Feigheit und schilderte den Staat, der ihm soeben durch die Stiftung des Zollvereins seine Kraft erwiesen hatte, als ein erbärmliches Zwitter- wesen, ein juste milieu zwischen den Mächten ersten und zweiten Ranges.*)
Der preußische Minister ließ sich dadurch nicht anfechten; der König und Bernstorff standen hinter ihm, und seine Friedensliebe selbst erhöhte ihm den Muth. Er nöthigte die beiden Unterhändler, die drei schärfsten Artikel aus dem Münchengrätzer Vertrage zu streichen. Was nunmehr noch übrigblieb und am 15. October endlich unterzeichnet wurde, klang noch immer thöricht genug, aber nicht mehr wie eine offenbare Drohung. Die drei Mächte erkannten an, daß jeder Souverän das Recht habe, im Falle innerer oder äußerer Gefahren die Hilfe eines anderen Souveräns anzurufen, und keine dritte Macht dann befugt sei die Einmischung zu verhindern; sie erklärten ferner: wenn eine von ihnen selbst zur Ein- mischung aufgefordert und deshalb durch einen dritten Staat angegriffen würde, dann müßten sie allesammt die Sache der angegriffenen Macht als ihre eigene betrachten. Der also aufgestellte Grundsatz war nicht ganz so vernunftwidrig wie die französische Nicht-Einmischungslehre, aber ebenso wenig unanfechtbar; denn sollte jedem souveränen Staate gestattet sein, nach freiem Ermessen seinem Nachbarn Hilfe zu leisten, so mußte folgerecht auch jedem anderen Souverän unverwehrt bleiben, je nach Umständen dieser Einmischung entgegenzutreten. Immerhin hatte Preußen dem gefährlichen Unternehmen die Spitze abgebrochen; das von dem Czaren so leiden- schaftlich betriebene Werk zerfloß in doctrinäre Erörterungen über mögliche Fälle der Zukunft. Zum Ueberfluß verpflichteten sich die drei Mächte, auf Preußens Verlangen, den Vertrag vorläufig tief geheim zu halten; ihre Gesandten in Paris sollten nur, wenn sie sich über die Propaganda beschwerten, gleichzeitig auch die vereinbarten Grundsätze über das Ein- mischungsrecht aussprechen, ohne des Vertrages selber zu gedenken. Damit schien jede Kriegsgefahr beseitigt, und man mußte nur noch auf eine lebhafte akademische Unterhaltung mit dem Pariser Auswärtigen Amte gefaßt sein.
Nikolaus machte gute Miene zum bösen Spiele und erklärte wieder- holt sein "Entzücken" über die Berliner Berathungen.**) Mittlerweile lernte Preußen noch einmal die Zuverlässigkeit der Russen kennen. Der geheime Vertrag war kaum unterzeichnet, da richtete Nesselrode schon, am 16. October, aus Berlin ein Rundschreiben an die Gesandtschaften bei den kleinen Höfen und erzählte darin ganz unbefangen alles Wesentliche aus den jüngsten Verhandlungen: der Grundsatz der Einmischung, so schloß er, "entspricht dem Interesse aller legitimen Regierungen".***) Offenbar wollte Rußland durch diese vorzeitige Nachricht, die unmöglich
*) Brockhausen's Berichte, 1. 9. 19. Oct. 1833.
**) Ancillon an Schöler, 7. Nov. 1833 ff.
***) Nesselrode, Circulardepesche an die Gesandtschaften in Dresden, München, Turin, u. s. w., 4./16. Oct. 1833.
IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Feigheit und ſchilderte den Staat, der ihm ſoeben durch die Stiftung des Zollvereins ſeine Kraft erwieſen hatte, als ein erbärmliches Zwitter- weſen, ein juste milieu zwiſchen den Mächten erſten und zweiten Ranges.*)
Der preußiſche Miniſter ließ ſich dadurch nicht anfechten; der König und Bernſtorff ſtanden hinter ihm, und ſeine Friedensliebe ſelbſt erhöhte ihm den Muth. Er nöthigte die beiden Unterhändler, die drei ſchärfſten Artikel aus dem Münchengrätzer Vertrage zu ſtreichen. Was nunmehr noch übrigblieb und am 15. October endlich unterzeichnet wurde, klang noch immer thöricht genug, aber nicht mehr wie eine offenbare Drohung. Die drei Mächte erkannten an, daß jeder Souverän das Recht habe, im Falle innerer oder äußerer Gefahren die Hilfe eines anderen Souveräns anzurufen, und keine dritte Macht dann befugt ſei die Einmiſchung zu verhindern; ſie erklärten ferner: wenn eine von ihnen ſelbſt zur Ein- miſchung aufgefordert und deshalb durch einen dritten Staat angegriffen würde, dann müßten ſie alleſammt die Sache der angegriffenen Macht als ihre eigene betrachten. Der alſo aufgeſtellte Grundſatz war nicht ganz ſo vernunftwidrig wie die franzöſiſche Nicht-Einmiſchungslehre, aber ebenſo wenig unanfechtbar; denn ſollte jedem ſouveränen Staate geſtattet ſein, nach freiem Ermeſſen ſeinem Nachbarn Hilfe zu leiſten, ſo mußte folgerecht auch jedem anderen Souverän unverwehrt bleiben, je nach Umſtänden dieſer Einmiſchung entgegenzutreten. Immerhin hatte Preußen dem gefährlichen Unternehmen die Spitze abgebrochen; das von dem Czaren ſo leiden- ſchaftlich betriebene Werk zerfloß in doctrinäre Erörterungen über mögliche Fälle der Zukunft. Zum Ueberfluß verpflichteten ſich die drei Mächte, auf Preußens Verlangen, den Vertrag vorläufig tief geheim zu halten; ihre Geſandten in Paris ſollten nur, wenn ſie ſich über die Propaganda beſchwerten, gleichzeitig auch die vereinbarten Grundſätze über das Ein- miſchungsrecht ausſprechen, ohne des Vertrages ſelber zu gedenken. Damit ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt, und man mußte nur noch auf eine lebhafte akademiſche Unterhaltung mit dem Pariſer Auswärtigen Amte gefaßt ſein.
Nikolaus machte gute Miene zum böſen Spiele und erklärte wieder- holt ſein „Entzücken“ über die Berliner Berathungen.**) Mittlerweile lernte Preußen noch einmal die Zuverläſſigkeit der Ruſſen kennen. Der geheime Vertrag war kaum unterzeichnet, da richtete Neſſelrode ſchon, am 16. October, aus Berlin ein Rundſchreiben an die Geſandtſchaften bei den kleinen Höfen und erzählte darin ganz unbefangen alles Weſentliche aus den jüngſten Verhandlungen: der Grundſatz der Einmiſchung, ſo ſchloß er, „entſpricht dem Intereſſe aller legitimen Regierungen“.***) Offenbar wollte Rußland durch dieſe vorzeitige Nachricht, die unmöglich
*) Brockhauſen’s Berichte, 1. 9. 19. Oct. 1833.
**) Ancillon an Schöler, 7. Nov. 1833 ff.
***) Neſſelrode, Circulardepeſche an die Geſandtſchaften in Dresden, München, Turin, u. ſ. w., 4./16. Oct. 1833.
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des Zollvereins ſeine Kraft erwieſen hatte, als ein erbärmliches Zwitter-
weſen, ein juste milieu zwiſchen den Mächten erſten und zweiten Ranges. *)
Der preußiſche Miniſter ließ ſich dadurch nicht anfechten; der König
und Bernſtorff ſtanden hinter ihm, und ſeine Friedensliebe ſelbſt erhöhte
ihm den Muth. Er nöthigte die beiden Unterhändler, die drei ſchärfſten
Artikel aus dem Münchengrätzer Vertrage zu ſtreichen. Was nunmehr
noch übrigblieb und am 15. October endlich unterzeichnet wurde, klang
noch immer thöricht genug, aber nicht mehr wie eine offenbare Drohung.
Die drei Mächte erkannten an, daß jeder Souverän das Recht habe, im
Falle innerer oder äußerer Gefahren die Hilfe eines anderen Souveräns
anzurufen, und keine dritte Macht dann befugt ſei die Einmiſchung zu
verhindern; ſie erklärten ferner: wenn eine von ihnen ſelbſt zur Ein-
miſchung aufgefordert und deshalb durch einen dritten Staat angegriffen
würde, dann müßten ſie alleſammt die Sache der angegriffenen Macht als
ihre eigene betrachten. Der alſo aufgeſtellte Grundſatz war nicht ganz ſo
vernunftwidrig wie die franzöſiſche Nicht-Einmiſchungslehre, aber ebenſo
wenig unanfechtbar; denn ſollte jedem ſouveränen Staate geſtattet ſein, nach
freiem Ermeſſen ſeinem Nachbarn Hilfe zu leiſten, ſo mußte folgerecht auch
jedem anderen Souverän unverwehrt bleiben, je nach Umſtänden dieſer
Einmiſchung entgegenzutreten. Immerhin hatte Preußen dem gefährlichen
Unternehmen die Spitze abgebrochen; das von dem Czaren ſo leiden-
ſchaftlich betriebene Werk zerfloß in doctrinäre Erörterungen über mögliche
Fälle der Zukunft. Zum Ueberfluß verpflichteten ſich die drei Mächte,
auf Preußens Verlangen, den Vertrag vorläufig tief geheim zu halten;
ihre Geſandten in Paris ſollten nur, wenn ſie ſich über die Propaganda
beſchwerten, gleichzeitig auch die vereinbarten Grundſätze über das Ein-
miſchungsrecht ausſprechen, ohne des Vertrages ſelber zu gedenken. Damit
ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt, und man mußte nur noch auf eine lebhafte
akademiſche Unterhaltung mit dem Pariſer Auswärtigen Amte gefaßt ſein.
Nikolaus machte gute Miene zum böſen Spiele und erklärte wieder-
holt ſein „Entzücken“ über die Berliner Berathungen. **) Mittlerweile
lernte Preußen noch einmal die Zuverläſſigkeit der Ruſſen kennen. Der
geheime Vertrag war kaum unterzeichnet, da richtete Neſſelrode ſchon, am
16. October, aus Berlin ein Rundſchreiben an die Geſandtſchaften bei
den kleinen Höfen und erzählte darin ganz unbefangen alles Weſentliche
aus den jüngſten Verhandlungen: der Grundſatz der Einmiſchung, ſo
ſchloß er, „entſpricht dem Intereſſe aller legitimen Regierungen“. ***)
Offenbar wollte Rußland durch dieſe vorzeitige Nachricht, die unmöglich
*) Brockhauſen’s Berichte, 1. 9. 19. Oct. 1833.
**) Ancillon an Schöler, 7. Nov. 1833 ff.
***) Neſſelrode, Circulardepeſche an die Geſandtſchaften in Dresden, München,
Turin, u. ſ. w., 4./16. Oct. 1833.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/348>, abgerufen am 24.11.2024.
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