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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf
die alte durch technische Geschicklichkeit, jedoch sie lag ausschließlich in der
Hand besoldeter Beamten, den Ortsausschüssen blieb nur das bequeme
Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward also der erste,
entscheidende Stoß geführt wider den alten festen Unterbau der parlamen-
tarischen Aristokratie, das Selfgovernment der Grafschaften, und bald be-
mächtigte sich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung.

An beiden Ufern des Canals rühmte man sich seines Bürgerkönigs
und der gemeinsamen Freiheit. In der That begannen die Briten
aus ihrem stolzen aristokratischen Sonderleben herauszutreten, ihr neues
Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen festländischen
Parlamentarismus heimgesucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac-
tionen gaben die geschworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren schon
zuweilen den Ausschlag; die Ministerwechsel, dreizehn in fünfunddreißig
Jahren, folgten sich fast so schnell wie in Frankreich. Freilich bestand
in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit seiner macht-
losen Krone unbestritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentarische
Regierung, während der illegitime König der Franzosen mit seinem Kopfe
einstehen mußte und folglich auch trotz der constitutionellen Formen ein
persönliches Regiment führte.

Das innerste Wesen dieser Uebergangszeit verkörperte sich in dem
Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der,
Aristokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogischer Meister-
schaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerston stammte
aus einem uralten angelsächsischen Geschlechte, das schon lange vor der
normannischen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus
der Temple immer eine Zierde der Whigpartei gewesen. Der junge
Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs
in jenen napoleonischen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit
zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf
schon Sekretär für den Krieg, und lebte sich mit seiner eifrigen, wenn
auch unpünktlichen Arbeitsamkeit bald so ganz in die Geschäfte ein, daß
er die Amtsthätigkeit nicht mehr missen konnte. Er wurde der dauer-
hafteste aller englischen Minister; von den achtundfünfzig Lebensjahren,
die ihm nach seinem Eintritt ins Amt noch beschieden waren, hat er achtund-
vierzig auf den Ministerbänken zugebracht. In den Jahren, da er die
Heere gegen Napoleon ausrüsten half, sammelte er früh eine reiche diplo-
matische Erfahrung, und schon in seiner ersten größeren Parlamentsrede
verkündete er dreist den leitenden Gedanken seines politischen Lebens: er
rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen
Worten, in diesem Falle sei "das Naturrecht stärker als das Völkerrecht",
folglich dürfe England um seiner Selbsterhaltung willen mitten im Frieden
einen kleinen Nachbarstaat räuberisch überfallen. Der augenblickliche

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf
die alte durch techniſche Geſchicklichkeit, jedoch ſie lag ausſchließlich in der
Hand beſoldeter Beamten, den Ortsausſchüſſen blieb nur das bequeme
Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward alſo der erſte,
entſcheidende Stoß geführt wider den alten feſten Unterbau der parlamen-
tariſchen Ariſtokratie, das Selfgovernment der Grafſchaften, und bald be-
mächtigte ſich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung.

An beiden Ufern des Canals rühmte man ſich ſeines Bürgerkönigs
und der gemeinſamen Freiheit. In der That begannen die Briten
aus ihrem ſtolzen ariſtokratiſchen Sonderleben herauszutreten, ihr neues
Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen feſtländiſchen
Parlamentarismus heimgeſucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac-
tionen gaben die geſchworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren ſchon
zuweilen den Ausſchlag; die Miniſterwechſel, dreizehn in fünfunddreißig
Jahren, folgten ſich faſt ſo ſchnell wie in Frankreich. Freilich beſtand
in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit ſeiner macht-
loſen Krone unbeſtritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentariſche
Regierung, während der illegitime König der Franzoſen mit ſeinem Kopfe
einſtehen mußte und folglich auch trotz der conſtitutionellen Formen ein
perſönliches Regiment führte.

Das innerſte Weſen dieſer Uebergangszeit verkörperte ſich in dem
Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der,
Ariſtokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogiſcher Meiſter-
ſchaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerſton ſtammte
aus einem uralten angelſächſiſchen Geſchlechte, das ſchon lange vor der
normanniſchen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus
der Temple immer eine Zierde der Whigpartei geweſen. Der junge
Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs
in jenen napoleoniſchen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit
zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf
ſchon Sekretär für den Krieg, und lebte ſich mit ſeiner eifrigen, wenn
auch unpünktlichen Arbeitſamkeit bald ſo ganz in die Geſchäfte ein, daß
er die Amtsthätigkeit nicht mehr miſſen konnte. Er wurde der dauer-
hafteſte aller engliſchen Miniſter; von den achtundfünfzig Lebensjahren,
die ihm nach ſeinem Eintritt ins Amt noch beſchieden waren, hat er achtund-
vierzig auf den Miniſterbänken zugebracht. In den Jahren, da er die
Heere gegen Napoleon ausrüſten half, ſammelte er früh eine reiche diplo-
matiſche Erfahrung, und ſchon in ſeiner erſten größeren Parlamentsrede
verkündete er dreiſt den leitenden Gedanken ſeines politiſchen Lebens: er
rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen
Worten, in dieſem Falle ſei „das Naturrecht ſtärker als das Völkerrecht“,
folglich dürfe England um ſeiner Selbſterhaltung willen mitten im Frieden
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[26/0040] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf die alte durch techniſche Geſchicklichkeit, jedoch ſie lag ausſchließlich in der Hand beſoldeter Beamten, den Ortsausſchüſſen blieb nur das bequeme Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward alſo der erſte, entſcheidende Stoß geführt wider den alten feſten Unterbau der parlamen- tariſchen Ariſtokratie, das Selfgovernment der Grafſchaften, und bald be- mächtigte ſich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung. An beiden Ufern des Canals rühmte man ſich ſeines Bürgerkönigs und der gemeinſamen Freiheit. In der That begannen die Briten aus ihrem ſtolzen ariſtokratiſchen Sonderleben herauszutreten, ihr neues Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen feſtländiſchen Parlamentarismus heimgeſucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac- tionen gaben die geſchworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren ſchon zuweilen den Ausſchlag; die Miniſterwechſel, dreizehn in fünfunddreißig Jahren, folgten ſich faſt ſo ſchnell wie in Frankreich. Freilich beſtand in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit ſeiner macht- loſen Krone unbeſtritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentariſche Regierung, während der illegitime König der Franzoſen mit ſeinem Kopfe einſtehen mußte und folglich auch trotz der conſtitutionellen Formen ein perſönliches Regiment führte. Das innerſte Weſen dieſer Uebergangszeit verkörperte ſich in dem Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der, Ariſtokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogiſcher Meiſter- ſchaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerſton ſtammte aus einem uralten angelſächſiſchen Geſchlechte, das ſchon lange vor der normanniſchen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus der Temple immer eine Zierde der Whigpartei geweſen. Der junge Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs in jenen napoleoniſchen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf ſchon Sekretär für den Krieg, und lebte ſich mit ſeiner eifrigen, wenn auch unpünktlichen Arbeitſamkeit bald ſo ganz in die Geſchäfte ein, daß er die Amtsthätigkeit nicht mehr miſſen konnte. Er wurde der dauer- hafteſte aller engliſchen Miniſter; von den achtundfünfzig Lebensjahren, die ihm nach ſeinem Eintritt ins Amt noch beſchieden waren, hat er achtund- vierzig auf den Miniſterbänken zugebracht. In den Jahren, da er die Heere gegen Napoleon ausrüſten half, ſammelte er früh eine reiche diplo- matiſche Erfahrung, und ſchon in ſeiner erſten größeren Parlamentsrede verkündete er dreiſt den leitenden Gedanken ſeines politiſchen Lebens: er rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen Worten, in dieſem Falle ſei „das Naturrecht ſtärker als das Völkerrecht“, folglich dürfe England um ſeiner Selbſterhaltung willen mitten im Frieden einen kleinen Nachbarſtaat räuberiſch überfallen. Der augenblickliche

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/40>, abgerufen am 29.11.2024.