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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland.
Der beherzte Mann wagte hier zum ersten male feierlich ein deutsches
Parlament zu fordern -- ein fruchtbarer Gedanke, der jetzt freilich, wie
alle neuen Ideen, noch in nebelhaft verschwommener Gestalt erschien, aber
fortan nicht mehr aus dem Leben der Nation verschwinden sollte. Welcker
verhehlte nicht, daß ihm die Freiheit weit näher am Herzen lag als die
Einheit der Nation; er fühlte sich tief gekränkt, wenn die französischen
Blätter von den deutschen Sklaven sprachen, die englischen mit ihrer
gewohnten Bescheidenheit unser Volk "das niederträchtigste und feigste" der
Erde nannten. Er erkannte den unversöhnlichen Widerspruch zwischen der
absolutistischen Centralgewalt des Bundes und den Landständen der Einzel-
staaten, den empörenden Unsinn einer Verfassung, welche der Nation
jede Einwirkung auf die Leitung ihres Gesammtstaates schlechthin versagte,
und zog aus Alledem den Schluß, daß eine aus den Mediatisirten und
aus erwählten Volksvertretern gebildete Zweite Kammer neben den Bundes-
tag treten müsse. An die Nothwendigkeit einer starken executiven Bundes-
gewalt dachte er noch nicht, am wenigsten an die Hegemonie Preußens,
das er vielmehr als einen halbfremden, fast feindlichen Staat ansah, seit
die Berliner Politik der Polenschwärmerei der badischen Liberalen ins
Gesicht schlug. Auch die böse Frage, wie der vielköpfige Bundestag neben
einem noch unbehilflicheren Reichstage bestehen solle, erregte dem ehrlichen
Schwärmer kein Bedenken. In seinem Parteieifer hatte er dem Antrage
noch einige völlig thörichte Vorschläge hinzugefügt; er meinte, der Unter-
schied zwischen den absoluten und den constitutionellen Staatsgewalten
sei heute weit größer als vormals der Gegensatz der kirchlichen Bekennt-
nisse, und verlangte daher, daß die Bundesgesandten der constitutionellen
Staaten, nach dem Vorbilde des alten Corpus Evangelicorum, eine ge-
schlossene Körperschaft bilden müßten, mit dem Rechte der gesonderten Ab-
stimmung, der itio in partes, falls über Verfassungsfragen verhandelt
würde! Zu solchen Ungeheuerlichkeiten verstieg sich die politische Unreife
der Zeit: jene unselige kirchliche Spaltung, welche so lange jede Thätig-
keit der Reichsgewalt gelähmt hatte, sollte jetzt, dem Vernunftrechte zu
Liebe, auf politischem Gebiete künstlich erneuert werden; und dieser Vor-
schlag kam aus dem Munde eines Apostels der deutschen Einheit.

Gleichwohl enthielt Welcker's Motion einen gesunden Kern. Die
Minister bewährten nur von Neuem ihre rathlose Schwäche, als sie jede
Verhandlung über den Antrag verweigerten und schließlich Mann für
Mann den Ständesaal verließen. Offenbar befürchtete Winter einen
gemeinsamen Sturmlauf der Landtage wider die Bundesverfassung; denn
zur selben Zeit beantragte Sylvester Jordan in Cassel -- sicherlich nach
Verabredung mit dem befreundeten Welcker -- Veröffentlichung der Bun-
desprotokolle und engere Verbündung der constitutionellen Staaten am
Bundestage. Jordan's Antrag blieb ohne ernste Folgen, weil die Hessen zur
Zeit durch ihre heimischen Nöthe genugsam beschäftigt waren. Den badischen

IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Der beherzte Mann wagte hier zum erſten male feierlich ein deutſches
Parlament zu fordern — ein fruchtbarer Gedanke, der jetzt freilich, wie
alle neuen Ideen, noch in nebelhaft verſchwommener Geſtalt erſchien, aber
fortan nicht mehr aus dem Leben der Nation verſchwinden ſollte. Welcker
verhehlte nicht, daß ihm die Freiheit weit näher am Herzen lag als die
Einheit der Nation; er fühlte ſich tief gekränkt, wenn die franzöſiſchen
Blätter von den deutſchen Sklaven ſprachen, die engliſchen mit ihrer
gewohnten Beſcheidenheit unſer Volk „das niederträchtigſte und feigſte“ der
Erde nannten. Er erkannte den unverſöhnlichen Widerſpruch zwiſchen der
abſolutiſtiſchen Centralgewalt des Bundes und den Landſtänden der Einzel-
ſtaaten, den empörenden Unſinn einer Verfaſſung, welche der Nation
jede Einwirkung auf die Leitung ihres Geſammtſtaates ſchlechthin verſagte,
und zog aus Alledem den Schluß, daß eine aus den Mediatiſirten und
aus erwählten Volksvertretern gebildete Zweite Kammer neben den Bundes-
tag treten müſſe. An die Nothwendigkeit einer ſtarken executiven Bundes-
gewalt dachte er noch nicht, am wenigſten an die Hegemonie Preußens,
das er vielmehr als einen halbfremden, faſt feindlichen Staat anſah, ſeit
die Berliner Politik der Polenſchwärmerei der badiſchen Liberalen ins
Geſicht ſchlug. Auch die böſe Frage, wie der vielköpfige Bundestag neben
einem noch unbehilflicheren Reichstage beſtehen ſolle, erregte dem ehrlichen
Schwärmer kein Bedenken. In ſeinem Parteieifer hatte er dem Antrage
noch einige völlig thörichte Vorſchläge hinzugefügt; er meinte, der Unter-
ſchied zwiſchen den abſoluten und den conſtitutionellen Staatsgewalten
ſei heute weit größer als vormals der Gegenſatz der kirchlichen Bekennt-
niſſe, und verlangte daher, daß die Bundesgeſandten der conſtitutionellen
Staaten, nach dem Vorbilde des alten Corpus Evangelicorum, eine ge-
ſchloſſene Körperſchaft bilden müßten, mit dem Rechte der geſonderten Ab-
ſtimmung, der itio in partes, falls über Verfaſſungsfragen verhandelt
würde! Zu ſolchen Ungeheuerlichkeiten verſtieg ſich die politiſche Unreife
der Zeit: jene unſelige kirchliche Spaltung, welche ſo lange jede Thätig-
keit der Reichsgewalt gelähmt hatte, ſollte jetzt, dem Vernunftrechte zu
Liebe, auf politiſchem Gebiete künſtlich erneuert werden; und dieſer Vor-
ſchlag kam aus dem Munde eines Apoſtels der deutſchen Einheit.

Gleichwohl enthielt Welcker’s Motion einen geſunden Kern. Die
Miniſter bewährten nur von Neuem ihre rathloſe Schwäche, als ſie jede
Verhandlung über den Antrag verweigerten und ſchließlich Mann für
Mann den Ständeſaal verließen. Offenbar befürchtete Winter einen
gemeinſamen Sturmlauf der Landtage wider die Bundesverfaſſung; denn
zur ſelben Zeit beantragte Sylveſter Jordan in Caſſel — ſicherlich nach
Verabredung mit dem befreundeten Welcker — Veröffentlichung der Bun-
desprotokolle und engere Verbündung der conſtitutionellen Staaten am
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Zeit durch ihre heimiſchen Nöthe genugſam beſchäftigt waren. Den badiſchen

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[236/0250] IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland. Der beherzte Mann wagte hier zum erſten male feierlich ein deutſches Parlament zu fordern — ein fruchtbarer Gedanke, der jetzt freilich, wie alle neuen Ideen, noch in nebelhaft verſchwommener Geſtalt erſchien, aber fortan nicht mehr aus dem Leben der Nation verſchwinden ſollte. Welcker verhehlte nicht, daß ihm die Freiheit weit näher am Herzen lag als die Einheit der Nation; er fühlte ſich tief gekränkt, wenn die franzöſiſchen Blätter von den deutſchen Sklaven ſprachen, die engliſchen mit ihrer gewohnten Beſcheidenheit unſer Volk „das niederträchtigſte und feigſte“ der Erde nannten. Er erkannte den unverſöhnlichen Widerſpruch zwiſchen der abſolutiſtiſchen Centralgewalt des Bundes und den Landſtänden der Einzel- ſtaaten, den empörenden Unſinn einer Verfaſſung, welche der Nation jede Einwirkung auf die Leitung ihres Geſammtſtaates ſchlechthin verſagte, und zog aus Alledem den Schluß, daß eine aus den Mediatiſirten und aus erwählten Volksvertretern gebildete Zweite Kammer neben den Bundes- tag treten müſſe. An die Nothwendigkeit einer ſtarken executiven Bundes- gewalt dachte er noch nicht, am wenigſten an die Hegemonie Preußens, das er vielmehr als einen halbfremden, faſt feindlichen Staat anſah, ſeit die Berliner Politik der Polenſchwärmerei der badiſchen Liberalen ins Geſicht ſchlug. Auch die böſe Frage, wie der vielköpfige Bundestag neben einem noch unbehilflicheren Reichstage beſtehen ſolle, erregte dem ehrlichen Schwärmer kein Bedenken. In ſeinem Parteieifer hatte er dem Antrage noch einige völlig thörichte Vorſchläge hinzugefügt; er meinte, der Unter- ſchied zwiſchen den abſoluten und den conſtitutionellen Staatsgewalten ſei heute weit größer als vormals der Gegenſatz der kirchlichen Bekennt- niſſe, und verlangte daher, daß die Bundesgeſandten der conſtitutionellen Staaten, nach dem Vorbilde des alten Corpus Evangelicorum, eine ge- ſchloſſene Körperſchaft bilden müßten, mit dem Rechte der geſonderten Ab- ſtimmung, der itio in partes, falls über Verfaſſungsfragen verhandelt würde! Zu ſolchen Ungeheuerlichkeiten verſtieg ſich die politiſche Unreife der Zeit: jene unſelige kirchliche Spaltung, welche ſo lange jede Thätig- keit der Reichsgewalt gelähmt hatte, ſollte jetzt, dem Vernunftrechte zu Liebe, auf politiſchem Gebiete künſtlich erneuert werden; und dieſer Vor- ſchlag kam aus dem Munde eines Apoſtels der deutſchen Einheit. Gleichwohl enthielt Welcker’s Motion einen geſunden Kern. Die Miniſter bewährten nur von Neuem ihre rathloſe Schwäche, als ſie jede Verhandlung über den Antrag verweigerten und ſchließlich Mann für Mann den Ständeſaal verließen. Offenbar befürchtete Winter einen gemeinſamen Sturmlauf der Landtage wider die Bundesverfaſſung; denn zur ſelben Zeit beantragte Sylveſter Jordan in Caſſel — ſicherlich nach Verabredung mit dem befreundeten Welcker — Veröffentlichung der Bun- desprotokolle und engere Verbündung der conſtitutionellen Staaten am Bundestage. Jordan’s Antrag blieb ohne ernſte Folgen, weil die Heſſen zur Zeit durch ihre heimiſchen Nöthe genugſam beſchäftigt waren. Den badiſchen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/250>, abgerufen am 24.11.2024.