an den Augenschein, sie sahen in dem Pariser Straßenkampfe nur die hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfassungsbruch, und da der Name: Verfassung zur Zeit überall einen unwiderstehlichen Zauber auf die Gemüther ausübte, das historische Recht der Dynastien aber von der herrschenden Doctrin sehr geringschätzig behandelt wurde, so bemerkte man die schwere Rechtsverletzung kaum und freute sich unbefangen des Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrschaft der französischen Bourgeoisie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel- klassen schon längst gegen die Ueberreste der feudalen Gesellschaftsordnung führten, eine mächtige Unterstützung; und so geschah es, daß eine Be- wegung, die in Frankreich selbst fast nur Unheil zeitigte, mittelbar in anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutschland, einen nothwendigen, heilsamen Umschwung des politischen Lebens förderte. --
Einen überraschend starken Widerhall fanden die Pariser Ereignisse in dem Lande, das vordem der ersten französischen Revolution am zähesten widerstanden hatte. Seit Canning sich von dem Bunde der Ost- mächte losgesagt, war auch Englands parlamentarisches Leben wieder in frischeren Zug gekommen: durch Huskisson wurden die harten Zollgesetze etwas gemildert, Canning selbst näherte sich kurz vor seinem Tode der erstarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete sich wieder jenen Reformplänen zu, welche einst Pitt in seinen hoffnungsvollen ersten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Festlands durch den aufgeklärten Absolutismus oder durch die Revolution neu ge- staltet wurden, hatte England seine beste Kraft verbraucht für die Begrün- dung seines Kolonialreichs und seine innere Gesetzgebung fast ganz ins Stocken gerathen lassen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver- säumt war, und so übermächtig drängte sich das Bedürfniß der Neuerung auf, daß mehrere der kühnsten Reformen der nächsten Jahrzehnte durch streng conservative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erste, die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington's und Peel's (1829). Selbst diese Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, vielleicht der Abfall des schändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der uralte, soeben durch O'Connell's flammende Reden wieder mächtig ange- fachte Haß der katholischen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be- schwichtigt werden mußte.
Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutschland schon längst, die übrigen Staaten des Festlands seit den napoleonischen Tagen er- reicht hatten. Die Herrschaft der Aristokratie war aber mit den Vor- rechten der Staatskirche fest verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert der Streit mit der römischen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige zuerst geschwächt und der reichsständischen Bewegung des folgenden Jahr- hunderts die Bahn gebrochen hatte, so erschütterte jetzt der erste Stoß
Katholiken-Emancipation in England.
an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel- klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be- wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen, heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte. —
Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt- mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge- ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün- dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver- ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte, die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829). Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange- fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be- ſchwichtigt werden mußte.
Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt, die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er- reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor- rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr- hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß
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Katholiken-Emancipation in England.
an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die
hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da
der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber
auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von
der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte
man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des
Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen
Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel-
klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung
führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be-
wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen,
heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte. —
Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe
in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am
zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt-
mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in
friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze
etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der
erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich
wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen
erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands
durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge-
ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün-
dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins
Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver-
ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung
auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch
ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte,
die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829).
Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg,
vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der
uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange-
fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be-
ſchwichtigt werden mußte.
Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt,
die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er-
reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor-
rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert
der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige
zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr-
hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/35>, abgerufen am 25.11.2024.
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