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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Rückert im Alter.
phanes nach Belieben beschmutzen; daß er sich an einem Volkstribunen
verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufsätze flogen
herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde
zwischen Voß und Stolberg erschien daneben wie ein liebevoller Gedanken-
austausch. Als nun gar Börne's Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen
öffnete und geschäftig Alles auskramte was Börne je vertraulich über Heine
geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über
Deutschland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erst einzu-
sehen, vor welchen Götzen er einst gekniet hatte. --


Zeiten des literarischen Kampfes sind der Lyrik selten günstig. Nur
Wenige verstanden wie Rückert den stillen Blumengarten ihrer Dichtung
vor der schneidenden Zugluft des Tages sorgsam einzuhegen. Die Form-
losigkeit der Feuilleton-Poesie erschien dem Meister der Verskunst ebenso
verächtlich, wie ihr Gespött und ihre "unzüchtigen Gebärden" seinen frommen
Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menschenleben "von Gott zu Gott"
führt, daß die Natur nur die Amme des Geistes ist: "sie nährt ihn bis
er fühlt, daß er von ihr nicht stamme." Solche Gesinnungen erfüllten
ihn, als er die geheimnißvolle Welt seiner inneren Erfahrungen und Er-
lebnisse in der "Weisheit des Brahmanen" zusammenfaßte. Da schien es
wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beschauliche Ruheseligkeit des
Orients ganz versänke, aber immer wieder brach der freie Weltsinn des
Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens stand ihm das
königliche Gebot der christlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland
entfremdeten ihn der Heimath nicht. Mit der alten unverwüstlichen Sanges-
lust fuhr er fort sich sein ganzes Leben zum Kunstwerk zu gestalten; jedes
Begebniß des Tages umspann seine Phantasie mit ihren goldenen Fäden.
Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüstern des Windes
lauschen oder seinen Kindern Märchen erzählen, oder seinem Jonathan,
dem Erlanger Philologen Kopp seinen Haussegen senden. Oft grollte er ins-
geheim den Landsleuten, weil sie hinter seinen orientalischen Formenspielen
das weite deutsche Herz, dem nichts Menschliches fremd blieb, schwer er-
kannten, und auch seine heimathlichen Gedichte nicht sangbar, also nicht
wahrhaft volksthümlich finden wollten; doch niemals hätte sich sein Künstler-
stolz herabgelassen, um die Gunst des Haufens zu buhlen. Ueber den
Zeitungsruhm der Götzen des Tages sagte er noch im Alter frei und groß:

Sperlinge, Staaren
Fliegen in Schaaren.
Tauben in Lauben
Wollen sich paaren.
Einsam der Adler
Schwebet im Licht,
Unten die Tadler
Achtet er nicht.

Rückert im Alter.
phanes nach Belieben beſchmutzen; daß er ſich an einem Volkstribunen
verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufſätze flogen
herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde
zwiſchen Voß und Stolberg erſchien daneben wie ein liebevoller Gedanken-
austauſch. Als nun gar Börne’s Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen
öffnete und geſchäftig Alles auskramte was Börne je vertraulich über Heine
geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über
Deutſchland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erſt einzu-
ſehen, vor welchen Götzen er einſt gekniet hatte. —


Zeiten des literariſchen Kampfes ſind der Lyrik ſelten günſtig. Nur
Wenige verſtanden wie Rückert den ſtillen Blumengarten ihrer Dichtung
vor der ſchneidenden Zugluft des Tages ſorgſam einzuhegen. Die Form-
loſigkeit der Feuilleton-Poeſie erſchien dem Meiſter der Verskunſt ebenſo
verächtlich, wie ihr Geſpött und ihre „unzüchtigen Gebärden“ ſeinen frommen
Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menſchenleben „von Gott zu Gott“
führt, daß die Natur nur die Amme des Geiſtes iſt: „ſie nährt ihn bis
er fühlt, daß er von ihr nicht ſtamme.“ Solche Geſinnungen erfüllten
ihn, als er die geheimnißvolle Welt ſeiner inneren Erfahrungen und Er-
lebniſſe in der „Weisheit des Brahmanen“ zuſammenfaßte. Da ſchien es
wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beſchauliche Ruheſeligkeit des
Orients ganz verſänke, aber immer wieder brach der freie Weltſinn des
Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens ſtand ihm das
königliche Gebot der chriſtlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland
entfremdeten ihn der Heimath nicht. Mit der alten unverwüſtlichen Sanges-
luſt fuhr er fort ſich ſein ganzes Leben zum Kunſtwerk zu geſtalten; jedes
Begebniß des Tages umſpann ſeine Phantaſie mit ihren goldenen Fäden.
Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüſtern des Windes
lauſchen oder ſeinen Kindern Märchen erzählen, oder ſeinem Jonathan,
dem Erlanger Philologen Kopp ſeinen Hausſegen ſenden. Oft grollte er ins-
geheim den Landsleuten, weil ſie hinter ſeinen orientaliſchen Formenſpielen
das weite deutſche Herz, dem nichts Menſchliches fremd blieb, ſchwer er-
kannten, und auch ſeine heimathlichen Gedichte nicht ſangbar, alſo nicht
wahrhaft volksthümlich finden wollten; doch niemals hätte ſich ſein Künſtler-
ſtolz herabgelaſſen, um die Gunſt des Haufens zu buhlen. Ueber den
Zeitungsruhm der Götzen des Tages ſagte er noch im Alter frei und groß:

Sperlinge, Staaren
Fliegen in Schaaren.
Tauben in Lauben
Wollen ſich paaren.
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Schwebet im Licht,
Unten die Tadler
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[443/0457] Rückert im Alter. phanes nach Belieben beſchmutzen; daß er ſich an einem Volkstribunen verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufſätze flogen herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde zwiſchen Voß und Stolberg erſchien daneben wie ein liebevoller Gedanken- austauſch. Als nun gar Börne’s Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen öffnete und geſchäftig Alles auskramte was Börne je vertraulich über Heine geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über Deutſchland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erſt einzu- ſehen, vor welchen Götzen er einſt gekniet hatte. — Zeiten des literariſchen Kampfes ſind der Lyrik ſelten günſtig. Nur Wenige verſtanden wie Rückert den ſtillen Blumengarten ihrer Dichtung vor der ſchneidenden Zugluft des Tages ſorgſam einzuhegen. Die Form- loſigkeit der Feuilleton-Poeſie erſchien dem Meiſter der Verskunſt ebenſo verächtlich, wie ihr Geſpött und ihre „unzüchtigen Gebärden“ ſeinen frommen Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menſchenleben „von Gott zu Gott“ führt, daß die Natur nur die Amme des Geiſtes iſt: „ſie nährt ihn bis er fühlt, daß er von ihr nicht ſtamme.“ Solche Geſinnungen erfüllten ihn, als er die geheimnißvolle Welt ſeiner inneren Erfahrungen und Er- lebniſſe in der „Weisheit des Brahmanen“ zuſammenfaßte. Da ſchien es wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beſchauliche Ruheſeligkeit des Orients ganz verſänke, aber immer wieder brach der freie Weltſinn des Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens ſtand ihm das königliche Gebot der chriſtlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland entfremdeten ihn der Heimath nicht. Mit der alten unverwüſtlichen Sanges- luſt fuhr er fort ſich ſein ganzes Leben zum Kunſtwerk zu geſtalten; jedes Begebniß des Tages umſpann ſeine Phantaſie mit ihren goldenen Fäden. Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüſtern des Windes lauſchen oder ſeinen Kindern Märchen erzählen, oder ſeinem Jonathan, dem Erlanger Philologen Kopp ſeinen Hausſegen ſenden. Oft grollte er ins- geheim den Landsleuten, weil ſie hinter ſeinen orientaliſchen Formenſpielen das weite deutſche Herz, dem nichts Menſchliches fremd blieb, ſchwer er- kannten, und auch ſeine heimathlichen Gedichte nicht ſangbar, alſo nicht wahrhaft volksthümlich finden wollten; doch niemals hätte ſich ſein Künſtler- ſtolz herabgelaſſen, um die Gunſt des Haufens zu buhlen. Ueber den Zeitungsruhm der Götzen des Tages ſagte er noch im Alter frei und groß: Sperlinge, Staaren Fliegen in Schaaren. Tauben in Lauben Wollen ſich paaren. Einſam der Adler Schwebet im Licht, Unten die Tadler Achtet er nicht.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/457>, abgerufen am 24.11.2024.