Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. verfehlten, künstlichen Staatsbildung. Ihrer stolzen Geschichte froh, konntendie Holländer in dem belgischen Lande, das seit den Tagen Philipp's II. immer fremden Herrschern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergestellten nationalen Staates sehen, wie es die europäischen Ver- träge auch ausdrücklich aussprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauses Oranien und seiner englischen Gönner war aber der Zuwachs stärker ge- worden als das Hauptland selber: drei und eine Viertel Million Belgier standen zwei Millionen Holländern gegenüber, und sie wußten wohl, daß einst Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiser Karl's V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, seit die sieben Provinzen des Nordens sich aus der Ge- meinschaft des alten Gesammtstaates losrissen, von diesen feindlichen Brü- dern Alles geboten worden: erst maßen sie sich mit den nordischen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol- länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwischen den beiden Hälften Niederlands; endlich besiegt, mußten sie dann ertragen, wie ihnen die Schelde gesperrt, der indische Handel verboten, die Festungen durch hol- ländische Garnisonen besetzt wurden. Ungleich stärker als diese bitteren politischen Erinnerungen wirkte Ein Gefühl der Gemeinschaft konnte sich zwischen den beiden feind- IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konntendie Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II. immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver- träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge- worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge- meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü- dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol- länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol- ländiſche Garniſonen beſetzt wurden. Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0046" n="32"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.</fw><lb/> verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. 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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten
die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II.
immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres
wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver-
träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes
Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge-
worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier
ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß
einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den
Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war
ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge-
meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü-
dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn
in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol-
länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften
Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die
Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol-
ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.
Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte
der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im
Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren
ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher
Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli-
gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die
Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch
die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den
holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige
Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale
die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution
von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs-
heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die
Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob
ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver-
wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte
der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen
Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte
einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II.
ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.
Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind-
lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung
des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be-
kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln
verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen
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