Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 7. Das Junge Deutschland. rischen Forschung zuerst wieder zu saften anfing, und noch immer setzte ermit unerschöpflicher Triebkraft frische Zweige an. Soeben entstanden wieder zwei neue selbständige Wissenschaften, da Schnaase die Kunstge- schichte, Gervinus die deutsche Literaturgeschichte als ein Ganzes, in ihrer nothwendigen Entwicklung, darzustellen unternahm. Inzwischen eroberte sich auch die classische Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm- lung der griechischen Inschriften, die seit 1824 unter Böckh's Leitung her- auskam; noch während der Geldnoth der napoleonischen Kriege hatte König Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter- thums wußte er immer Rath zu schaffen. Nun erst erschien die hellenische Welt den Modernen greifbar, persönlich, unmittelbar lebendig in ihrem alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannichfaltigkeit ihrer Volks- sprachen, die sich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen ließ. Noch anschaulicher gestaltete sich das Bild des antiken Lebens, als Böckh in seinen Metrologischen Untersuchungen den orientalischen Stamm- baum des hellenischen Maß- und Münzwesens entdeckte und also den Zu- sammenhang abendländischer und morgenländischer Cultur, von dem einst Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel- forschung erwies; denn glücklich verband sich in Böckh's Geiste der strenge, nüchterne Zahlensinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das selbst dem dithyrambischen Schwunge Pindar's zu folgen vermochte. Diese kühnen Entdeckerfahrten der "Sach-Philologen" betrachtete der Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Universität IV. 7. Das Junge Deutſchland. riſchen Forſchung zuerſt wieder zu ſaften anfing, und noch immer ſetzte ermit unerſchöpflicher Triebkraft friſche Zweige an. Soeben entſtanden wieder zwei neue ſelbſtändige Wiſſenſchaften, da Schnaaſe die Kunſtge- ſchichte, Gervinus die deutſche Literaturgeſchichte als ein Ganzes, in ihrer nothwendigen Entwicklung, darzuſtellen unternahm. Inzwiſchen eroberte ſich auch die claſſiſche Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm- lung der griechiſchen Inſchriften, die ſeit 1824 unter Böckh’s Leitung her- auskam; noch während der Geldnoth der napoleoniſchen Kriege hatte König Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter- thums wußte er immer Rath zu ſchaffen. Nun erſt erſchien die helleniſche Welt den Modernen greifbar, perſönlich, unmittelbar lebendig in ihrem alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannichfaltigkeit ihrer Volks- ſprachen, die ſich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen ließ. Noch anſchaulicher geſtaltete ſich das Bild des antiken Lebens, als Böckh in ſeinen Metrologiſchen Unterſuchungen den orientaliſchen Stamm- baum des helleniſchen Maß- und Münzweſens entdeckte und alſo den Zu- ſammenhang abendländiſcher und morgenländiſcher Cultur, von dem einſt Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel- forſchung erwies; denn glücklich verband ſich in Böckh’s Geiſte der ſtrenge, nüchterne Zahlenſinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das ſelbſt dem dithyrambiſchen Schwunge Pindar’s zu folgen vermochte. Dieſe kühnen Entdeckerfahrten der „Sach-Philologen“ betrachtete der Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Univerſität <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0492" n="478"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 7. Das Junge Deutſchland.</fw><lb/> riſchen Forſchung zuerſt wieder zu ſaften anfing, und noch immer ſetzte er<lb/> mit unerſchöpflicher Triebkraft friſche Zweige an. 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Seine Schule fühlte<lb/> ſich in ihrem alten Beſitzſtande bedroht, ſie bekämpfte die philologiſchen Hiſto-<lb/> riker mit ungerechter Gehäſſigkeit, während doch beide Richtungen einan-<lb/> der nicht ausſchloſſen, ſondern ergänzten, und verfiel allmählich, ganz<lb/> wider des Meiſters Abſicht, in eine ideenloſe Mikrologie. Der claſſiſche<lb/> Unterricht auf den Gymnaſien begann zu kränkeln; manche Pädagogen<lb/> aus der Leipziger Schule betrachteten die Homeriſchen Gedichte nur noch<lb/> als ein Lehrmittel, an dem ſie die grammatiſchen Regeln der Eliſion, der<lb/> Kraſis, des Jota ſubſcriptum erweiſen konnten. Seit dem Ende der drei-<lb/> ßiger Jahre ließ ſich bereits bemerken, wie die Freude an der claſſiſchen<lb/> Welt unter den Schülern abnahm. Alſo begannen die alten feſten Grund-<lb/> mauern des deutſchen gelehrten Unterrichts ſchon leiſe zu wanken, zu der-<lb/> ſelben Zeit, da die Naturwiſſenſchaften fröhlich aufblühten und die Inter-<lb/> eſſen der erſtarkten Volkswirthſchaft gebieteriſch nach neuen Bildungsſtoffen<lb/> verlangten. —</p><lb/> <p>Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Univerſität<lb/> bezog, mußte er nach Paris gehen, denn in ganz Deutſchland konnte nur<lb/> ein Mathematiker ſeinen hohen Anſprüchen genügen, und dieſer eine,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [478/0492]
IV. 7. Das Junge Deutſchland.
riſchen Forſchung zuerſt wieder zu ſaften anfing, und noch immer ſetzte er
mit unerſchöpflicher Triebkraft friſche Zweige an. Soeben entſtanden
wieder zwei neue ſelbſtändige Wiſſenſchaften, da Schnaaſe die Kunſtge-
ſchichte, Gervinus die deutſche Literaturgeſchichte als ein Ganzes, in ihrer
nothwendigen Entwicklung, darzuſtellen unternahm. Inzwiſchen eroberte
ſich auch die claſſiſche Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm-
lung der griechiſchen Inſchriften, die ſeit 1824 unter Böckh’s Leitung her-
auskam; noch während der Geldnoth der napoleoniſchen Kriege hatte König
Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter-
thums wußte er immer Rath zu ſchaffen. Nun erſt erſchien die helleniſche
Welt den Modernen greifbar, perſönlich, unmittelbar lebendig in ihrem
alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannichfaltigkeit ihrer Volks-
ſprachen, die ſich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen
ließ. Noch anſchaulicher geſtaltete ſich das Bild des antiken Lebens, als
Böckh in ſeinen Metrologiſchen Unterſuchungen den orientaliſchen Stamm-
baum des helleniſchen Maß- und Münzweſens entdeckte und alſo den Zu-
ſammenhang abendländiſcher und morgenländiſcher Cultur, von dem einſt
Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel-
forſchung erwies; denn glücklich verband ſich in Böckh’s Geiſte der ſtrenge,
nüchterne Zahlenſinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das ſelbſt dem
dithyrambiſchen Schwunge Pindar’s zu folgen vermochte.
Dieſe kühnen Entdeckerfahrten der „Sach-Philologen“ betrachtete der
alte Helleniſt Gottfried Hermann mit wachſender Beſorgniß. Ihm war, als
ob ein reißender Strom hereinbräche in die friedliche Welt der Kritik und
Grammatik; manches Stück fruchtbaren Erdreichs wurde wohl angeſchwemmt,
das gab er zu, aber das ganze Land ward unwohnlich! Seine Schule fühlte
ſich in ihrem alten Beſitzſtande bedroht, ſie bekämpfte die philologiſchen Hiſto-
riker mit ungerechter Gehäſſigkeit, während doch beide Richtungen einan-
der nicht ausſchloſſen, ſondern ergänzten, und verfiel allmählich, ganz
wider des Meiſters Abſicht, in eine ideenloſe Mikrologie. Der claſſiſche
Unterricht auf den Gymnaſien begann zu kränkeln; manche Pädagogen
aus der Leipziger Schule betrachteten die Homeriſchen Gedichte nur noch
als ein Lehrmittel, an dem ſie die grammatiſchen Regeln der Eliſion, der
Kraſis, des Jota ſubſcriptum erweiſen konnten. Seit dem Ende der drei-
ßiger Jahre ließ ſich bereits bemerken, wie die Freude an der claſſiſchen
Welt unter den Schülern abnahm. Alſo begannen die alten feſten Grund-
mauern des deutſchen gelehrten Unterrichts ſchon leiſe zu wanken, zu der-
ſelben Zeit, da die Naturwiſſenſchaften fröhlich aufblühten und die Inter-
eſſen der erſtarkten Volkswirthſchaft gebieteriſch nach neuen Bildungsſtoffen
verlangten. —
Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Univerſität
bezog, mußte er nach Paris gehen, denn in ganz Deutſchland konnte nur
ein Mathematiker ſeinen hohen Anſprüchen genügen, und dieſer eine,
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