Darum sind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu geblieben. Wie sie einst dem verwilderten Geschlechte des dreißigjährigen Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemüthlichkeit erhielten, so haben sie uns auch als die Literatur wieder entartete das An- denken unseres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von Goethe so tief verabscheuten gelehrten Frauen behüteten seinen Ruhm, son- dern die anspruchslosen, still thätigen, von denen Niemand sprach. Wenn die schlichte deutsche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts sich am Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann schlug sie aus den vierzig Bänden irgend eine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl that, und empfand die ewige Wahlverwandtschaft zwischen dem Genius und dem Weibe -- denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während die Dichtung sich von Goethe abwendete, blieb sein Geist in der bildenden Kunst und in der Wissenschaft lebendig; unter den neu auftretenden großen Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erst in weit späterer Zeit, als unser Volk Großes und Schweres geschaffen hatte, begannen die begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling der Frauen zurückzukehren, und seitdem wächst beständig die stille Macht seines Genius. Der Tag seines höchsten Ruhmes ist noch nicht gekommen. Schiller's Gedanken, wie groß und hehr sie auch waren, umfaßten doch nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menschenrecht und Völker- freiheit, hat die Geschichte vor unseren Augen verwirklicht, und wir empfinden schon den nur bedingten Werth seiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend kann sich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient ist der letzte echte Marquis Posa aus unserem kürzer angebundenen Geschlechte geschieden. Goethe's Gestalten gehören keiner Zeit; sie sind wahr, niemals wirklich, so wie er es von der Kunst verlangte. Sie veralten nicht, denn sie wollen erlebt sein; sie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künstlers, des liebevollen Weibes oder des festen Mannes, den die vollendete Bildung zur Einfalt der Natur zurückführt.
Frauenhände errichteten dem Todten sein erstes schönes Denkmal. Drei Jahre nach dem Abscheiden des Dichters gab Bettina v. Arnim Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene, gedankenreiche Dichtung, die mit den historischen Thatsachen ebenso frei schaltete, wie Goethe selbst im Werther mit seinen Wetzlarer Erlebnissen, und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnißvollen Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten Goetheforschung. Mit der herzlichen Wärme der bilderreichen rheinländischen Sprache erzählt das Buch, wie sich Goethe's Wesen im Herzen eines leiden- schaftlichen Kindes wiederspiegelt; majestätisch hebt sich die ruhige Milde des Dichters ab von der bacchantischen, zuweilen zudringlichen Begeisterung des Mädchens; und über diesem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere Himmel unseres schönen Westens. Die kleinen Mädchen im Nonnenkloster
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 27
Bettina.
Darum ſind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu geblieben. Wie ſie einſt dem verwilderten Geſchlechte des dreißigjährigen Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemüthlichkeit erhielten, ſo haben ſie uns auch als die Literatur wieder entartete das An- denken unſeres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von Goethe ſo tief verabſcheuten gelehrten Frauen behüteten ſeinen Ruhm, ſon- dern die anſpruchsloſen, ſtill thätigen, von denen Niemand ſprach. Wenn die ſchlichte deutſche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts ſich am Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann ſchlug ſie aus den vierzig Bänden irgend eine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl that, und empfand die ewige Wahlverwandtſchaft zwiſchen dem Genius und dem Weibe — denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während die Dichtung ſich von Goethe abwendete, blieb ſein Geiſt in der bildenden Kunſt und in der Wiſſenſchaft lebendig; unter den neu auftretenden großen Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erſt in weit ſpäterer Zeit, als unſer Volk Großes und Schweres geſchaffen hatte, begannen die begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling der Frauen zurückzukehren, und ſeitdem wächſt beſtändig die ſtille Macht ſeines Genius. Der Tag ſeines höchſten Ruhmes iſt noch nicht gekommen. Schiller’s Gedanken, wie groß und hehr ſie auch waren, umfaßten doch nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menſchenrecht und Völker- freiheit, hat die Geſchichte vor unſeren Augen verwirklicht, und wir empfinden ſchon den nur bedingten Werth ſeiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend kann ſich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient iſt der letzte echte Marquis Poſa aus unſerem kürzer angebundenen Geſchlechte geſchieden. Goethe’s Geſtalten gehören keiner Zeit; ſie ſind wahr, niemals wirklich, ſo wie er es von der Kunſt verlangte. Sie veralten nicht, denn ſie wollen erlebt ſein; ſie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künſtlers, des liebevollen Weibes oder des feſten Mannes, den die vollendete Bildung zur Einfalt der Natur zurückführt.
Frauenhände errichteten dem Todten ſein erſtes ſchönes Denkmal. Drei Jahre nach dem Abſcheiden des Dichters gab Bettina v. Arnim Goethe’s Briefwechſel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene, gedankenreiche Dichtung, die mit den hiſtoriſchen Thatſachen ebenſo frei ſchaltete, wie Goethe ſelbſt im Werther mit ſeinen Wetzlarer Erlebniſſen, und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnißvollen Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten Goetheforſchung. Mit der herzlichen Wärme der bilderreichen rheinländiſchen Sprache erzählt das Buch, wie ſich Goethe’s Weſen im Herzen eines leiden- ſchaftlichen Kindes wiederſpiegelt; majeſtätiſch hebt ſich die ruhige Milde des Dichters ab von der bacchantiſchen, zuweilen zudringlichen Begeiſterung des Mädchens; und über dieſem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere Himmel unſeres ſchönen Weſtens. Die kleinen Mädchen im Nonnenkloſter
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 27
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Bettina.
Darum ſind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu
geblieben. Wie ſie einſt dem verwilderten Geſchlechte des dreißigjährigen
Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemüthlichkeit
erhielten, ſo haben ſie uns auch als die Literatur wieder entartete das An-
denken unſeres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von
Goethe ſo tief verabſcheuten gelehrten Frauen behüteten ſeinen Ruhm, ſon-
dern die anſpruchsloſen, ſtill thätigen, von denen Niemand ſprach. Wenn
die ſchlichte deutſche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts ſich am
Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann ſchlug ſie aus den vierzig
Bänden irgend eine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl that, und empfand
die ewige Wahlverwandtſchaft zwiſchen dem Genius und dem Weibe —
denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während
die Dichtung ſich von Goethe abwendete, blieb ſein Geiſt in der bildenden
Kunſt und in der Wiſſenſchaft lebendig; unter den neu auftretenden großen
Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erſt in weit ſpäterer
Zeit, als unſer Volk Großes und Schweres geſchaffen hatte, begannen die
begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling
der Frauen zurückzukehren, und ſeitdem wächſt beſtändig die ſtille Macht
ſeines Genius. Der Tag ſeines höchſten Ruhmes iſt noch nicht gekommen.
Schiller’s Gedanken, wie groß und hehr ſie auch waren, umfaßten doch
nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menſchenrecht und Völker-
freiheit, hat die Geſchichte vor unſeren Augen verwirklicht, und wir empfinden
ſchon den nur bedingten Werth ſeiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend
kann ſich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient iſt der letzte echte
Marquis Poſa aus unſerem kürzer angebundenen Geſchlechte geſchieden.
Goethe’s Geſtalten gehören keiner Zeit; ſie ſind wahr, niemals wirklich,
ſo wie er es von der Kunſt verlangte. Sie veralten nicht, denn ſie wollen
erlebt ſein; ſie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künſtlers,
des liebevollen Weibes oder des feſten Mannes, den die vollendete Bildung
zur Einfalt der Natur zurückführt.
Frauenhände errichteten dem Todten ſein erſtes ſchönes Denkmal. Drei
Jahre nach dem Abſcheiden des Dichters gab Bettina v. Arnim Goethe’s
Briefwechſel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene,
gedankenreiche Dichtung, die mit den hiſtoriſchen Thatſachen ebenſo frei
ſchaltete, wie Goethe ſelbſt im Werther mit ſeinen Wetzlarer Erlebniſſen,
und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnißvollen
Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten
Goetheforſchung. Mit der herzlichen Wärme der bilderreichen rheinländiſchen
Sprache erzählt das Buch, wie ſich Goethe’s Weſen im Herzen eines leiden-
ſchaftlichen Kindes wiederſpiegelt; majeſtätiſch hebt ſich die ruhige Milde
des Dichters ab von der bacchantiſchen, zuweilen zudringlichen Begeiſterung
des Mädchens; und über dieſem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere
Himmel unſeres ſchönen Weſtens. Die kleinen Mädchen im Nonnenkloſter
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 27
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/431>, abgerufen am 24.11.2024.
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