verfehlten, künstlichen Staatsbildung. Ihrer stolzen Geschichte froh, konnten die Holländer in dem belgischen Lande, das seit den Tagen Philipp's II. immer fremden Herrschern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergestellten nationalen Staates sehen, wie es die europäischen Ver- träge auch ausdrücklich aussprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauses Oranien und seiner englischen Gönner war aber der Zuwachs stärker ge- worden als das Hauptland selber: drei und eine Viertel Million Belgier standen zwei Millionen Holländern gegenüber, und sie wußten wohl, daß einst Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiser Karl's V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, seit die sieben Provinzen des Nordens sich aus der Ge- meinschaft des alten Gesammtstaates losrissen, von diesen feindlichen Brü- dern Alles geboten worden: erst maßen sie sich mit den nordischen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol- länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwischen den beiden Hälften Niederlands; endlich besiegt, mußten sie dann ertragen, wie ihnen die Schelde gesperrt, der indische Handel verboten, die Festungen durch hol- ländische Garnisonen besetzt wurden.
Ungleich stärker als diese bitteren politischen Erinnerungen wirkte der Glaubenshaß. Nicht umsonst führten die belgischen Landschaften im Volksmunde den Namen der katholischen Niederlande, nicht umsonst waren ihre Geistlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatischer Clerisei eng verbündet gewesen. Hier auf dem classischen Boden der Reli- gionskriege walteten die kirchlichen Gegensätze stets so mächtig, daß die Stammesunterschiede daneben fast verschwanden. Wie scharf sich auch die schweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterschieden, den holländischen Ketzern gegenüber hielten sie doch zusammen als eine gläubige Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale die Urheber der Umgestaltung; in den Niederlanden ging die Revolution von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs- heer stellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünschungen wider die Jesuiten, sein streng kirchliches altes Königshaus entthront, so erhob sich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariser Julikämpfen zugleich ver- wandt und feindlich, die Straßenschlachten wie die liberalen Schlagworte der Franzosen sich zum Muster nahm um am letzten Ende der römischen Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenso seltsam hatte einst die Empörung der brabantischen Patrioten gegen Kaiser Joseph II. sich mit der ersten französischen Revolution verflochten.
Ein Gefühl der Gemeinschaft konnte sich zwischen den beiden feind- lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfassung des neuen Königreichs wurde, weil sie die Gleichberechtigung der Be- kenntnisse vorschrieb, von der großen Mehrheit der belgischen Notabeln verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländischen
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II. immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver- träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge- worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge- meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü- dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol- länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol- ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.
Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli- gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs- heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver- wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II. ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.
Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind- lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be- kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen
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verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten
die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II.
immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres
wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver-
träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes
Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge-
worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier
ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß
einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den
Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war
ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge-
meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü-
dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn
in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol-
länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften
Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die
Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol-
ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.
Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte
der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im
Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren
ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher
Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli-
gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die
Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch
die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den
holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige
Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale
die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution
von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs-
heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die
Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob
ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver-
wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte
der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen
Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte
einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II.
ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.
Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind-
lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung
des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be-
kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln
verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/46>, abgerufen am 23.07.2024.
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