dort im Westen ragten überall schon die neuen Fabrikschlote aus den Dächern der Schlösser und der Klöster empor. Ebenso scharf, allerdings nicht ohne Bosheit, werden die Narrenstreiche der jugendlichen Demagogen und die literarische Ueberbildung der Berliner Gesellschaft gezeichnet. Aus Alledem ergab sich ein wenig erfreulicher Gesammteindruck: diesem Geschlechte von Epigonen war nach einer gewaltigen socialen und literarischen Revolution, nach der Zerstörung aller überlieferten Begriffe und Gesellschaftsformen zunächst nichts übrig geblieben als die schrankenlose Freiheit des Einzel- menschen, die doch nichts Neues geschaffen hatte; auf die Barbarei der Unwissenheit war eine neue ärgere Barbarei gefolgt, ein Zustand geistiger Anarchie, wo Alle Alles zu wissen glaubten. In solchen düsteren Bildern spiegelten sich weitverbreitete Stimmungen dieser durchaus friedlosen Jahre deutlich wieder. Nur an einzelnen Stellen ließ sich errathen, daß die Gesinnung des Dichters nicht ganz so hoffnungslos war wie der Titel seines Romans; er fühlte doch, daß auch schöpferische Kräfte in der Zeit arbeiteten, und deutete zuweilen an, die Majestät des Staatsgedankens könne vielleicht noch in dieser Trümmerwelt einen neuen Idealismus er- wecken.
Zur freien Beherrschung des Stoffs gelangte Immermann erst in dem Romane Münchhausen. Hier rief er das gesammte geistige Leben Deutsch- lands vor seinen Richterstuhl und ließ den lustigen Großmeister der Lüge seine Pritsche schwingen über allen Ungerechten, unterweilen auch, nach Dichterbrauch, über einigen Gerechten. Die Berliner Mutter Gans auf dem Capitole des plattirten Liberalismus, der reine Begriff der Hegelianer, Raupach's dramatische Zopfgeflechte, Gutzkow's welke Wally, Semilasso's blasirte Weisheit, Bettina's Koboldstreiche, Görres' jacobinische Kapuziner- predigten, Justinus Kerner's Poltergeister -- der ganze literarische Wirr- warr der Zeit rauschte in einem tollen Maskenzuge vor dem Leser vorüber. Leider fehlte dem Dichter die anmuthige Leichtigkeit des Scherzes; unter seinen derben Händen ward das Komische nicht selten fratzenhaft, der Spaß zu breit, der Spott grausam. Um so lichter hob sich von dem satirischen Hintergrunde die Idylle des Oberhofes ab, ein treues, herzerwärmendes Bild des ehrenfesten, bei aller Selbstsucht kerngesunden westphälischen Bauernlebens. Immermann sah, daß die Empfindung in diesen niederen Schichten des Volkes doch immer gebunden bleibt und einen Zug unästhe- tischer Dumpfheit behält. Darum wies er mit sicherem Kunstgefühle seiner Dorfgeschichte die Stelle an, die ihr in der modernen Romandichtung allein zukommt, die Stelle einer bescheidenen, durch den Reiz des Contrastes wirksamen Episode. Er wollte sich auch sein Hochdeutsch durch die wohl- feilen Effecte des Dialekts nicht verderben, sondern ließ nur zuweilen in den Reden seiner Bauern die Volkssprache leise anklingen; und eben weil er die grobsinnliche Wirklichkeit verschmähte, erschien die Gestalt seines alten Hofschulzen so gewaltig, so poetisch wahr inmitten der feingebildeten Gesell-
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 29
Die Epigonen. Münchhauſen.
dort im Weſten ragten überall ſchon die neuen Fabrikſchlote aus den Dächern der Schlöſſer und der Klöſter empor. Ebenſo ſcharf, allerdings nicht ohne Bosheit, werden die Narrenſtreiche der jugendlichen Demagogen und die literariſche Ueberbildung der Berliner Geſellſchaft gezeichnet. Aus Alledem ergab ſich ein wenig erfreulicher Geſammteindruck: dieſem Geſchlechte von Epigonen war nach einer gewaltigen ſocialen und literariſchen Revolution, nach der Zerſtörung aller überlieferten Begriffe und Geſellſchaftsformen zunächſt nichts übrig geblieben als die ſchrankenloſe Freiheit des Einzel- menſchen, die doch nichts Neues geſchaffen hatte; auf die Barbarei der Unwiſſenheit war eine neue ärgere Barbarei gefolgt, ein Zuſtand geiſtiger Anarchie, wo Alle Alles zu wiſſen glaubten. In ſolchen düſteren Bildern ſpiegelten ſich weitverbreitete Stimmungen dieſer durchaus friedloſen Jahre deutlich wieder. Nur an einzelnen Stellen ließ ſich errathen, daß die Geſinnung des Dichters nicht ganz ſo hoffnungslos war wie der Titel ſeines Romans; er fühlte doch, daß auch ſchöpferiſche Kräfte in der Zeit arbeiteten, und deutete zuweilen an, die Majeſtät des Staatsgedankens könne vielleicht noch in dieſer Trümmerwelt einen neuen Idealismus er- wecken.
Zur freien Beherrſchung des Stoffs gelangte Immermann erſt in dem Romane Münchhauſen. Hier rief er das geſammte geiſtige Leben Deutſch- lands vor ſeinen Richterſtuhl und ließ den luſtigen Großmeiſter der Lüge ſeine Pritſche ſchwingen über allen Ungerechten, unterweilen auch, nach Dichterbrauch, über einigen Gerechten. Die Berliner Mutter Gans auf dem Capitole des plattirten Liberalismus, der reine Begriff der Hegelianer, Raupach’s dramatiſche Zopfgeflechte, Gutzkow’s welke Wally, Semilaſſo’s blaſirte Weisheit, Bettina’s Koboldſtreiche, Görres’ jacobiniſche Kapuziner- predigten, Juſtinus Kerner’s Poltergeiſter — der ganze literariſche Wirr- warr der Zeit rauſchte in einem tollen Maskenzuge vor dem Leſer vorüber. Leider fehlte dem Dichter die anmuthige Leichtigkeit des Scherzes; unter ſeinen derben Händen ward das Komiſche nicht ſelten fratzenhaft, der Spaß zu breit, der Spott grauſam. Um ſo lichter hob ſich von dem ſatiriſchen Hintergrunde die Idylle des Oberhofes ab, ein treues, herzerwärmendes Bild des ehrenfeſten, bei aller Selbſtſucht kerngeſunden weſtphäliſchen Bauernlebens. Immermann ſah, daß die Empfindung in dieſen niederen Schichten des Volkes doch immer gebunden bleibt und einen Zug unäſthe- tiſcher Dumpfheit behält. Darum wies er mit ſicherem Kunſtgefühle ſeiner Dorfgeſchichte die Stelle an, die ihr in der modernen Romandichtung allein zukommt, die Stelle einer beſcheidenen, durch den Reiz des Contraſtes wirkſamen Epiſode. Er wollte ſich auch ſein Hochdeutſch durch die wohl- feilen Effecte des Dialekts nicht verderben, ſondern ließ nur zuweilen in den Reden ſeiner Bauern die Volksſprache leiſe anklingen; und eben weil er die grobſinnliche Wirklichkeit verſchmähte, erſchien die Geſtalt ſeines alten Hofſchulzen ſo gewaltig, ſo poetiſch wahr inmitten der feingebildeten Geſell-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 29
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Die Epigonen. Münchhauſen.
dort im Weſten ragten überall ſchon die neuen Fabrikſchlote aus den Dächern
der Schlöſſer und der Klöſter empor. Ebenſo ſcharf, allerdings nicht ohne
Bosheit, werden die Narrenſtreiche der jugendlichen Demagogen und die
literariſche Ueberbildung der Berliner Geſellſchaft gezeichnet. Aus Alledem
ergab ſich ein wenig erfreulicher Geſammteindruck: dieſem Geſchlechte von
Epigonen war nach einer gewaltigen ſocialen und literariſchen Revolution,
nach der Zerſtörung aller überlieferten Begriffe und Geſellſchaftsformen
zunächſt nichts übrig geblieben als die ſchrankenloſe Freiheit des Einzel-
menſchen, die doch nichts Neues geſchaffen hatte; auf die Barbarei der
Unwiſſenheit war eine neue ärgere Barbarei gefolgt, ein Zuſtand geiſtiger
Anarchie, wo Alle Alles zu wiſſen glaubten. In ſolchen düſteren Bildern
ſpiegelten ſich weitverbreitete Stimmungen dieſer durchaus friedloſen Jahre
deutlich wieder. Nur an einzelnen Stellen ließ ſich errathen, daß die
Geſinnung des Dichters nicht ganz ſo hoffnungslos war wie der Titel
ſeines Romans; er fühlte doch, daß auch ſchöpferiſche Kräfte in der Zeit
arbeiteten, und deutete zuweilen an, die Majeſtät des Staatsgedankens
könne vielleicht noch in dieſer Trümmerwelt einen neuen Idealismus er-
wecken.
Zur freien Beherrſchung des Stoffs gelangte Immermann erſt in dem
Romane Münchhauſen. Hier rief er das geſammte geiſtige Leben Deutſch-
lands vor ſeinen Richterſtuhl und ließ den luſtigen Großmeiſter der Lüge
ſeine Pritſche ſchwingen über allen Ungerechten, unterweilen auch, nach
Dichterbrauch, über einigen Gerechten. Die Berliner Mutter Gans auf
dem Capitole des plattirten Liberalismus, der reine Begriff der Hegelianer,
Raupach’s dramatiſche Zopfgeflechte, Gutzkow’s welke Wally, Semilaſſo’s
blaſirte Weisheit, Bettina’s Koboldſtreiche, Görres’ jacobiniſche Kapuziner-
predigten, Juſtinus Kerner’s Poltergeiſter — der ganze literariſche Wirr-
warr der Zeit rauſchte in einem tollen Maskenzuge vor dem Leſer vorüber.
Leider fehlte dem Dichter die anmuthige Leichtigkeit des Scherzes; unter
ſeinen derben Händen ward das Komiſche nicht ſelten fratzenhaft, der Spaß
zu breit, der Spott grauſam. Um ſo lichter hob ſich von dem ſatiriſchen
Hintergrunde die Idylle des Oberhofes ab, ein treues, herzerwärmendes
Bild des ehrenfeſten, bei aller Selbſtſucht kerngeſunden weſtphäliſchen
Bauernlebens. Immermann ſah, daß die Empfindung in dieſen niederen
Schichten des Volkes doch immer gebunden bleibt und einen Zug unäſthe-
tiſcher Dumpfheit behält. Darum wies er mit ſicherem Kunſtgefühle ſeiner
Dorfgeſchichte die Stelle an, die ihr in der modernen Romandichtung allein
zukommt, die Stelle einer beſcheidenen, durch den Reiz des Contraſtes
wirkſamen Epiſode. Er wollte ſich auch ſein Hochdeutſch durch die wohl-
feilen Effecte des Dialekts nicht verderben, ſondern ließ nur zuweilen in
den Reden ſeiner Bauern die Volksſprache leiſe anklingen; und eben weil
er die grobſinnliche Wirklichkeit verſchmähte, erſchien die Geſtalt ſeines alten
Hofſchulzen ſo gewaltig, ſo poetiſch wahr inmitten der feingebildeten Geſell-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 29
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/463>, abgerufen am 23.07.2024.
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