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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die Radicalen in der Pfalz.
Nemesis und der Isis, zum Feuerherde der deutschen literarischen Oppo-
sition, obgleich diesem Ländchen von Kleinbürgern und Kleinbauern schlechter-
dings Alles fehlte, was der politischen Presse Gehalt und Macht giebt.
Nur der tiefe Groll, der die liberalen Schriftsteller beseelte, fand hierzu-
lande einen natürlichen Boden; denn nirgends ward der Jammer der
deutschen Zerrissenheit so handgreiflich empfunden. Eingeklemmt zwischen
den Zolllinien Frankreichs und des preußisch-hessischen Vereins, abgesperrt
von dem bairischen Hauptlande, lernte die Pfalz den Segen des freien
Verkehrs fast nur an den falschen Sechsern kennen, mit denen der Co-
burger Herzog von St. Wendel aus sie freundnachbarlich überschwemmte.
Der Absatz stockte; die Auswanderung nach dem gelobten Eldorado des
fernen Westens nahm hier noch bedenklicher überhand als in den anderen
Kleinstaaten des Südens, und die öffentliche Meinung, die vor der neuen
Erscheinung des Massen-Elends noch ganz hilflos stand, pries dies Ab-
strömen köstlicher nationaler Kräfte als ein wirksames sociales Heilmittel.
Die fröhlichen Pfälzer betrachteten ihre barschen, schwerfälligen altbairischen
Beamten immer noch als Fremde, obgleich die Verwaltung neuerdings
unter der Leitung des Präsidenten Stichaner etwas rühriger arbeitete; sie
lebten nach ihren französischen Gesetzen und hingen daran mit deutscher
Treue. Noch im Jahre 1799, als in Frankreich selbst der Idealismus
der Revolution sich längst verflüchtigt hatte, waren die Freiwilligen aus
der gebildeten pfälzischen Jugend frohlockend zum französischen Heere ge-
zogen um für die Freiheit gegen die Despoten zu kämpfen.

Was Wunder also, daß der neue Freiheitsruf der Pariser grade hier
ein schallendes Echo fand und die unzufriedenen Pfälzer mit den Radi-
calen im nahen Straßburg sogleich einen freundschaftlichen Verkehr an-
knüpften? Aber, so stark blieb immerhin die Stimme des Blutes in diesem
grunddeutschen Stamme, die förmliche Vereinigung mit Frankreich wünsch-
ten nur Wenige, etwa mit Ausnahme des Advokaten Savoye und des kleinen
Kreises seiner radicalen Freunde. Man fühlte doch, daß die ungeliebte
bairische Verwaltung milder verfuhr als die napoleonischen Präfecten, und
trug auch kein Verlangen nach wälsch redenden Beamten. Die Mehr-
zahl der Pfälzer schwärmte für ein einiges, freies Deutschland, das mit
dem freien Frankreich treu verbündet, ihnen den Druck der Binnenmauthen,
die Plackereien der Censur und der Polizei von den Schultern nehmen
sollte; in ihrer Harmlosigkeit legten sie sich kaum die Frage vor, um
welchen Preis die Freundschaft der Franzosen feil sei. Da dies Land
jedoch weder dynastische Anhänglichkeit noch irgendwelche Achtung vor dem
bairischen Staate hegte, so konnte die unklare Aufregung leicht mißleitet
werden.

Jedermann sah die Gefahr, nur nicht König Ludwig, der sein stolzes
Wort von "der Baiern Treue" nimmermehr anzweifeln ließ und am
wenigsten in der geliebten Wiege seines Geschlechts aufrührerische Ge-

Die Radicalen in der Pfalz.
Nemeſis und der Iſis, zum Feuerherde der deutſchen literariſchen Oppo-
ſition, obgleich dieſem Ländchen von Kleinbürgern und Kleinbauern ſchlechter-
dings Alles fehlte, was der politiſchen Preſſe Gehalt und Macht giebt.
Nur der tiefe Groll, der die liberalen Schriftſteller beſeelte, fand hierzu-
lande einen natürlichen Boden; denn nirgends ward der Jammer der
deutſchen Zerriſſenheit ſo handgreiflich empfunden. Eingeklemmt zwiſchen
den Zolllinien Frankreichs und des preußiſch-heſſiſchen Vereins, abgeſperrt
von dem bairiſchen Hauptlande, lernte die Pfalz den Segen des freien
Verkehrs faſt nur an den falſchen Sechſern kennen, mit denen der Co-
burger Herzog von St. Wendel aus ſie freundnachbarlich überſchwemmte.
Der Abſatz ſtockte; die Auswanderung nach dem gelobten Eldorado des
fernen Weſtens nahm hier noch bedenklicher überhand als in den anderen
Kleinſtaaten des Südens, und die öffentliche Meinung, die vor der neuen
Erſcheinung des Maſſen-Elends noch ganz hilflos ſtand, pries dies Ab-
ſtrömen köſtlicher nationaler Kräfte als ein wirkſames ſociales Heilmittel.
Die fröhlichen Pfälzer betrachteten ihre barſchen, ſchwerfälligen altbairiſchen
Beamten immer noch als Fremde, obgleich die Verwaltung neuerdings
unter der Leitung des Präſidenten Stichaner etwas rühriger arbeitete; ſie
lebten nach ihren franzöſiſchen Geſetzen und hingen daran mit deutſcher
Treue. Noch im Jahre 1799, als in Frankreich ſelbſt der Idealismus
der Revolution ſich längſt verflüchtigt hatte, waren die Freiwilligen aus
der gebildeten pfälziſchen Jugend frohlockend zum franzöſiſchen Heere ge-
zogen um für die Freiheit gegen die Despoten zu kämpfen.

Was Wunder alſo, daß der neue Freiheitsruf der Pariſer grade hier
ein ſchallendes Echo fand und die unzufriedenen Pfälzer mit den Radi-
calen im nahen Straßburg ſogleich einen freundſchaftlichen Verkehr an-
knüpften? Aber, ſo ſtark blieb immerhin die Stimme des Blutes in dieſem
grunddeutſchen Stamme, die förmliche Vereinigung mit Frankreich wünſch-
ten nur Wenige, etwa mit Ausnahme des Advokaten Savoye und des kleinen
Kreiſes ſeiner radicalen Freunde. Man fühlte doch, daß die ungeliebte
bairiſche Verwaltung milder verfuhr als die napoleoniſchen Präfecten, und
trug auch kein Verlangen nach wälſch redenden Beamten. Die Mehr-
zahl der Pfälzer ſchwärmte für ein einiges, freies Deutſchland, das mit
dem freien Frankreich treu verbündet, ihnen den Druck der Binnenmauthen,
die Plackereien der Cenſur und der Polizei von den Schultern nehmen
ſollte; in ihrer Harmloſigkeit legten ſie ſich kaum die Frage vor, um
welchen Preis die Freundſchaft der Franzoſen feil ſei. Da dies Land
jedoch weder dynaſtiſche Anhänglichkeit noch irgendwelche Achtung vor dem
bairiſchen Staate hegte, ſo konnte die unklare Aufregung leicht mißleitet
werden.

Jedermann ſah die Gefahr, nur nicht König Ludwig, der ſein ſtolzes
Wort von „der Baiern Treue“ nimmermehr anzweifeln ließ und am
wenigſten in der geliebten Wiege ſeines Geſchlechts aufrühreriſche Ge-

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[251/0265] Die Radicalen in der Pfalz. Nemeſis und der Iſis, zum Feuerherde der deutſchen literariſchen Oppo- ſition, obgleich dieſem Ländchen von Kleinbürgern und Kleinbauern ſchlechter- dings Alles fehlte, was der politiſchen Preſſe Gehalt und Macht giebt. Nur der tiefe Groll, der die liberalen Schriftſteller beſeelte, fand hierzu- lande einen natürlichen Boden; denn nirgends ward der Jammer der deutſchen Zerriſſenheit ſo handgreiflich empfunden. Eingeklemmt zwiſchen den Zolllinien Frankreichs und des preußiſch-heſſiſchen Vereins, abgeſperrt von dem bairiſchen Hauptlande, lernte die Pfalz den Segen des freien Verkehrs faſt nur an den falſchen Sechſern kennen, mit denen der Co- burger Herzog von St. Wendel aus ſie freundnachbarlich überſchwemmte. Der Abſatz ſtockte; die Auswanderung nach dem gelobten Eldorado des fernen Weſtens nahm hier noch bedenklicher überhand als in den anderen Kleinſtaaten des Südens, und die öffentliche Meinung, die vor der neuen Erſcheinung des Maſſen-Elends noch ganz hilflos ſtand, pries dies Ab- ſtrömen köſtlicher nationaler Kräfte als ein wirkſames ſociales Heilmittel. Die fröhlichen Pfälzer betrachteten ihre barſchen, ſchwerfälligen altbairiſchen Beamten immer noch als Fremde, obgleich die Verwaltung neuerdings unter der Leitung des Präſidenten Stichaner etwas rühriger arbeitete; ſie lebten nach ihren franzöſiſchen Geſetzen und hingen daran mit deutſcher Treue. Noch im Jahre 1799, als in Frankreich ſelbſt der Idealismus der Revolution ſich längſt verflüchtigt hatte, waren die Freiwilligen aus der gebildeten pfälziſchen Jugend frohlockend zum franzöſiſchen Heere ge- zogen um für die Freiheit gegen die Despoten zu kämpfen. Was Wunder alſo, daß der neue Freiheitsruf der Pariſer grade hier ein ſchallendes Echo fand und die unzufriedenen Pfälzer mit den Radi- calen im nahen Straßburg ſogleich einen freundſchaftlichen Verkehr an- knüpften? Aber, ſo ſtark blieb immerhin die Stimme des Blutes in dieſem grunddeutſchen Stamme, die förmliche Vereinigung mit Frankreich wünſch- ten nur Wenige, etwa mit Ausnahme des Advokaten Savoye und des kleinen Kreiſes ſeiner radicalen Freunde. Man fühlte doch, daß die ungeliebte bairiſche Verwaltung milder verfuhr als die napoleoniſchen Präfecten, und trug auch kein Verlangen nach wälſch redenden Beamten. Die Mehr- zahl der Pfälzer ſchwärmte für ein einiges, freies Deutſchland, das mit dem freien Frankreich treu verbündet, ihnen den Druck der Binnenmauthen, die Plackereien der Cenſur und der Polizei von den Schultern nehmen ſollte; in ihrer Harmloſigkeit legten ſie ſich kaum die Frage vor, um welchen Preis die Freundſchaft der Franzoſen feil ſei. Da dies Land jedoch weder dynaſtiſche Anhänglichkeit noch irgendwelche Achtung vor dem bairiſchen Staate hegte, ſo konnte die unklare Aufregung leicht mißleitet werden. Jedermann ſah die Gefahr, nur nicht König Ludwig, der ſein ſtolzes Wort von „der Baiern Treue“ nimmermehr anzweifeln ließ und am wenigſten in der geliebten Wiege ſeines Geſchlechts aufrühreriſche Ge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/265>, abgerufen am 24.11.2024.