wenige Monate nach dem Erſcheinen des Lebens Jeſu ſchrieb der Kron- prinz dem Miniſter: jetzt ſcheine es hoch an der Zeit, einen gläubigen Theo- logen nach Halle zu berufen, wo Tholuck ganz allein ſtehe: „Mehr als zwei Drittel der jungen Studenten ſaugen Grundſätze ein, die dem Ra- tionalismus (dem Machwerk menſchlicher Satzungen und Meinungen), nicht aber dem lauteren Worte Gottes angehören, und verpeſten mit dieſen Grundſätzen, ausgeſendet und angeſtellt, als Boten des Heils das ganze Land;“ die Berufung Baur’s ſei ganz unmöglich, denn er habe ſich neuerdings „den Anſichten eines Dr. Strauß angeſchloſſen!“ **)
Ueberall in Deutſchland erſtarkten der Pietismus und die Orthodoxie, die man allmählich für gleichbedeutend anſah; ſie bekämpften die ſpecula- tive Theologie auf Tod und Leben, ſie vertheidigten bis auf den letzten Buchſtaben „das Wort und das Wort allein und nichts als das Wort“, ſie bewährten ihre Kraft in den Werken des praktiſchen Chriſtenthums. Während von Baſel aus das deutſche Oberland mit einem Netze chriſt- licher Miſſionsanſtalten überſpannt wurde und die ſchwäbiſchen Pietiften in Calw durch geſchmackloſe Tractätchen, aber auch durch Werke der Barm- herzigkeit die gläubigen Gemüther zu gewinnen ſuchten, erbaute der fromme F. W. Krummacher die armen, gequälten Arbeiter des Wupperthales durch liebevolle Seelſorge und durch tiefgemüthliche Kanzelreden, welche der alte Goethe freilich für „narkotiſche Predigten“ erklärte. Vor den Thoren Ham- burgs errichtete Hinrich Wichern im Rauhen Hauſe eine Rettungsanſtalt
*) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 15. Nov. 1831.
**) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 20. April 1836.
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IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Kronprinz die Hochburg des preußiſchen Rationalismus, die Provinz Sachſen:
auf keinen Fall ſollte der von Altenſtein begünſtigte Leipziger Großmann
die Stelle des Biſchofs und Generalſuperintendenten in Magdeburg er-
halten. Ich halte es für undenkbar, ſchrieb der Prinz, „daß ein Mann,
der als flacher, herzloſer, eitler Rationaliſt bekannt, deſſen nackter Quaſi-
Jacobinismus ihn ſelbſt in Leipzig! zum Geſpött ſeiner Collegen
macht, daß ſolch ein Mann zu ſolcher Stelle in dieſer Provinz vor-
geſchlagen werden und noch viel weniger vom Könige genehmigt werden
könnte.“ *) Der Thronfolger erreichte in der That, daß Dräſeke aus
Bremen nach Magdeburg berufen wurde. Der neue Biſchof riß durch
ſeine mächtige Beredſamkeit alle Hörer hin, und als er auf dem Lützener
Schlachtfelde bei der Enthüllung des Guſtav-Adolf-Denkmals die Weihe-
predigt hielt, da ging ein Jubelruf religiöſer Begeiſterung durch die vor-
dem ſo nüchterne Provinz.
So begann allmählich ein neuer Geiſt in das preußiſche Kirchen-
regiment einzuziehen. Hengſtenberg’s Kirchenzeitung ſprach ſchon in einem
Tone, als ob ihrer Partei allein die Herrſchaft über die Kirche zuſtände,
und ihre Macht ward durch die Tübinger Bewegung nur noch befeſtigt.
Wenige Monate nach dem Erſcheinen des Lebens Jeſu ſchrieb der Kron-
prinz dem Miniſter: jetzt ſcheine es hoch an der Zeit, einen gläubigen Theo-
logen nach Halle zu berufen, wo Tholuck ganz allein ſtehe: „Mehr als
zwei Drittel der jungen Studenten ſaugen Grundſätze ein, die dem Ra-
tionalismus (dem Machwerk menſchlicher Satzungen und Meinungen), nicht
aber dem lauteren Worte Gottes angehören, und verpeſten mit dieſen
Grundſätzen, ausgeſendet und angeſtellt, als Boten des Heils das ganze
Land;“ die Berufung Baur’s ſei ganz unmöglich, denn er habe ſich
neuerdings „den Anſichten eines Dr. Strauß angeſchloſſen!“ **)
Ueberall in Deutſchland erſtarkten der Pietismus und die Orthodoxie,
die man allmählich für gleichbedeutend anſah; ſie bekämpften die ſpecula-
tive Theologie auf Tod und Leben, ſie vertheidigten bis auf den letzten
Buchſtaben „das Wort und das Wort allein und nichts als das Wort“,
ſie bewährten ihre Kraft in den Werken des praktiſchen Chriſtenthums.
Während von Baſel aus das deutſche Oberland mit einem Netze chriſt-
licher Miſſionsanſtalten überſpannt wurde und die ſchwäbiſchen Pietiften
in Calw durch geſchmackloſe Tractätchen, aber auch durch Werke der Barm-
herzigkeit die gläubigen Gemüther zu gewinnen ſuchten, erbaute der fromme
F. W. Krummacher die armen, gequälten Arbeiter des Wupperthales durch
liebevolle Seelſorge und durch tiefgemüthliche Kanzelreden, welche der alte
Goethe freilich für „narkotiſche Predigten“ erklärte. Vor den Thoren Ham-
burgs errichtete Hinrich Wichern im Rauhen Hauſe eine Rettungsanſtalt
*) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 15. Nov. 1831.
**) Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 20. April 1836.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/510>, abgerufen am 23.07.2024.
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