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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 3. Preußens Mittelstellung.
erinnerte an den Fridericianischen Wahlspruch, den die Offiziere der
Grenadierregimenter noch auf den Klingen ihrer Degen trugen: Ne me
tirez sans raison, ne me remettez sans honneur.
Ein glückliches
Gleichmaß von kriegerischer Thatkraft und klarer Besonnenheit sprach
aus dem ritterlichen Anstand dieser hohen Gestalt, aus diesen offenen
Zügen und den freundlich ernsten Augen. Im Dienste bemerkte er jeden
falschen Griff, jedes kleine Versehen, und oft sprach er aus, daß grade
dies Volk in Waffen jeden Einzelnen ununterbrochen und peinlich streng
ausbilden müsse, damit der Wehrmann, wenn er nach Jahren zur Fahne
zurückkehre, all sein Können noch gegenwärtig habe und sich sogleich wieder
zurechtfinde. Durch seinen Vater, der die militärische Begabung dieses
Sohnes bald erkannte, war er schon im Knabenalter, gründlicher als
der Kronprinz, über alle Reformen des Heerwesens unterrichtet worden;
und fortan blieb er von der Größe der organisatorischen Gedanken Scharn-
horst's, von der sittlichen Ueberlegenheit des preußischen Volksheeres tief
überzeugt. Lebhaft äußerte sich sein Unmuth, als in diesen Jahren
Johannes Voigt und einige andere durch Schön beeinflußte ostpreußische
Schriftsteller versuchten, dem Vater der Landwehr seinen Ruhm zu ver-
kürzen. Dem alten Boyen als dem Erben Scharnhorst's erwies er auch
in den Zeiten seiner Ungnade dankbare Verehrung, und immer wählte
er mit sicherer Menschenkenntniß die fähigsten Offiziere sich zu Freunden
aus, so unter den älteren General Brause, seinen geliebten Lehrer, und
General Natzmer, unter den jüngeren General Röder und seinen lang-
jährigen Generalstabschef Oberst Reyher. Mit ihnen besprach er sich über
die Einzelheiten des Dienstes wie über die Fragen der Heeresverfassung
und der Strategie. Sein Ideal war die Kriegführung großen Stiles
nach Scharnhorst's Worten: getrennt marschiren, vereinigt schlagen. Die
Infanterie nannte er die Hauptwaffe der modernen Heere, auch die lehr-
reichste für den Führer, weil sie jede Gestaltung des Bodens benutzen
könne und darum dem Nachdenken immer neue Aufgaben stelle.

Die Liberalen draußen im Reich kannten den Prinzen kaum oder
hielten ihn für einen glänzenden Paradesoldaten. Seine Freunde wußten,
daß die ernste Gewissenhaftigkeit seiner militärischen Arbeiten mit seiner
Anschauung von Preußens Berufe unzertrennlich zusammenhing. Feu-
riger, bestimmter als irgend einer der zeitgenössischen Staatsmänner, viel-
leicht den einen Motz ausgenommen, hatte er schon während der letzten
stillen Jahre beständig die Meinung vertreten, daß diesem Staate vor
Allem Macht noth thue, Macht weit mehr als Freiheit. Immer und immer
hoffte er auf Krieg, wahrhaftig nicht um des rohen Schlagens willen,
sondern weil er fühlte, daß Preußen wachsen, seine schlummernden Kräfte
bethätigen müsse. Schon sechs Jahre nach dem Kriege, in einer Zeit da
das Volk sich noch kaum von seinen Wunden erholt hatte, klagte er bitter
über die erschlaffende Wirkung des langen Friedens: "Man sehe unseren

IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
erinnerte an den Fridericianiſchen Wahlſpruch, den die Offiziere der
Grenadierregimenter noch auf den Klingen ihrer Degen trugen: Ne me
tirez sans raison, ne me remettez sans honneur.
Ein glückliches
Gleichmaß von kriegeriſcher Thatkraft und klarer Beſonnenheit ſprach
aus dem ritterlichen Anſtand dieſer hohen Geſtalt, aus dieſen offenen
Zügen und den freundlich ernſten Augen. Im Dienſte bemerkte er jeden
falſchen Griff, jedes kleine Verſehen, und oft ſprach er aus, daß grade
dies Volk in Waffen jeden Einzelnen ununterbrochen und peinlich ſtreng
ausbilden müſſe, damit der Wehrmann, wenn er nach Jahren zur Fahne
zurückkehre, all ſein Können noch gegenwärtig habe und ſich ſogleich wieder
zurechtfinde. Durch ſeinen Vater, der die militäriſche Begabung dieſes
Sohnes bald erkannte, war er ſchon im Knabenalter, gründlicher als
der Kronprinz, über alle Reformen des Heerweſens unterrichtet worden;
und fortan blieb er von der Größe der organiſatoriſchen Gedanken Scharn-
horſt’s, von der ſittlichen Ueberlegenheit des preußiſchen Volksheeres tief
überzeugt. Lebhaft äußerte ſich ſein Unmuth, als in dieſen Jahren
Johannes Voigt und einige andere durch Schön beeinflußte oſtpreußiſche
Schriftſteller verſuchten, dem Vater der Landwehr ſeinen Ruhm zu ver-
kürzen. Dem alten Boyen als dem Erben Scharnhorſt’s erwies er auch
in den Zeiten ſeiner Ungnade dankbare Verehrung, und immer wählte
er mit ſicherer Menſchenkenntniß die fähigſten Offiziere ſich zu Freunden
aus, ſo unter den älteren General Brauſe, ſeinen geliebten Lehrer, und
General Natzmer, unter den jüngeren General Röder und ſeinen lang-
jährigen Generalſtabschef Oberſt Reyher. Mit ihnen beſprach er ſich über
die Einzelheiten des Dienſtes wie über die Fragen der Heeresverfaſſung
und der Strategie. Sein Ideal war die Kriegführung großen Stiles
nach Scharnhorſt’s Worten: getrennt marſchiren, vereinigt ſchlagen. Die
Infanterie nannte er die Hauptwaffe der modernen Heere, auch die lehr-
reichſte für den Führer, weil ſie jede Geſtaltung des Bodens benutzen
könne und darum dem Nachdenken immer neue Aufgaben ſtelle.

Die Liberalen draußen im Reich kannten den Prinzen kaum oder
hielten ihn für einen glänzenden Paradeſoldaten. Seine Freunde wußten,
daß die ernſte Gewiſſenhaftigkeit ſeiner militäriſchen Arbeiten mit ſeiner
Anſchauung von Preußens Berufe unzertrennlich zuſammenhing. Feu-
riger, beſtimmter als irgend einer der zeitgenöſſiſchen Staatsmänner, viel-
leicht den einen Motz ausgenommen, hatte er ſchon während der letzten
ſtillen Jahre beſtändig die Meinung vertreten, daß dieſem Staate vor
Allem Macht noth thue, Macht weit mehr als Freiheit. Immer und immer
hoffte er auf Krieg, wahrhaftig nicht um des rohen Schlagens willen,
ſondern weil er fühlte, daß Preußen wachſen, ſeine ſchlummernden Kräfte
bethätigen müſſe. Schon ſechs Jahre nach dem Kriege, in einer Zeit da
das Volk ſich noch kaum von ſeinen Wunden erholt hatte, klagte er bitter
über die erſchlaffende Wirkung des langen Friedens: „Man ſehe unſeren

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[198/0212] IV. 3. Preußens Mittelſtellung. erinnerte an den Fridericianiſchen Wahlſpruch, den die Offiziere der Grenadierregimenter noch auf den Klingen ihrer Degen trugen: Ne me tirez sans raison, ne me remettez sans honneur. Ein glückliches Gleichmaß von kriegeriſcher Thatkraft und klarer Beſonnenheit ſprach aus dem ritterlichen Anſtand dieſer hohen Geſtalt, aus dieſen offenen Zügen und den freundlich ernſten Augen. Im Dienſte bemerkte er jeden falſchen Griff, jedes kleine Verſehen, und oft ſprach er aus, daß grade dies Volk in Waffen jeden Einzelnen ununterbrochen und peinlich ſtreng ausbilden müſſe, damit der Wehrmann, wenn er nach Jahren zur Fahne zurückkehre, all ſein Können noch gegenwärtig habe und ſich ſogleich wieder zurechtfinde. Durch ſeinen Vater, der die militäriſche Begabung dieſes Sohnes bald erkannte, war er ſchon im Knabenalter, gründlicher als der Kronprinz, über alle Reformen des Heerweſens unterrichtet worden; und fortan blieb er von der Größe der organiſatoriſchen Gedanken Scharn- horſt’s, von der ſittlichen Ueberlegenheit des preußiſchen Volksheeres tief überzeugt. Lebhaft äußerte ſich ſein Unmuth, als in dieſen Jahren Johannes Voigt und einige andere durch Schön beeinflußte oſtpreußiſche Schriftſteller verſuchten, dem Vater der Landwehr ſeinen Ruhm zu ver- kürzen. Dem alten Boyen als dem Erben Scharnhorſt’s erwies er auch in den Zeiten ſeiner Ungnade dankbare Verehrung, und immer wählte er mit ſicherer Menſchenkenntniß die fähigſten Offiziere ſich zu Freunden aus, ſo unter den älteren General Brauſe, ſeinen geliebten Lehrer, und General Natzmer, unter den jüngeren General Röder und ſeinen lang- jährigen Generalſtabschef Oberſt Reyher. Mit ihnen beſprach er ſich über die Einzelheiten des Dienſtes wie über die Fragen der Heeresverfaſſung und der Strategie. Sein Ideal war die Kriegführung großen Stiles nach Scharnhorſt’s Worten: getrennt marſchiren, vereinigt ſchlagen. Die Infanterie nannte er die Hauptwaffe der modernen Heere, auch die lehr- reichſte für den Führer, weil ſie jede Geſtaltung des Bodens benutzen könne und darum dem Nachdenken immer neue Aufgaben ſtelle. Die Liberalen draußen im Reich kannten den Prinzen kaum oder hielten ihn für einen glänzenden Paradeſoldaten. Seine Freunde wußten, daß die ernſte Gewiſſenhaftigkeit ſeiner militäriſchen Arbeiten mit ſeiner Anſchauung von Preußens Berufe unzertrennlich zuſammenhing. Feu- riger, beſtimmter als irgend einer der zeitgenöſſiſchen Staatsmänner, viel- leicht den einen Motz ausgenommen, hatte er ſchon während der letzten ſtillen Jahre beſtändig die Meinung vertreten, daß dieſem Staate vor Allem Macht noth thue, Macht weit mehr als Freiheit. Immer und immer hoffte er auf Krieg, wahrhaftig nicht um des rohen Schlagens willen, ſondern weil er fühlte, daß Preußen wachſen, ſeine ſchlummernden Kräfte bethätigen müſſe. Schon ſechs Jahre nach dem Kriege, in einer Zeit da das Volk ſich noch kaum von ſeinen Wunden erholt hatte, klagte er bitter über die erſchlaffende Wirkung des langen Friedens: „Man ſehe unſeren

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/212>, abgerufen am 27.11.2024.