auch der Gedanke der preußischen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl der Süddeutschen noch erscheinen mochte, in ihrer eigenartigen Fassung konnte diese Schrift doch nur auf oberdeutschem Boden entstehen, daher ward sie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem Gegensatze der constitutionellen und der absolutistischen Gesinnung ging der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel der bestehenden Zustände schonungslos rügte, auch seine constitutionelle Ge- sinnung nicht verbarg, so betrachteten ihn die schwäbischen Liberalen als ihren Mann. Der preußische Gesandte in Stuttgart hingegen, Salviati, ein hartköpfiger Conservativer, behandelte in seinen Berichten den glühen- den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten Gegner. Im Norden fand Pfizer's Buch viele dankbare Leser. Die jungen Preußen, die von der Kaiserkrone der Hohenzollern träumten, fühlten sich durch die Geschichtsphilosophie des Schwaben in ihren stillen Hoffnungen bestärkt; Jens Uwe Lornsen und manche andere Politiker der norddeutschen Kleinstaaten wurden durch ihn gezwungen, in sich zu gehen, ihre aner- zogenen particularistischen Vorurtheile abzulegen, die Machtverhältnisse der Bundespolitik ruhiger zu überdenken.
Lange vor dem Erscheinen des Pfizer'schen Briefwechsels hatte schon ein anderer Süddeutscher, allerdings nur im vertrauten Kreise, verwandte Ideen ausgesprochen. Friedrich von Gagern, der älteste und begabteste unter den zahlreichen stattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war auf den Rath seines Vaters in niederländischen Kriegsdienst getreten und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phanta- siereiche alte Reichspatriot sich über den deutschen Charakter seiner Nieder- lande getäuscht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge- trennt von dem leidenschaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf seinen Urlaubsreisen das heimathliche Hornau besuchte, fand er die Brüder um den redseligen Vater versammelt und tauschte mit ihnen politische Gedanken aus, so daß man im hessischen Lande bald von der Familienpolitik der Gagern sprach. Der alte Hans war seiner poli- tischen Vielgeschäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbstgefühl bot er, als der belgische Aufstand ausbrach, dem niederländischen Hofe und dem Brüsseler Congresse ses lumieres zur Vermittlung an;*) dann schriftstellerte er fleißig, bereiste die Höfe, verkehrte viel mit seinem freundschaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein und errichtete dem großen Todten nachher, zuerst in Deutschland, ein literarisches Denkmal, indem er dessen Briefe herausgab; in der Darmstädter Ersten Kammer hielt er zuweilen eine geistreich abspringende Rede über Fragen der großen Politik. Einer seiner Söhne, Heinrich, errang sich mittlerweile ein hohes Ansehen unter den Liberalen der Zweiten Kammer. So lernte
*) Nagler's Bericht, 28. Nov. 1830.
17*
Friedrich v. Gagern.
auch der Gedanke der preußiſchen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl der Süddeutſchen noch erſcheinen mochte, in ihrer eigenartigen Faſſung konnte dieſe Schrift doch nur auf oberdeutſchem Boden entſtehen, daher ward ſie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem Gegenſatze der conſtitutionellen und der abſolutiſtiſchen Geſinnung ging der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel der beſtehenden Zuſtände ſchonungslos rügte, auch ſeine conſtitutionelle Ge- ſinnung nicht verbarg, ſo betrachteten ihn die ſchwäbiſchen Liberalen als ihren Mann. Der preußiſche Geſandte in Stuttgart hingegen, Salviati, ein hartköpfiger Conſervativer, behandelte in ſeinen Berichten den glühen- den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten Gegner. Im Norden fand Pfizer’s Buch viele dankbare Leſer. Die jungen Preußen, die von der Kaiſerkrone der Hohenzollern träumten, fühlten ſich durch die Geſchichtsphiloſophie des Schwaben in ihren ſtillen Hoffnungen beſtärkt; Jens Uwe Lornſen und manche andere Politiker der norddeutſchen Kleinſtaaten wurden durch ihn gezwungen, in ſich zu gehen, ihre aner- zogenen particulariſtiſchen Vorurtheile abzulegen, die Machtverhältniſſe der Bundespolitik ruhiger zu überdenken.
Lange vor dem Erſcheinen des Pfizer’ſchen Briefwechſels hatte ſchon ein anderer Süddeutſcher, allerdings nur im vertrauten Kreiſe, verwandte Ideen ausgeſprochen. Friedrich von Gagern, der älteſte und begabteſte unter den zahlreichen ſtattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war auf den Rath ſeines Vaters in niederländiſchen Kriegsdienſt getreten und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phanta- ſiereiche alte Reichspatriot ſich über den deutſchen Charakter ſeiner Nieder- lande getäuſcht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge- trennt von dem leidenſchaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf ſeinen Urlaubsreiſen das heimathliche Hornau beſuchte, fand er die Brüder um den redſeligen Vater verſammelt und tauſchte mit ihnen politiſche Gedanken aus, ſo daß man im heſſiſchen Lande bald von der Familienpolitik der Gagern ſprach. Der alte Hans war ſeiner poli- tiſchen Vielgeſchäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbſtgefühl bot er, als der belgiſche Aufſtand ausbrach, dem niederländiſchen Hofe und dem Brüſſeler Congreſſe ses lumières zur Vermittlung an;*) dann ſchriftſtellerte er fleißig, bereiſte die Höfe, verkehrte viel mit ſeinem freundſchaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein und errichtete dem großen Todten nachher, zuerſt in Deutſchland, ein literariſches Denkmal, indem er deſſen Briefe herausgab; in der Darmſtädter Erſten Kammer hielt er zuweilen eine geiſtreich abſpringende Rede über Fragen der großen Politik. Einer ſeiner Söhne, Heinrich, errang ſich mittlerweile ein hohes Anſehen unter den Liberalen der Zweiten Kammer. So lernte
*) Nagler’s Bericht, 28. Nov. 1830.
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Friedrich v. Gagern.
auch der Gedanke der preußiſchen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl
der Süddeutſchen noch erſcheinen mochte, in ihrer eigenartigen Faſſung
konnte dieſe Schrift doch nur auf oberdeutſchem Boden entſtehen, daher
ward ſie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem
Gegenſatze der conſtitutionellen und der abſolutiſtiſchen Geſinnung ging
der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel
der beſtehenden Zuſtände ſchonungslos rügte, auch ſeine conſtitutionelle Ge-
ſinnung nicht verbarg, ſo betrachteten ihn die ſchwäbiſchen Liberalen als
ihren Mann. Der preußiſche Geſandte in Stuttgart hingegen, Salviati,
ein hartköpfiger Conſervativer, behandelte in ſeinen Berichten den glühen-
den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten
Gegner. Im Norden fand Pfizer’s Buch viele dankbare Leſer. Die jungen
Preußen, die von der Kaiſerkrone der Hohenzollern träumten, fühlten ſich
durch die Geſchichtsphiloſophie des Schwaben in ihren ſtillen Hoffnungen
beſtärkt; Jens Uwe Lornſen und manche andere Politiker der norddeutſchen
Kleinſtaaten wurden durch ihn gezwungen, in ſich zu gehen, ihre aner-
zogenen particulariſtiſchen Vorurtheile abzulegen, die Machtverhältniſſe der
Bundespolitik ruhiger zu überdenken.
Lange vor dem Erſcheinen des Pfizer’ſchen Briefwechſels hatte ſchon
ein anderer Süddeutſcher, allerdings nur im vertrauten Kreiſe, verwandte
Ideen ausgeſprochen. Friedrich von Gagern, der älteſte und begabteſte
unter den zahlreichen ſtattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war
auf den Rath ſeines Vaters in niederländiſchen Kriegsdienſt getreten
und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phanta-
ſiereiche alte Reichspatriot ſich über den deutſchen Charakter ſeiner Nieder-
lande getäuſcht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge-
trennt von dem leidenſchaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf
ſeinen Urlaubsreiſen das heimathliche Hornau beſuchte, fand er die
Brüder um den redſeligen Vater verſammelt und tauſchte mit ihnen
politiſche Gedanken aus, ſo daß man im heſſiſchen Lande bald von der
Familienpolitik der Gagern ſprach. Der alte Hans war ſeiner poli-
tiſchen Vielgeſchäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbſtgefühl bot
er, als der belgiſche Aufſtand ausbrach, dem niederländiſchen Hofe und
dem Brüſſeler Congreſſe ses lumières zur Vermittlung an; *) dann
ſchriftſtellerte er fleißig, bereiſte die Höfe, verkehrte viel mit ſeinem
freundſchaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein und errichtete dem
großen Todten nachher, zuerſt in Deutſchland, ein literariſches Denkmal,
indem er deſſen Briefe herausgab; in der Darmſtädter Erſten Kammer
hielt er zuweilen eine geiſtreich abſpringende Rede über Fragen der
großen Politik. Einer ſeiner Söhne, Heinrich, errang ſich mittlerweile
ein hohes Anſehen unter den Liberalen der Zweiten Kammer. So lernte
*) Nagler’s Bericht, 28. Nov. 1830.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/273>, abgerufen am 23.07.2024.
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