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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Vierter Abschnitt.

Landtage und Feste in Oberdeutschland.

Die Nachwirkung der Pariser Ereignisse zeigte sich im deutschen
Süden etwas später als in den kleinen Staaten des Nordens, dann
freilich um so stärker. Volksbewegungen gegen die altständische Gesell-
schaftsordnung fanden hier, wo längst moderne Verfassungen bestanden,
keinen Boden. Im Spätjahr 1830 blieb noch Alles leidlich still, nur
Darmstadt wurde durch die kurhessische Nachbarschaft in die mitteldeutschen
Unruhen verwickelt. Der greise Großherzog Ludwig war im April 1830
verschieden. Ihm folgte Ludwig II., ein wohlwollender, ehrenhafter Herr,
nicht ganz unbegabt, aber weder thätig noch selbständig; er stand bereits
in den fünfziger Jahren und hatte Zeit genug gehabt, mit Hilfe seiner
badischen Gemahlin, einer geistreichen, stolzen, für größere Verhältnisse
geschaffenen Fürstin, bedeutende Schulden anzusammeln, die unter Amschel
Rothschild's sorgsamer Pflege schon auf 2 Mill. Gulden angeschwollen
waren -- eine ansehnliche Summe für ein Ländchen von 700000 Ein-
wohnern. Als tüchtiger Finanzmann bestand nun Minister du Thil
darauf, daß diese unerfreulichen Verhältnisse des fürstlichen Hauses dem
Landtage enthüllt wurden; er verlangte von den Kammern entweder Er-
höhung der Civilliste oder Uebernahme der Schulden auf den Staats-
haushalt.

Im Landtage wurde diese allerdings starke Forderung sehr unfreund-
lich aufgenommen. Ueberall in den Kleinstaaten hatte sich schon das
Märchen von der Wohlfeilheit republikanischer Regierungen verbreitet. Jedes
Zeitungsblatt beneidete die Vereinigten Staaten um den bescheidenen Gehalt,
der ihrem Präsidenten genügen mußte, und Niemand bedachte, daß die
Kosten einer einzigen Präsidentenwahl, die freilich in den Staatsrechnungen
Nordamerikas nicht aufgezählt wurden, sich weit höher stellten als alle
deutschen Civillisten insgesammt. Wohlfeiles Regiment nach republika-
nischem Muster war das allgemeine Feldgeschrei. Ernst Emil Hoffmann,
der jetzt in der Kammer das große Wort führte, wusch die schwarze
Wäsche des fürstlichen Hauses mit demagogischer Schadenfreude, und nach
langen, höchst unehrerbietigen Verhandlungen wurden die Forderungen

Vierter Abſchnitt.

Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.

Die Nachwirkung der Pariſer Ereigniſſe zeigte ſich im deutſchen
Süden etwas ſpäter als in den kleinen Staaten des Nordens, dann
freilich um ſo ſtärker. Volksbewegungen gegen die altſtändiſche Geſell-
ſchaftsordnung fanden hier, wo längſt moderne Verfaſſungen beſtanden,
keinen Boden. Im Spätjahr 1830 blieb noch Alles leidlich ſtill, nur
Darmſtadt wurde durch die kurheſſiſche Nachbarſchaft in die mitteldeutſchen
Unruhen verwickelt. Der greiſe Großherzog Ludwig war im April 1830
verſchieden. Ihm folgte Ludwig II., ein wohlwollender, ehrenhafter Herr,
nicht ganz unbegabt, aber weder thätig noch ſelbſtändig; er ſtand bereits
in den fünfziger Jahren und hatte Zeit genug gehabt, mit Hilfe ſeiner
badiſchen Gemahlin, einer geiſtreichen, ſtolzen, für größere Verhältniſſe
geſchaffenen Fürſtin, bedeutende Schulden anzuſammeln, die unter Amſchel
Rothſchild’s ſorgſamer Pflege ſchon auf 2 Mill. Gulden angeſchwollen
waren — eine anſehnliche Summe für ein Ländchen von 700000 Ein-
wohnern. Als tüchtiger Finanzmann beſtand nun Miniſter du Thil
darauf, daß dieſe unerfreulichen Verhältniſſe des fürſtlichen Hauſes dem
Landtage enthüllt wurden; er verlangte von den Kammern entweder Er-
höhung der Civilliſte oder Uebernahme der Schulden auf den Staats-
haushalt.

Im Landtage wurde dieſe allerdings ſtarke Forderung ſehr unfreund-
lich aufgenommen. Ueberall in den Kleinſtaaten hatte ſich ſchon das
Märchen von der Wohlfeilheit republikaniſcher Regierungen verbreitet. Jedes
Zeitungsblatt beneidete die Vereinigten Staaten um den beſcheidenen Gehalt,
der ihrem Präſidenten genügen mußte, und Niemand bedachte, daß die
Koſten einer einzigen Präſidentenwahl, die freilich in den Staatsrechnungen
Nordamerikas nicht aufgezählt wurden, ſich weit höher ſtellten als alle
deutſchen Civilliſten insgeſammt. Wohlfeiles Regiment nach republika-
niſchem Muſter war das allgemeine Feldgeſchrei. Ernſt Emil Hoffmann,
der jetzt in der Kammer das große Wort führte, wuſch die ſchwarze
Wäſche des fürſtlichen Hauſes mit demagogiſcher Schadenfreude, und nach
langen, höchſt unehrerbietigen Verhandlungen wurden die Forderungen

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[[221]/0235] Vierter Abſchnitt. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland. Die Nachwirkung der Pariſer Ereigniſſe zeigte ſich im deutſchen Süden etwas ſpäter als in den kleinen Staaten des Nordens, dann freilich um ſo ſtärker. Volksbewegungen gegen die altſtändiſche Geſell- ſchaftsordnung fanden hier, wo längſt moderne Verfaſſungen beſtanden, keinen Boden. Im Spätjahr 1830 blieb noch Alles leidlich ſtill, nur Darmſtadt wurde durch die kurheſſiſche Nachbarſchaft in die mitteldeutſchen Unruhen verwickelt. Der greiſe Großherzog Ludwig war im April 1830 verſchieden. Ihm folgte Ludwig II., ein wohlwollender, ehrenhafter Herr, nicht ganz unbegabt, aber weder thätig noch ſelbſtändig; er ſtand bereits in den fünfziger Jahren und hatte Zeit genug gehabt, mit Hilfe ſeiner badiſchen Gemahlin, einer geiſtreichen, ſtolzen, für größere Verhältniſſe geſchaffenen Fürſtin, bedeutende Schulden anzuſammeln, die unter Amſchel Rothſchild’s ſorgſamer Pflege ſchon auf 2 Mill. Gulden angeſchwollen waren — eine anſehnliche Summe für ein Ländchen von 700000 Ein- wohnern. Als tüchtiger Finanzmann beſtand nun Miniſter du Thil darauf, daß dieſe unerfreulichen Verhältniſſe des fürſtlichen Hauſes dem Landtage enthüllt wurden; er verlangte von den Kammern entweder Er- höhung der Civilliſte oder Uebernahme der Schulden auf den Staats- haushalt. Im Landtage wurde dieſe allerdings ſtarke Forderung ſehr unfreund- lich aufgenommen. Ueberall in den Kleinſtaaten hatte ſich ſchon das Märchen von der Wohlfeilheit republikaniſcher Regierungen verbreitet. Jedes Zeitungsblatt beneidete die Vereinigten Staaten um den beſcheidenen Gehalt, der ihrem Präſidenten genügen mußte, und Niemand bedachte, daß die Koſten einer einzigen Präſidentenwahl, die freilich in den Staatsrechnungen Nordamerikas nicht aufgezählt wurden, ſich weit höher ſtellten als alle deutſchen Civilliſten insgeſammt. Wohlfeiles Regiment nach republika- niſchem Muſter war das allgemeine Feldgeſchrei. Ernſt Emil Hoffmann, der jetzt in der Kammer das große Wort führte, wuſch die ſchwarze Wäſche des fürſtlichen Hauſes mit demagogiſcher Schadenfreude, und nach langen, höchſt unehrerbietigen Verhandlungen wurden die Forderungen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [221]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/235>, abgerufen am 19.11.2024.