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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die Reformbill.
wie einst die beiden Pitt mit dem Ansehen des Feldherrn über eine ge-
schlossene Phalanx befreundeter und verschwägerter Standesgenossen; er
mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank- und
Eisenbahndirektoren, die sich jetzt neben den alten Grundadel drängte,
durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthschaftlichen, kirchlichen, örtlichen
Anspruch eine Befriedigung, jedem Wunsche eine Erfüllung verheißen, er
mußte bald sich leiten lassen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit
selber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in seinem Standesstolze sich
der Nation oft entfremdet, so war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune
der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenlosen frei-
willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine
ungeheure Macht, und nicht selten geschah es schon, daß die Commoners,
eingeschüchtert durch den Lärm der Presse, für Maßregeln, die sie miß-
billigten, stimmten. Die vordem so träge Gesetzgebung arbeitete schnell,
oft leichtfertig. Rasch nach einander wurde die Civilliste der Krone von
den Staatsausgaben abgesondert, das Handelsmonopol der ostindischen
Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beseitigt, die neue
Londoner Universität neben den beiden alten aristokratischen Hochschulen
als Corporation anerkannt, die verfallene städtische Verwaltung durch eine
liberale, aber gedankenlose Städteordnung umgestaltet. Und so stark war
der demokratische Zug der Zeit, daß selbst dies Haus, das noch immer
fast ausschließlich aus Reichen und Hochgeborenen bestand, den miß-
handelten Massen des Volkes seine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre
1833 erschien das erste, noch sehr zahme Gesetz zur Regelung des Fabrik-
wesens, auch für den sündlich verwahrlosten Volksunterricht ward ein
kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen.

Der Lärm der Gassen verstummte, seit die Reformbill gesiegt hatte,
doch die Arbeiter sammelten sich in der Stille um das neue Banner der
Socialreform; zugleich erhob sich der Ruf nach Befreiung des Handels.
Die politischen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts,
weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte,
und die geheime Abstimmung, das Ballot. Die altenglische Rechtsansicht,
die in dem Wahlrechte stets eine ernste Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß
des souveränen Einzelmenschen gesehen hatte, gerieth in Vergessenheit; die
Todsünde demokratischer Zeiten, die Furcht vor persönlicher Verantwortung,
schmückte sich mit dem Namen des Freisinns. Mit den demokratischen
Ideen drangen aber auch die bureaukratischen Verwaltungsformen des
Festlands in den Inselstaat hinüber. Da die schwerfälligen Formen der
alten Selbstverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den
verwickelten Verkehr der modernen Gesellschaft nicht mehr ausreichten und
der Geldadel der neuen Gentry die schweren Pflichten des persönlichen
Dienstes für Staat und Gemeinde verabscheute, so wurde das vernach-
lässigte Armenwesen des Landes einem großen, streng bureaukratisch ein-

Die Reformbill.
wie einſt die beiden Pitt mit dem Anſehen des Feldherrn über eine ge-
ſchloſſene Phalanx befreundeter und verſchwägerter Standesgenoſſen; er
mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank- und
Eiſenbahndirektoren, die ſich jetzt neben den alten Grundadel drängte,
durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthſchaftlichen, kirchlichen, örtlichen
Anſpruch eine Befriedigung, jedem Wunſche eine Erfüllung verheißen, er
mußte bald ſich leiten laſſen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit
ſelber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in ſeinem Standesſtolze ſich
der Nation oft entfremdet, ſo war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune
der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenloſen frei-
willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine
ungeheure Macht, und nicht ſelten geſchah es ſchon, daß die Commoners,
eingeſchüchtert durch den Lärm der Preſſe, für Maßregeln, die ſie miß-
billigten, ſtimmten. Die vordem ſo träge Geſetzgebung arbeitete ſchnell,
oft leichtfertig. Raſch nach einander wurde die Civilliſte der Krone von
den Staatsausgaben abgeſondert, das Handelsmonopol der oſtindiſchen
Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beſeitigt, die neue
Londoner Univerſität neben den beiden alten ariſtokratiſchen Hochſchulen
als Corporation anerkannt, die verfallene ſtädtiſche Verwaltung durch eine
liberale, aber gedankenloſe Städteordnung umgeſtaltet. Und ſo ſtark war
der demokratiſche Zug der Zeit, daß ſelbſt dies Haus, das noch immer
faſt ausſchließlich aus Reichen und Hochgeborenen beſtand, den miß-
handelten Maſſen des Volkes ſeine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre
1833 erſchien das erſte, noch ſehr zahme Geſetz zur Regelung des Fabrik-
weſens, auch für den ſündlich verwahrloſten Volksunterricht ward ein
kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen.

Der Lärm der Gaſſen verſtummte, ſeit die Reformbill geſiegt hatte,
doch die Arbeiter ſammelten ſich in der Stille um das neue Banner der
Socialreform; zugleich erhob ſich der Ruf nach Befreiung des Handels.
Die politiſchen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts,
weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte,
und die geheime Abſtimmung, das Ballot. Die altengliſche Rechtsanſicht,
die in dem Wahlrechte ſtets eine ernſte Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß
des ſouveränen Einzelmenſchen geſehen hatte, gerieth in Vergeſſenheit; die
Todſünde demokratiſcher Zeiten, die Furcht vor perſönlicher Verantwortung,
ſchmückte ſich mit dem Namen des Freiſinns. Mit den demokratiſchen
Ideen drangen aber auch die bureaukratiſchen Verwaltungsformen des
Feſtlands in den Inſelſtaat hinüber. Da die ſchwerfälligen Formen der
alten Selbſtverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den
verwickelten Verkehr der modernen Geſellſchaft nicht mehr ausreichten und
der Geldadel der neuen Gentry die ſchweren Pflichten des perſönlichen
Dienſtes für Staat und Gemeinde verabſcheute, ſo wurde das vernach-
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[25/0039] Die Reformbill. wie einſt die beiden Pitt mit dem Anſehen des Feldherrn über eine ge- ſchloſſene Phalanx befreundeter und verſchwägerter Standesgenoſſen; er mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank- und Eiſenbahndirektoren, die ſich jetzt neben den alten Grundadel drängte, durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthſchaftlichen, kirchlichen, örtlichen Anſpruch eine Befriedigung, jedem Wunſche eine Erfüllung verheißen, er mußte bald ſich leiten laſſen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit ſelber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in ſeinem Standesſtolze ſich der Nation oft entfremdet, ſo war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenloſen frei- willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine ungeheure Macht, und nicht ſelten geſchah es ſchon, daß die Commoners, eingeſchüchtert durch den Lärm der Preſſe, für Maßregeln, die ſie miß- billigten, ſtimmten. Die vordem ſo träge Geſetzgebung arbeitete ſchnell, oft leichtfertig. Raſch nach einander wurde die Civilliſte der Krone von den Staatsausgaben abgeſondert, das Handelsmonopol der oſtindiſchen Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beſeitigt, die neue Londoner Univerſität neben den beiden alten ariſtokratiſchen Hochſchulen als Corporation anerkannt, die verfallene ſtädtiſche Verwaltung durch eine liberale, aber gedankenloſe Städteordnung umgeſtaltet. Und ſo ſtark war der demokratiſche Zug der Zeit, daß ſelbſt dies Haus, das noch immer faſt ausſchließlich aus Reichen und Hochgeborenen beſtand, den miß- handelten Maſſen des Volkes ſeine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre 1833 erſchien das erſte, noch ſehr zahme Geſetz zur Regelung des Fabrik- weſens, auch für den ſündlich verwahrloſten Volksunterricht ward ein kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen. Der Lärm der Gaſſen verſtummte, ſeit die Reformbill geſiegt hatte, doch die Arbeiter ſammelten ſich in der Stille um das neue Banner der Socialreform; zugleich erhob ſich der Ruf nach Befreiung des Handels. Die politiſchen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts, weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte, und die geheime Abſtimmung, das Ballot. Die altengliſche Rechtsanſicht, die in dem Wahlrechte ſtets eine ernſte Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß des ſouveränen Einzelmenſchen geſehen hatte, gerieth in Vergeſſenheit; die Todſünde demokratiſcher Zeiten, die Furcht vor perſönlicher Verantwortung, ſchmückte ſich mit dem Namen des Freiſinns. Mit den demokratiſchen Ideen drangen aber auch die bureaukratiſchen Verwaltungsformen des Feſtlands in den Inſelſtaat hinüber. Da die ſchwerfälligen Formen der alten Selbſtverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den verwickelten Verkehr der modernen Geſellſchaft nicht mehr ausreichten und der Geldadel der neuen Gentry die ſchweren Pflichten des perſönlichen Dienſtes für Staat und Gemeinde verabſcheute, ſo wurde das vernach- läſſigte Armenweſen des Landes einem großen, ſtreng bureaukratiſch ein-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/39>, abgerufen am 29.11.2024.