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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Leo.
Wandelbarkeit der sittlichen Ideale der Menschheit bescheiden erkennt und
darum, statt dem ewigen Richter vorzugreifen, jede Zeit nur nach ihren
eigenen, endlichen Zwecken beurtheilt. Aristokrat in Leben und Neigung,
reizte er arglos den Groll der Mittelstände wider die bestehende Ordnung.
Ein Verächter des akademischen Zunftgeistes förderte er ebenso arglos die
Selbstüberhebung der Gelehrten; denn aus der schlammigen See fürstlicher
Nichtswürdigkeit, die er seinen Lesern schilderte, ragten als einsame Felsen
nur einige große Schriftsteller hervor. Hier allein fand er "Wahrheit,
Einfalt, stilles Leben, Selbstbeherrschung, den bescheidenen Wandel und die
Tugend, ohne welche die Freiheit ein Traum, das Recht ein Schatten
bleibt." Hier allein glaubte er reine Luft zu athmen und fühlte nicht,
daß dies beschauliche stille Leben auch seinen Hochmuth, auch seine Sün-
den und Versuchungen hat, die nur minder grell in die Augen fallen als
die Sünden der Handelnden. Verzeihlich also, daß der junge Gervinus
und andere seiner Schüler sich den Staatsmännern auch im Handeln un-
endlich überlegen däuchten, und die Professoren in Deutschland bald eine
ähnliche Rolle spielten wie in Frankreich die Rechtsanwälte; denn nicht
Jeder vermochte wie Schlosser selbst, zugleich die Politiker zu meistern und
sich vom öffentlichen Leben bescheiden zurückzuhalten. Sein starkes sitt-
liches Pathos, das man doch nicht vornehm übersehen konnte, bewahrte
die deutsche Geschichtschreibung vor blutlosem Kaltsinn; aber seine Werke
veralteten schnell, sobald die erregte Stimmung der Zeit sich besänftigte.

Seit die Geschichtschreibung wieder politisch geworden war konnte es ihr
auch an erklärten Parteimännern nicht fehlen. Heinrich Leo hatte sich, nach-
dem der wilde Radicalismus seiner Burschentage verbraust war, eine Zeit
lang der Hegel'schen Philosophie ergeben und war dann wieder zurückge-
gekehrt zu der romantischen Weltanschauung, die seiner Natur entsprach.*)
Er entfaltete in Halle eine überaus fruchtbare Thätigkeit als Lehrer wie
als Schriftsteller -- ein Feuergeist von übersprudelnder Kraft, ehrlich und
liebenswerth selbst in seiner unersättlichen Kampflust, aber maßlos in Allem,
so beherrscht von der Leidenschaft, daß ihm trotz seiner reichen Gelehr-
samkeit ganze Epochen der Geschichte unverständlich bleiben mußten. Ledig-
lich die Welt des Mittelalters und namentlich ihr farbenreiches Städte-
leben war ihm ganz vertraut; das zeigte selbst sein bestes Werk, die
italienische Geschichte, noch deutlicher nachher die niederländische und die
Universalgeschichte. Die Formenreinheit der Antike schien ihm seelenlos,
und in den neueren Jahrhunderten sah er nur "einen fortwährenden
Verfall", nur die prosaische Herrschaft der materiellen Interessen -- als ob
diese Interessen nicht auch das Städtewesen des Mittelalters bestimmt
hätten. Tiefsinnig schilderte er die stürmische Ehe Deutschlands und Ita-
liens in den staufischen Zeiten: "der Mann voll Kraft, Muth und Präten-

*) S. o. II. 441.

Leo.
Wandelbarkeit der ſittlichen Ideale der Menſchheit beſcheiden erkennt und
darum, ſtatt dem ewigen Richter vorzugreifen, jede Zeit nur nach ihren
eigenen, endlichen Zwecken beurtheilt. Ariſtokrat in Leben und Neigung,
reizte er arglos den Groll der Mittelſtände wider die beſtehende Ordnung.
Ein Verächter des akademiſchen Zunftgeiſtes förderte er ebenſo arglos die
Selbſtüberhebung der Gelehrten; denn aus der ſchlammigen See fürſtlicher
Nichtswürdigkeit, die er ſeinen Leſern ſchilderte, ragten als einſame Felſen
nur einige große Schriftſteller hervor. Hier allein fand er „Wahrheit,
Einfalt, ſtilles Leben, Selbſtbeherrſchung, den beſcheidenen Wandel und die
Tugend, ohne welche die Freiheit ein Traum, das Recht ein Schatten
bleibt.“ Hier allein glaubte er reine Luft zu athmen und fühlte nicht,
daß dies beſchauliche ſtille Leben auch ſeinen Hochmuth, auch ſeine Sün-
den und Verſuchungen hat, die nur minder grell in die Augen fallen als
die Sünden der Handelnden. Verzeihlich alſo, daß der junge Gervinus
und andere ſeiner Schüler ſich den Staatsmännern auch im Handeln un-
endlich überlegen däuchten, und die Profeſſoren in Deutſchland bald eine
ähnliche Rolle ſpielten wie in Frankreich die Rechtsanwälte; denn nicht
Jeder vermochte wie Schloſſer ſelbſt, zugleich die Politiker zu meiſtern und
ſich vom öffentlichen Leben beſcheiden zurückzuhalten. Sein ſtarkes ſitt-
liches Pathos, das man doch nicht vornehm überſehen konnte, bewahrte
die deutſche Geſchichtſchreibung vor blutloſem Kaltſinn; aber ſeine Werke
veralteten ſchnell, ſobald die erregte Stimmung der Zeit ſich beſänftigte.

Seit die Geſchichtſchreibung wieder politiſch geworden war konnte es ihr
auch an erklärten Parteimännern nicht fehlen. Heinrich Leo hatte ſich, nach-
dem der wilde Radicalismus ſeiner Burſchentage verbrauſt war, eine Zeit
lang der Hegel’ſchen Philoſophie ergeben und war dann wieder zurückge-
gekehrt zu der romantiſchen Weltanſchauung, die ſeiner Natur entſprach.*)
Er entfaltete in Halle eine überaus fruchtbare Thätigkeit als Lehrer wie
als Schriftſteller — ein Feuergeiſt von überſprudelnder Kraft, ehrlich und
liebenswerth ſelbſt in ſeiner unerſättlichen Kampfluſt, aber maßlos in Allem,
ſo beherrſcht von der Leidenſchaft, daß ihm trotz ſeiner reichen Gelehr-
ſamkeit ganze Epochen der Geſchichte unverſtändlich bleiben mußten. Ledig-
lich die Welt des Mittelalters und namentlich ihr farbenreiches Städte-
leben war ihm ganz vertraut; das zeigte ſelbſt ſein beſtes Werk, die
italieniſche Geſchichte, noch deutlicher nachher die niederländiſche und die
Univerſalgeſchichte. Die Formenreinheit der Antike ſchien ihm ſeelenlos,
und in den neueren Jahrhunderten ſah er nur „einen fortwährenden
Verfall“, nur die proſaiſche Herrſchaft der materiellen Intereſſen — als ob
dieſe Intereſſen nicht auch das Städteweſen des Mittelalters beſtimmt
hätten. Tiefſinnig ſchilderte er die ſtürmiſche Ehe Deutſchlands und Ita-
liens in den ſtaufiſchen Zeiten: „der Mann voll Kraft, Muth und Präten-

*) S. o. II. 441.
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[473/0487] Leo. Wandelbarkeit der ſittlichen Ideale der Menſchheit beſcheiden erkennt und darum, ſtatt dem ewigen Richter vorzugreifen, jede Zeit nur nach ihren eigenen, endlichen Zwecken beurtheilt. Ariſtokrat in Leben und Neigung, reizte er arglos den Groll der Mittelſtände wider die beſtehende Ordnung. Ein Verächter des akademiſchen Zunftgeiſtes förderte er ebenſo arglos die Selbſtüberhebung der Gelehrten; denn aus der ſchlammigen See fürſtlicher Nichtswürdigkeit, die er ſeinen Leſern ſchilderte, ragten als einſame Felſen nur einige große Schriftſteller hervor. Hier allein fand er „Wahrheit, Einfalt, ſtilles Leben, Selbſtbeherrſchung, den beſcheidenen Wandel und die Tugend, ohne welche die Freiheit ein Traum, das Recht ein Schatten bleibt.“ Hier allein glaubte er reine Luft zu athmen und fühlte nicht, daß dies beſchauliche ſtille Leben auch ſeinen Hochmuth, auch ſeine Sün- den und Verſuchungen hat, die nur minder grell in die Augen fallen als die Sünden der Handelnden. Verzeihlich alſo, daß der junge Gervinus und andere ſeiner Schüler ſich den Staatsmännern auch im Handeln un- endlich überlegen däuchten, und die Profeſſoren in Deutſchland bald eine ähnliche Rolle ſpielten wie in Frankreich die Rechtsanwälte; denn nicht Jeder vermochte wie Schloſſer ſelbſt, zugleich die Politiker zu meiſtern und ſich vom öffentlichen Leben beſcheiden zurückzuhalten. Sein ſtarkes ſitt- liches Pathos, das man doch nicht vornehm überſehen konnte, bewahrte die deutſche Geſchichtſchreibung vor blutloſem Kaltſinn; aber ſeine Werke veralteten ſchnell, ſobald die erregte Stimmung der Zeit ſich beſänftigte. Seit die Geſchichtſchreibung wieder politiſch geworden war konnte es ihr auch an erklärten Parteimännern nicht fehlen. Heinrich Leo hatte ſich, nach- dem der wilde Radicalismus ſeiner Burſchentage verbrauſt war, eine Zeit lang der Hegel’ſchen Philoſophie ergeben und war dann wieder zurückge- gekehrt zu der romantiſchen Weltanſchauung, die ſeiner Natur entſprach. *) Er entfaltete in Halle eine überaus fruchtbare Thätigkeit als Lehrer wie als Schriftſteller — ein Feuergeiſt von überſprudelnder Kraft, ehrlich und liebenswerth ſelbſt in ſeiner unerſättlichen Kampfluſt, aber maßlos in Allem, ſo beherrſcht von der Leidenſchaft, daß ihm trotz ſeiner reichen Gelehr- ſamkeit ganze Epochen der Geſchichte unverſtändlich bleiben mußten. Ledig- lich die Welt des Mittelalters und namentlich ihr farbenreiches Städte- leben war ihm ganz vertraut; das zeigte ſelbſt ſein beſtes Werk, die italieniſche Geſchichte, noch deutlicher nachher die niederländiſche und die Univerſalgeſchichte. Die Formenreinheit der Antike ſchien ihm ſeelenlos, und in den neueren Jahrhunderten ſah er nur „einen fortwährenden Verfall“, nur die proſaiſche Herrſchaft der materiellen Intereſſen — als ob dieſe Intereſſen nicht auch das Städteweſen des Mittelalters beſtimmt hätten. Tiefſinnig ſchilderte er die ſtürmiſche Ehe Deutſchlands und Ita- liens in den ſtaufiſchen Zeiten: „der Mann voll Kraft, Muth und Präten- *) S. o. II. 441.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/487>, abgerufen am 28.11.2024.