IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
Abdruck der beiden Verfassungsurkunden. Die Kurhessen gedachten indessen bereits wehmüthig der Erzählung Hippel's von den "Lebensläufen in ab- steigender Linie"; sie fanden, im Hause Brabant gerathe der Sohn immer noch schlechter als der Vater, und Mancher sehnte sich schon nach dem alten Kurfürsten zurück. Der aber betrat seine Hauptstadt niemals wieder, sondern lebte als Privatmann bald in den Schlössern am Main, bald in Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte sofort den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und kränkte seine Casseler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr befahl ihre Schnurrbärte abzuschneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan zu schwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der Person und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Hessen das unbe- schränkte Eigenthum an seinem Barthaare, und die eidvergessenen Minister mußten wegen Verfassungsbruchs angeklagt werden!
Zum Unheil des Landes starb Minister Wiederhold schon im Februar 1832, der einzige Mann, dessen Stimme zugleich am Hofe und im Land- tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Hassenpflug in den Minister- rath ein, der Sohn des Vaters, und sprach sofort die Absicht aus "die Strömung wieder in das verlassene Bette des Gehorsams zurückzu- dämmen". Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver- fassung. Vorderhand trug Kurhessen aus so vielen Erschütterungen nur drei werthvolle politische Güter davon: die Theilung des Landesvermögens, die rechtlich gesicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande kam und, weil sie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte, auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das preußische Zollwesen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen hinaus um das neue Zollhaus wie einst das alte zu stürmen, doch dies- mal begegneten sie entschlossener Abwehr. Auch die anderen Landestheile fügten sich anfangs nur ungern; die Gassenbuben verhöhnten "den Preuß" im Zollhause:
Er ist geschnüret wie ein Weib, Die Sonne scheint ihm durch den Leib.
Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutschen Marktes. Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß seine wirthschaftlichen Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langsam wieder erstarkten. --
In Hessen wie in Braunschweig richtete sich der Aufruhr gradeswegs gegen die Willkür pflichtvergessener Fürsten. Im Königreich Sachsen brach eine wohlwollende, aber altersschwache und völlig entgeistete Regierung haltlos zusammen vor den ersten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks- bewegung, welche ohne ein politisches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth
IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Abdruck der beiden Verfaſſungsurkunden. Die Kurheſſen gedachten indeſſen bereits wehmüthig der Erzählung Hippel’s von den „Lebensläufen in ab- ſteigender Linie“; ſie fanden, im Hauſe Brabant gerathe der Sohn immer noch ſchlechter als der Vater, und Mancher ſehnte ſich ſchon nach dem alten Kurfürſten zurück. Der aber betrat ſeine Hauptſtadt niemals wieder, ſondern lebte als Privatmann bald in den Schlöſſern am Main, bald in Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte ſofort den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und kränkte ſeine Caſſeler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr befahl ihre Schnurrbärte abzuſchneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan zu ſchwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der Perſon und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Heſſen das unbe- ſchränkte Eigenthum an ſeinem Barthaare, und die eidvergeſſenen Miniſter mußten wegen Verfaſſungsbruchs angeklagt werden!
Zum Unheil des Landes ſtarb Miniſter Wiederhold ſchon im Februar 1832, der einzige Mann, deſſen Stimme zugleich am Hofe und im Land- tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Haſſenpflug in den Miniſter- rath ein, der Sohn des Vaters, und ſprach ſofort die Abſicht aus „die Strömung wieder in das verlaſſene Bette des Gehorſams zurückzu- dämmen“. Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver- faſſung. Vorderhand trug Kurheſſen aus ſo vielen Erſchütterungen nur drei werthvolle politiſche Güter davon: die Theilung des Landesvermögens, die rechtlich geſicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande kam und, weil ſie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte, auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das preußiſche Zollweſen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen hinaus um das neue Zollhaus wie einſt das alte zu ſtürmen, doch dies- mal begegneten ſie entſchloſſener Abwehr. Auch die anderen Landestheile fügten ſich anfangs nur ungern; die Gaſſenbuben verhöhnten „den Preuß“ im Zollhauſe:
Er iſt geſchnüret wie ein Weib, Die Sonne ſcheint ihm durch den Leib.
Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutſchen Marktes. Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß ſeine wirthſchaftlichen Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langſam wieder erſtarkten. —
In Heſſen wie in Braunſchweig richtete ſich der Aufruhr gradeswegs gegen die Willkür pflichtvergeſſener Fürſten. Im Königreich Sachſen brach eine wohlwollende, aber altersſchwache und völlig entgeiſtete Regierung haltlos zuſammen vor den erſten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks- bewegung, welche ohne ein politiſches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth
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IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Abdruck der beiden Verfaſſungsurkunden. Die Kurheſſen gedachten indeſſen
bereits wehmüthig der Erzählung Hippel’s von den „Lebensläufen in ab-
ſteigender Linie“; ſie fanden, im Hauſe Brabant gerathe der Sohn immer
noch ſchlechter als der Vater, und Mancher ſehnte ſich ſchon nach dem
alten Kurfürſten zurück. Der aber betrat ſeine Hauptſtadt niemals wieder,
ſondern lebte als Privatmann bald in den Schlöſſern am Main, bald in
Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte ſofort
den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und
kränkte ſeine Caſſeler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr
befahl ihre Schnurrbärte abzuſchneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan
zu ſchwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der
Perſon und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Heſſen das unbe-
ſchränkte Eigenthum an ſeinem Barthaare, und die eidvergeſſenen Miniſter
mußten wegen Verfaſſungsbruchs angeklagt werden!
Zum Unheil des Landes ſtarb Miniſter Wiederhold ſchon im Februar
1832, der einzige Mann, deſſen Stimme zugleich am Hofe und im Land-
tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Haſſenpflug in den Miniſter-
rath ein, der Sohn des Vaters, und ſprach ſofort die Abſicht aus „die
Strömung wieder in das verlaſſene Bette des Gehorſams zurückzu-
dämmen“. Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver-
faſſung. Vorderhand trug Kurheſſen aus ſo vielen Erſchütterungen nur
drei werthvolle politiſche Güter davon: die Theilung des Landesvermögens,
die rechtlich geſicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die
Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande
kam und, weil ſie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte,
auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das
preußiſche Zollweſen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen
hinaus um das neue Zollhaus wie einſt das alte zu ſtürmen, doch dies-
mal begegneten ſie entſchloſſener Abwehr. Auch die anderen Landestheile
fügten ſich anfangs nur ungern; die Gaſſenbuben verhöhnten „den Preuß“
im Zollhauſe:
Er iſt geſchnüret wie ein Weib,
Die Sonne ſcheint ihm durch den Leib.
Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutſchen Marktes.
Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß ſeine wirthſchaftlichen
Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langſam wieder erſtarkten. —
In Heſſen wie in Braunſchweig richtete ſich der Aufruhr gradeswegs
gegen die Willkür pflichtvergeſſener Fürſten. Im Königreich Sachſen brach
eine wohlwollende, aber altersſchwache und völlig entgeiſtete Regierung
haltlos zuſammen vor den erſten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks-
bewegung, welche ohne ein politiſches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/156>, abgerufen am 23.07.2024.
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