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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 3. Preußens Mittelstellung.
willen seinen polnischen Besitz behaupten; doch eine neue Theilung Polens
könne er nicht wünschen, denn "die Verhältnisse der Polen zu den Deutschen
haben sich sehr verbittert seit jener Zeit vor sechsunddreißig Jahren; sie
sind unfähig durch eine sanfte und gerechte Regierung wie die unsrige sich
leiten zu lassen".*) Den Westmächten gegenüber schlug Preußen wie
Oesterreich einen stolz abweisenden Ton an. Als Sebastiani die Cholera-
Gefahr zum Vorwande nahm, um darauf hin die Beendigung des Krieges
zu verlangen, als Palmerston sich erdreistete die deutschen Mächte an
Vattel's Völkerrecht und die Pflichten der Neutralen zu erinnern, da er-
widerte Metternich höhnisch: es fehle grade noch zur Vollendung der all-
gemeinen Auflösung, daß die englischen Minister sich zu Professoren des
Völkerrechts aufwürfen, und Ancillon erklärte dem Grafen Flahault, mit
ausdrücklicher Genehmigung des Königs, rundweg: zunächst müßten die
Polen sich unterwerfen, dann erst könne von Zugeständnissen gesprochen
werden.**)

Die treuen Deutschen an der Grenze dankten dem Könige aufrichtig
für seine entschlossene Haltung. Sie standen den Dingen nahe genug um
die ungeheuere Verlogenheit der aus Warschau verbreiteten Kriegsberichte
zu würdigen; sie wußten, daß der Kampf in Polen keineswegs ungleich
war, da die geringe Ueberzahl der Russen durch die wohlgesicherte Stellung
der Polen an der Weichsellinie reichlich ausgeglichen wurde. Sie konnten
nur mit Lächeln das an allen Läden ausgehängte Bild "der letzten Zehn
vom vierten Regiment", die nach ununterbrochenem Bajonettkampfe den
Russen entronnen sein sollten, und die schwülstigen Verse Julius Mosen's
darunter betrachten; denn sie hatten mit eigenen Augen gesehen, wie die
heldenmüthigen "letzten Zehn", noch 1800 Köpfe stark, bei Strasburg
über die Grenze flüchteten, und das gesammte vierte Regiment vor einer
Handvoll Preußen ohne Widerstand die Waffen streckte. In Berlin
aber und den entfernteren Provinzen begann die von Jahn gebrand-
markte deutsche Fremdbrüderlichkeit bald hohe Wellen zu schlagen. Nicht
zufällig hatte einst Rousseau unmittelbar vor der ersten Theilung die un-
vergleichliche Freiheit der Polen verherrlicht. Ein Gefühl der Wahlver-
wandtschaft verband den modernen Radicalismus mit der sarmatischen
Adels-Anarchie; dazu der Russenhaß und die zauberische Macht der Pariser
Zeitungsphrase. Eine polenfreundliche Literatur schoß ins Kraut, deren
Anmaßung nur durch ihre Unwissenheit überboten ward; durch diese
Polenschwärmer gerieth Preußen, das im Herbst 1830 von den Liberalen
nicht ohne Achtung behandelt wurde, zuerst wieder in Verruf. Da war
vor Allen der aufgeklärte Spazier, der alte Lästerer Goethe's, dann die

*) Gneisenau an Bernstorff, 21. Juli 1831.
**) Sebastiani, Weisung an Mortemart, 15. Mai; Palmerston, Weisung an
Cowley, 19. Juni; Metternich, Weisung an Esterhazy, 6. Juli; Ancillon, Bericht an
den König, mit dessen Randbemerkungen 26. Juli 1831.

IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
willen ſeinen polniſchen Beſitz behaupten; doch eine neue Theilung Polens
könne er nicht wünſchen, denn „die Verhältniſſe der Polen zu den Deutſchen
haben ſich ſehr verbittert ſeit jener Zeit vor ſechsunddreißig Jahren; ſie
ſind unfähig durch eine ſanfte und gerechte Regierung wie die unſrige ſich
leiten zu laſſen“.*) Den Weſtmächten gegenüber ſchlug Preußen wie
Oeſterreich einen ſtolz abweiſenden Ton an. Als Sebaſtiani die Cholera-
Gefahr zum Vorwande nahm, um darauf hin die Beendigung des Krieges
zu verlangen, als Palmerſton ſich erdreiſtete die deutſchen Mächte an
Vattel’s Völkerrecht und die Pflichten der Neutralen zu erinnern, da er-
widerte Metternich höhniſch: es fehle grade noch zur Vollendung der all-
gemeinen Auflöſung, daß die engliſchen Miniſter ſich zu Profeſſoren des
Völkerrechts aufwürfen, und Ancillon erklärte dem Grafen Flahault, mit
ausdrücklicher Genehmigung des Königs, rundweg: zunächſt müßten die
Polen ſich unterwerfen, dann erſt könne von Zugeſtändniſſen geſprochen
werden.**)

Die treuen Deutſchen an der Grenze dankten dem Könige aufrichtig
für ſeine entſchloſſene Haltung. Sie ſtanden den Dingen nahe genug um
die ungeheuere Verlogenheit der aus Warſchau verbreiteten Kriegsberichte
zu würdigen; ſie wußten, daß der Kampf in Polen keineswegs ungleich
war, da die geringe Ueberzahl der Ruſſen durch die wohlgeſicherte Stellung
der Polen an der Weichſellinie reichlich ausgeglichen wurde. Sie konnten
nur mit Lächeln das an allen Läden ausgehängte Bild „der letzten Zehn
vom vierten Regiment“, die nach ununterbrochenem Bajonettkampfe den
Ruſſen entronnen ſein ſollten, und die ſchwülſtigen Verſe Julius Moſen’s
darunter betrachten; denn ſie hatten mit eigenen Augen geſehen, wie die
heldenmüthigen „letzten Zehn“, noch 1800 Köpfe ſtark, bei Strasburg
über die Grenze flüchteten, und das geſammte vierte Regiment vor einer
Handvoll Preußen ohne Widerſtand die Waffen ſtreckte. In Berlin
aber und den entfernteren Provinzen begann die von Jahn gebrand-
markte deutſche Fremdbrüderlichkeit bald hohe Wellen zu ſchlagen. Nicht
zufällig hatte einſt Rouſſeau unmittelbar vor der erſten Theilung die un-
vergleichliche Freiheit der Polen verherrlicht. Ein Gefühl der Wahlver-
wandtſchaft verband den modernen Radicalismus mit der ſarmatiſchen
Adels-Anarchie; dazu der Ruſſenhaß und die zauberiſche Macht der Pariſer
Zeitungsphraſe. Eine polenfreundliche Literatur ſchoß ins Kraut, deren
Anmaßung nur durch ihre Unwiſſenheit überboten ward; durch dieſe
Polenſchwärmer gerieth Preußen, das im Herbſt 1830 von den Liberalen
nicht ohne Achtung behandelt wurde, zuerſt wieder in Verruf. Da war
vor Allen der aufgeklärte Spazier, der alte Läſterer Goethe’s, dann die

*) Gneiſenau an Bernſtorff, 21. Juli 1831.
**) Sebaſtiani, Weiſung an Mortemart, 15. Mai; Palmerſton, Weiſung an
Cowley, 19. Juni; Metternich, Weiſung an Eſterhazy, 6. Juli; Ancillon, Bericht an
den König, mit deſſen Randbemerkungen 26. Juli 1831.
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[206/0220] IV. 3. Preußens Mittelſtellung. willen ſeinen polniſchen Beſitz behaupten; doch eine neue Theilung Polens könne er nicht wünſchen, denn „die Verhältniſſe der Polen zu den Deutſchen haben ſich ſehr verbittert ſeit jener Zeit vor ſechsunddreißig Jahren; ſie ſind unfähig durch eine ſanfte und gerechte Regierung wie die unſrige ſich leiten zu laſſen“. *) Den Weſtmächten gegenüber ſchlug Preußen wie Oeſterreich einen ſtolz abweiſenden Ton an. Als Sebaſtiani die Cholera- Gefahr zum Vorwande nahm, um darauf hin die Beendigung des Krieges zu verlangen, als Palmerſton ſich erdreiſtete die deutſchen Mächte an Vattel’s Völkerrecht und die Pflichten der Neutralen zu erinnern, da er- widerte Metternich höhniſch: es fehle grade noch zur Vollendung der all- gemeinen Auflöſung, daß die engliſchen Miniſter ſich zu Profeſſoren des Völkerrechts aufwürfen, und Ancillon erklärte dem Grafen Flahault, mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs, rundweg: zunächſt müßten die Polen ſich unterwerfen, dann erſt könne von Zugeſtändniſſen geſprochen werden. **) Die treuen Deutſchen an der Grenze dankten dem Könige aufrichtig für ſeine entſchloſſene Haltung. Sie ſtanden den Dingen nahe genug um die ungeheuere Verlogenheit der aus Warſchau verbreiteten Kriegsberichte zu würdigen; ſie wußten, daß der Kampf in Polen keineswegs ungleich war, da die geringe Ueberzahl der Ruſſen durch die wohlgeſicherte Stellung der Polen an der Weichſellinie reichlich ausgeglichen wurde. Sie konnten nur mit Lächeln das an allen Läden ausgehängte Bild „der letzten Zehn vom vierten Regiment“, die nach ununterbrochenem Bajonettkampfe den Ruſſen entronnen ſein ſollten, und die ſchwülſtigen Verſe Julius Moſen’s darunter betrachten; denn ſie hatten mit eigenen Augen geſehen, wie die heldenmüthigen „letzten Zehn“, noch 1800 Köpfe ſtark, bei Strasburg über die Grenze flüchteten, und das geſammte vierte Regiment vor einer Handvoll Preußen ohne Widerſtand die Waffen ſtreckte. In Berlin aber und den entfernteren Provinzen begann die von Jahn gebrand- markte deutſche Fremdbrüderlichkeit bald hohe Wellen zu ſchlagen. Nicht zufällig hatte einſt Rouſſeau unmittelbar vor der erſten Theilung die un- vergleichliche Freiheit der Polen verherrlicht. Ein Gefühl der Wahlver- wandtſchaft verband den modernen Radicalismus mit der ſarmatiſchen Adels-Anarchie; dazu der Ruſſenhaß und die zauberiſche Macht der Pariſer Zeitungsphraſe. Eine polenfreundliche Literatur ſchoß ins Kraut, deren Anmaßung nur durch ihre Unwiſſenheit überboten ward; durch dieſe Polenſchwärmer gerieth Preußen, das im Herbſt 1830 von den Liberalen nicht ohne Achtung behandelt wurde, zuerſt wieder in Verruf. Da war vor Allen der aufgeklärte Spazier, der alte Läſterer Goethe’s, dann die *) Gneiſenau an Bernſtorff, 21. Juli 1831. **) Sebaſtiani, Weiſung an Mortemart, 15. Mai; Palmerſton, Weiſung an Cowley, 19. Juni; Metternich, Weiſung an Eſterhazy, 6. Juli; Ancillon, Bericht an den König, mit deſſen Randbemerkungen 26. Juli 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/220>, abgerufen am 27.11.2024.