er vom Tode ereilt (1840), einer der wenigen Künstler, von denen sich menschlicherweise mit Sicherheit sagen läßt, daß sie zu früh starben.
Noch stärker als Immermann fühlte sich Tieck durch das Junge Deutschland abgestoßen. Einige der jungen Leute hofften Anfangs, der alte Herr würde sich ihnen anschließen, weil sie für die Lucinde schwärmten. Er aber sah in ihrem Treiben nur eine schwächliche Nachahmung der Stark- geisterei seiner Jugendjahre und tadelte insbesondere ihre doktrinäre Hal- tung; denn "nichts ist mir mein Lebenlang verhaßter gewesen als der ab- sprechende Ton des Systems, der mit Allem fertig ist". Darum ward er von den Jungdeutschen bald als Finsterling verrufen und sehr roh an- gegriffen. Er rächte sich, indem er in mehreren seiner Novellen -- in Eigensinn und Laune, im Liebeswerben u. a. -- die deutschen Radicalen wie ein Gesindel von Gaunern und Lumpen darstellte. Ein reinerer Stil ließ sich in diesen späteren Novellen nicht verkennen. Der Greis spielte nicht mehr ironisch mit seinen Gestalten; seine Ironie war jetzt nur noch, wie er es so oft verlangt aber selten befolgt hatte, "die Kraft, die den Dichter über dem Stoffe erhält". Dafür zog freilich durch manche Werke seines Alters ein kühler Hauch, der die Leser nicht recht froh werden ließ.
Sonst ragte als erzählender Dichter nur noch einer über die Un- zahl der Unterhaltungsschriftsteller empor: Charles Sealsfield, ursprünglich Postel geheißen, ein mährischer Mönch, der aus dem Kloster entflohen nachher lange in Amerika umherzog und sich auch das seltsame Kauder- wälsch der Deutsch-Amerikaner aneignete. Seine Romane: "die Legiti- misten" und "der Virey" führten unsere Poesie zum ersten male in den fernen Westen, in jene Cultur- und Rassenkämpfe Amerikas, an denen schon so viele Deutsche theilnahmen. Durch die brennende Pracht seiner tropischen Landschaftsbilder und die Energie der Charakterzeichnung über- traf er Cooper bei Weitem, doch in allen seinen Schriften arbeitete eine fieberische Unruhe, die der Masse der Leser unbequemer war als die Breite des Amerikaners. An solchen ungeschulten starken Talenten läßt sich der Geist einer Epoche am sichersten erkennen; Sealsfield's Schriften bewiesen, wie unaufhaltsam die Zeit dem Realismus zudrängte.
Dies bewährte sich auch an den Zuständen des Theaters. In hellen Haufen drangen die Lustspiele Scribe's und der anderen Pariser Boule- vards-Dichter über den Rhein. Das deutsche Publikum war noch von der Weimarischen Bühne her an ein ästhetisches Weltbürgerthum gewöhnt und zudem jetzt für Frankreichs Freiheit begeistert. So ließ man sich denn die stümperhaften Uebersetzungen wohl gefallen; man lachte über feine Anspie- lungen, die nur an der Seine ganz verstanden werden konnten; man nahm es hin, daß manche einem Pariser Schauspieler auf den Leib geschriebene Rolle dem deutschen Nachahmer häßlich anstand -- und das Alles nur, weil diese leichten Stücke doch ein Bild des wirklichen Lebens gaben. Von Alters her lag die Stärke der deutschen dramatischen Kunst in der Kraft
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Tieck. Sealsfield.
er vom Tode ereilt (1840), einer der wenigen Künſtler, von denen ſich menſchlicherweiſe mit Sicherheit ſagen läßt, daß ſie zu früh ſtarben.
Noch ſtärker als Immermann fühlte ſich Tieck durch das Junge Deutſchland abgeſtoßen. Einige der jungen Leute hofften Anfangs, der alte Herr würde ſich ihnen anſchließen, weil ſie für die Lucinde ſchwärmten. Er aber ſah in ihrem Treiben nur eine ſchwächliche Nachahmung der Stark- geiſterei ſeiner Jugendjahre und tadelte insbeſondere ihre doktrinäre Hal- tung; denn „nichts iſt mir mein Lebenlang verhaßter geweſen als der ab- ſprechende Ton des Syſtems, der mit Allem fertig iſt“. Darum ward er von den Jungdeutſchen bald als Finſterling verrufen und ſehr roh an- gegriffen. Er rächte ſich, indem er in mehreren ſeiner Novellen — in Eigenſinn und Laune, im Liebeswerben u. a. — die deutſchen Radicalen wie ein Geſindel von Gaunern und Lumpen darſtellte. Ein reinerer Stil ließ ſich in dieſen ſpäteren Novellen nicht verkennen. Der Greis ſpielte nicht mehr ironiſch mit ſeinen Geſtalten; ſeine Ironie war jetzt nur noch, wie er es ſo oft verlangt aber ſelten befolgt hatte, „die Kraft, die den Dichter über dem Stoffe erhält“. Dafür zog freilich durch manche Werke ſeines Alters ein kühler Hauch, der die Leſer nicht recht froh werden ließ.
Sonſt ragte als erzählender Dichter nur noch einer über die Un- zahl der Unterhaltungsſchriftſteller empor: Charles Sealsfield, urſprünglich Poſtel geheißen, ein mähriſcher Mönch, der aus dem Kloſter entflohen nachher lange in Amerika umherzog und ſich auch das ſeltſame Kauder- wälſch der Deutſch-Amerikaner aneignete. Seine Romane: „die Legiti- miſten“ und „der Virey“ führten unſere Poeſie zum erſten male in den fernen Weſten, in jene Cultur- und Raſſenkämpfe Amerikas, an denen ſchon ſo viele Deutſche theilnahmen. Durch die brennende Pracht ſeiner tropiſchen Landſchaftsbilder und die Energie der Charakterzeichnung über- traf er Cooper bei Weitem, doch in allen ſeinen Schriften arbeitete eine fieberiſche Unruhe, die der Maſſe der Leſer unbequemer war als die Breite des Amerikaners. An ſolchen ungeſchulten ſtarken Talenten läßt ſich der Geiſt einer Epoche am ſicherſten erkennen; Sealsfield’s Schriften bewieſen, wie unaufhaltſam die Zeit dem Realismus zudrängte.
Dies bewährte ſich auch an den Zuſtänden des Theaters. In hellen Haufen drangen die Luſtſpiele Scribe’s und der anderen Pariſer Boule- vards-Dichter über den Rhein. Das deutſche Publikum war noch von der Weimariſchen Bühne her an ein äſthetiſches Weltbürgerthum gewöhnt und zudem jetzt für Frankreichs Freiheit begeiſtert. So ließ man ſich denn die ſtümperhaften Ueberſetzungen wohl gefallen; man lachte über feine Anſpie- lungen, die nur an der Seine ganz verſtanden werden konnten; man nahm es hin, daß manche einem Pariſer Schauſpieler auf den Leib geſchriebene Rolle dem deutſchen Nachahmer häßlich anſtand — und das Alles nur, weil dieſe leichten Stücke doch ein Bild des wirklichen Lebens gaben. Von Alters her lag die Stärke der deutſchen dramatiſchen Kunſt in der Kraft
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Tieck. Sealsfield.
er vom Tode ereilt (1840), einer der wenigen Künſtler, von denen ſich
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Noch ſtärker als Immermann fühlte ſich Tieck durch das Junge
Deutſchland abgeſtoßen. Einige der jungen Leute hofften Anfangs, der
alte Herr würde ſich ihnen anſchließen, weil ſie für die Lucinde ſchwärmten.
Er aber ſah in ihrem Treiben nur eine ſchwächliche Nachahmung der Stark-
geiſterei ſeiner Jugendjahre und tadelte insbeſondere ihre doktrinäre Hal-
tung; denn „nichts iſt mir mein Lebenlang verhaßter geweſen als der ab-
ſprechende Ton des Syſtems, der mit Allem fertig iſt“. Darum ward er
von den Jungdeutſchen bald als Finſterling verrufen und ſehr roh an-
gegriffen. Er rächte ſich, indem er in mehreren ſeiner Novellen — in
Eigenſinn und Laune, im Liebeswerben u. a. — die deutſchen Radicalen
wie ein Geſindel von Gaunern und Lumpen darſtellte. Ein reinerer Stil
ließ ſich in dieſen ſpäteren Novellen nicht verkennen. Der Greis ſpielte
nicht mehr ironiſch mit ſeinen Geſtalten; ſeine Ironie war jetzt nur noch,
wie er es ſo oft verlangt aber ſelten befolgt hatte, „die Kraft, die den
Dichter über dem Stoffe erhält“. Dafür zog freilich durch manche Werke
ſeines Alters ein kühler Hauch, der die Leſer nicht recht froh werden ließ.
Sonſt ragte als erzählender Dichter nur noch einer über die Un-
zahl der Unterhaltungsſchriftſteller empor: Charles Sealsfield, urſprünglich
Poſtel geheißen, ein mähriſcher Mönch, der aus dem Kloſter entflohen
nachher lange in Amerika umherzog und ſich auch das ſeltſame Kauder-
wälſch der Deutſch-Amerikaner aneignete. Seine Romane: „die Legiti-
miſten“ und „der Virey“ führten unſere Poeſie zum erſten male in den
fernen Weſten, in jene Cultur- und Raſſenkämpfe Amerikas, an denen
ſchon ſo viele Deutſche theilnahmen. Durch die brennende Pracht ſeiner
tropiſchen Landſchaftsbilder und die Energie der Charakterzeichnung über-
traf er Cooper bei Weitem, doch in allen ſeinen Schriften arbeitete eine
fieberiſche Unruhe, die der Maſſe der Leſer unbequemer war als die Breite
des Amerikaners. An ſolchen ungeſchulten ſtarken Talenten läßt ſich der
Geiſt einer Epoche am ſicherſten erkennen; Sealsfield’s Schriften bewieſen,
wie unaufhaltſam die Zeit dem Realismus zudrängte.
Dies bewährte ſich auch an den Zuſtänden des Theaters. In hellen
Haufen drangen die Luſtſpiele Scribe’s und der anderen Pariſer Boule-
vards-Dichter über den Rhein. Das deutſche Publikum war noch von der
Weimariſchen Bühne her an ein äſthetiſches Weltbürgerthum gewöhnt und
zudem jetzt für Frankreichs Freiheit begeiſtert. So ließ man ſich denn die
ſtümperhaften Ueberſetzungen wohl gefallen; man lachte über feine Anſpie-
lungen, die nur an der Seine ganz verſtanden werden konnten; man nahm
es hin, daß manche einem Pariſer Schauſpieler auf den Leib geſchriebene
Rolle dem deutſchen Nachahmer häßlich anſtand — und das Alles nur,
weil dieſe leichten Stücke doch ein Bild des wirklichen Lebens gaben. Von
Alters her lag die Stärke der deutſchen dramatiſchen Kunſt in der Kraft
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/465>, abgerufen am 24.11.2024.
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