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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.

Auch die ungeschlachte Plumpheit seiner Darstellung ward ihm nicht
angerechnet; man bewunderte vielmehr seinen gesinnungstüchtigen Muth,
wenn er alle Eleganz und Milde "absichtlich zu verschmähen" erklärte,
und bemerkte nicht, wie nahe sich diese rohe Formlosigkeit mit der fri-
volen Formenspielerei Heinrich Heine's berührte. Schlosser wie Heine
hielt den Stil für einen Mantel, den man dem Inhalt nach Belieben
umhängen oder auch abnehmen könne. Sie wußten nicht, was Goethe
doch längst gezeigt hatte, daß der still ausgereifte Gedanke den richtigen
Ausdruck so nothwendig hervorbringt, wie die Blüthe die Frucht, und die
schöne Prosa aus der vollkommenen Beherrschung des Stoffes sich ganz
von selbst ergiebt. Schlosser ward formlos, weil er den entsagenden Fleiß
Ranke's verachtete und über Halbverstandenes mit moralischen Kraftworten
hastig hinwegstürmte. Die härtesten seiner vielen ungerechten Urtheile ent-
sprangen der Unwissenheit. Wenn er kurzab meinte, das Aushebungs-
system Friedrich Wilhelm's I. hätte leicht besser und gerechter eingerichtet
werden können, so wußte er nicht was er sagte; er ahnte nicht, welchen un-
überwindlichen Widerstand die rohen Massen des Volkes schon der be-
schränkten Cantonspflicht entgegengesetzt hatten. Mehr Sachkenntniß und
darum auch mehr Billigkeit zeigten die literarischen Abschnitte, die besten
und beliebtesten des Werkes. Freilich gelang ihm bei diesem ersten Ver-
suche noch nicht, den inneren Zusammenhang, die beständige Wechselwir-
kung des literarischen Lebens und der politischen Machtkämpfe nachzu-
weisen. Beides stand bei ihm noch unvermittelt nebeneinander; und zu-
dem lagen die entscheidenden Jahre seiner eigenen Bildung noch hinter
der Blüthezeit unserer Dichtung zurück; darum stellte er Lessing "den
Anfänger und Vollender deutscher Bildung" hoch über Schiller und
Goethe, und die Schriften der englisch-französischen Aufklärung waren ihm
offenbar vertrauter als spätere, größere Werke.

Und wunderbar, dies ganz altväterische Buch schwamm doch mitten im
Strome des modernen Lebens. Gerade weil Schlosser der liberalen Partei
immer fern stand, hielten die Zeitgenossen seine grausame, oft empörend un-
billige Strenge für die Gerechtigkeit eines unbestechlichen Richters; er erschien
ihnen wie ein Bußprediger des Mittelalters, seine dröhnende Stimme klang
wie die Todtenglocke, die das Nahen der von so Vielen ersehnten Revolution
ankündigte, und wenngleich er zuweilen auch gegen "diese schlaffe, unfreie
Generation" in Bausch und Bogen eiferte, so blieb den Lesern doch der
willkommene Eindruck, als ob alles Uebel nur von den Höhen der Ge-
sellschaft herabfließe. Obwohl er den Unterschied öffentlicher und häus-
licher Sittlichkeit zu kennen behauptete, stellte er doch alle Helden der Ge-
schichte erbarmungslos unter den Maßstab seiner Kantischen Privatmoral;
die Freiheit des Genius blieb ihm so unfaßbar wie das Recht der retten-
den That, nur der unlauteren Größe Napoleon's gestand er zu, was er
einem Friedrich nicht einräumte. Ihm fehlte der historische Sinn, der die

IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Auch die ungeſchlachte Plumpheit ſeiner Darſtellung ward ihm nicht
angerechnet; man bewunderte vielmehr ſeinen geſinnungstüchtigen Muth,
wenn er alle Eleganz und Milde „abſichtlich zu verſchmähen“ erklärte,
und bemerkte nicht, wie nahe ſich dieſe rohe Formloſigkeit mit der fri-
volen Formenſpielerei Heinrich Heine’s berührte. Schloſſer wie Heine
hielt den Stil für einen Mantel, den man dem Inhalt nach Belieben
umhängen oder auch abnehmen könne. Sie wußten nicht, was Goethe
doch längſt gezeigt hatte, daß der ſtill ausgereifte Gedanke den richtigen
Ausdruck ſo nothwendig hervorbringt, wie die Blüthe die Frucht, und die
ſchöne Proſa aus der vollkommenen Beherrſchung des Stoffes ſich ganz
von ſelbſt ergiebt. Schloſſer ward formlos, weil er den entſagenden Fleiß
Ranke’s verachtete und über Halbverſtandenes mit moraliſchen Kraftworten
haſtig hinwegſtürmte. Die härteſten ſeiner vielen ungerechten Urtheile ent-
ſprangen der Unwiſſenheit. Wenn er kurzab meinte, das Aushebungs-
ſyſtem Friedrich Wilhelm’s I. hätte leicht beſſer und gerechter eingerichtet
werden können, ſo wußte er nicht was er ſagte; er ahnte nicht, welchen un-
überwindlichen Widerſtand die rohen Maſſen des Volkes ſchon der be-
ſchränkten Cantonspflicht entgegengeſetzt hatten. Mehr Sachkenntniß und
darum auch mehr Billigkeit zeigten die literariſchen Abſchnitte, die beſten
und beliebteſten des Werkes. Freilich gelang ihm bei dieſem erſten Ver-
ſuche noch nicht, den inneren Zuſammenhang, die beſtändige Wechſelwir-
kung des literariſchen Lebens und der politiſchen Machtkämpfe nachzu-
weiſen. Beides ſtand bei ihm noch unvermittelt nebeneinander; und zu-
dem lagen die entſcheidenden Jahre ſeiner eigenen Bildung noch hinter
der Blüthezeit unſerer Dichtung zurück; darum ſtellte er Leſſing „den
Anfänger und Vollender deutſcher Bildung“ hoch über Schiller und
Goethe, und die Schriften der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung waren ihm
offenbar vertrauter als ſpätere, größere Werke.

Und wunderbar, dies ganz altväteriſche Buch ſchwamm doch mitten im
Strome des modernen Lebens. Gerade weil Schloſſer der liberalen Partei
immer fern ſtand, hielten die Zeitgenoſſen ſeine grauſame, oft empörend un-
billige Strenge für die Gerechtigkeit eines unbeſtechlichen Richters; er erſchien
ihnen wie ein Bußprediger des Mittelalters, ſeine dröhnende Stimme klang
wie die Todtenglocke, die das Nahen der von ſo Vielen erſehnten Revolution
ankündigte, und wenngleich er zuweilen auch gegen „dieſe ſchlaffe, unfreie
Generation“ in Bauſch und Bogen eiferte, ſo blieb den Leſern doch der
willkommene Eindruck, als ob alles Uebel nur von den Höhen der Ge-
ſellſchaft herabfließe. Obwohl er den Unterſchied öffentlicher und häus-
licher Sittlichkeit zu kennen behauptete, ſtellte er doch alle Helden der Ge-
ſchichte erbarmungslos unter den Maßſtab ſeiner Kantiſchen Privatmoral;
die Freiheit des Genius blieb ihm ſo unfaßbar wie das Recht der retten-
den That, nur der unlauteren Größe Napoleon’s geſtand er zu, was er
einem Friedrich nicht einräumte. Ihm fehlte der hiſtoriſche Sinn, der die

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[472/0486] IV. 7. Das Junge Deutſchland. Auch die ungeſchlachte Plumpheit ſeiner Darſtellung ward ihm nicht angerechnet; man bewunderte vielmehr ſeinen geſinnungstüchtigen Muth, wenn er alle Eleganz und Milde „abſichtlich zu verſchmähen“ erklärte, und bemerkte nicht, wie nahe ſich dieſe rohe Formloſigkeit mit der fri- volen Formenſpielerei Heinrich Heine’s berührte. Schloſſer wie Heine hielt den Stil für einen Mantel, den man dem Inhalt nach Belieben umhängen oder auch abnehmen könne. Sie wußten nicht, was Goethe doch längſt gezeigt hatte, daß der ſtill ausgereifte Gedanke den richtigen Ausdruck ſo nothwendig hervorbringt, wie die Blüthe die Frucht, und die ſchöne Proſa aus der vollkommenen Beherrſchung des Stoffes ſich ganz von ſelbſt ergiebt. Schloſſer ward formlos, weil er den entſagenden Fleiß Ranke’s verachtete und über Halbverſtandenes mit moraliſchen Kraftworten haſtig hinwegſtürmte. Die härteſten ſeiner vielen ungerechten Urtheile ent- ſprangen der Unwiſſenheit. Wenn er kurzab meinte, das Aushebungs- ſyſtem Friedrich Wilhelm’s I. hätte leicht beſſer und gerechter eingerichtet werden können, ſo wußte er nicht was er ſagte; er ahnte nicht, welchen un- überwindlichen Widerſtand die rohen Maſſen des Volkes ſchon der be- ſchränkten Cantonspflicht entgegengeſetzt hatten. Mehr Sachkenntniß und darum auch mehr Billigkeit zeigten die literariſchen Abſchnitte, die beſten und beliebteſten des Werkes. Freilich gelang ihm bei dieſem erſten Ver- ſuche noch nicht, den inneren Zuſammenhang, die beſtändige Wechſelwir- kung des literariſchen Lebens und der politiſchen Machtkämpfe nachzu- weiſen. Beides ſtand bei ihm noch unvermittelt nebeneinander; und zu- dem lagen die entſcheidenden Jahre ſeiner eigenen Bildung noch hinter der Blüthezeit unſerer Dichtung zurück; darum ſtellte er Leſſing „den Anfänger und Vollender deutſcher Bildung“ hoch über Schiller und Goethe, und die Schriften der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung waren ihm offenbar vertrauter als ſpätere, größere Werke. Und wunderbar, dies ganz altväteriſche Buch ſchwamm doch mitten im Strome des modernen Lebens. Gerade weil Schloſſer der liberalen Partei immer fern ſtand, hielten die Zeitgenoſſen ſeine grauſame, oft empörend un- billige Strenge für die Gerechtigkeit eines unbeſtechlichen Richters; er erſchien ihnen wie ein Bußprediger des Mittelalters, ſeine dröhnende Stimme klang wie die Todtenglocke, die das Nahen der von ſo Vielen erſehnten Revolution ankündigte, und wenngleich er zuweilen auch gegen „dieſe ſchlaffe, unfreie Generation“ in Bauſch und Bogen eiferte, ſo blieb den Leſern doch der willkommene Eindruck, als ob alles Uebel nur von den Höhen der Ge- ſellſchaft herabfließe. Obwohl er den Unterſchied öffentlicher und häus- licher Sittlichkeit zu kennen behauptete, ſtellte er doch alle Helden der Ge- ſchichte erbarmungslos unter den Maßſtab ſeiner Kantiſchen Privatmoral; die Freiheit des Genius blieb ihm ſo unfaßbar wie das Recht der retten- den That, nur der unlauteren Größe Napoleon’s geſtand er zu, was er einem Friedrich nicht einräumte. Ihm fehlte der hiſtoriſche Sinn, der die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/486>, abgerufen am 24.11.2024.