Großmuth üben". Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus- helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ sich aber nur dann sichern, wenn die Anarchie des Mauthwesens durch die preußische Ordnung verdrängt wurde, und vor dem preußischen Zollvereine bebten viele der Liberalen fast ebenso scheu zurück wie der Landesherr selber.
Derweil man dergestalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der Verfassung schon seine verderbliche Wirkung. Der Kurfürst hatte durch Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache selbst wie gegen die Personen ließ sich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die Unterschrift des Kriegsministers Loßberg, und obschon die Vorschriften der Verfassung für diesen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, so meinte sich gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der besten Juristen des Landes, in seinem Gewissen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem doch höchstens ein verzeihlicher Formfehler zur Last fiel, wegen Verfassungs- bruchs angeklagt werde. In leidenschaftlicher Rede fiel Jordan bei und rief wie gewöhnlich den Geist der Verfassung zu Hilfe gegen ihren zweifel- haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher. Die Bürgergarden von Cassel und Marburg beriethen schon unter ein- ander, wie "die im Finstern schleichende, geifernde Brut gänzlich unter- drückt" und der Kurfürst -- aber ohne seine Gräfin -- in die Hauptstadt zurückgeführt werden solle; eine Adresse von nahezu tausend Casseler Ein- wohnern stellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch länger fern bleibe, so verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich- keit waren die Hessen schon nahe daran, den Versailler Zug der Pariser vom October 1789 zu wiederholen.
Um ein Ende zu machen beschloß der Landtag, noch einmal sein Glück bei dem grollenden Landesherrn zu versuchen. Gegen Ende August reisten abermals ständische Abgesandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen ward vorgelassen: Präsident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter, der an der Spitze des Obergerichts so viele Jahre hindurch gegen fürst- liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll setzte er dem Kurfürsten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen- wärtigen Lage mit den Ministern regelmäßig zusammen arbeiten müsse, die Gräfin aber in Cassel ihres Lebens schwerlich sicher sei; schließlich stellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte vor und sendete den Präsidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur- prinzen, dem nach der Verfassung die Regentschaft gebührte, weiter zu verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen Sitzung berufen, und mit Zustimmung des Landtags kam nunmehr ein Gesetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige Besorgung aller Regierungsgeschäfte übertrug, bis der Kurfürst seine bleibende Residenz wieder in Cassel nehmen würde.
Der Kurfürſt im Hanauer Lande.
Großmuth üben“. Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus- helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ ſich aber nur dann ſichern, wenn die Anarchie des Mauthweſens durch die preußiſche Ordnung verdrängt wurde, und vor dem preußiſchen Zollvereine bebten viele der Liberalen faſt ebenſo ſcheu zurück wie der Landesherr ſelber.
Derweil man dergeſtalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der Verfaſſung ſchon ſeine verderbliche Wirkung. Der Kurfürſt hatte durch Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache ſelbſt wie gegen die Perſonen ließ ſich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die Unterſchrift des Kriegsminiſters Loßberg, und obſchon die Vorſchriften der Verfaſſung für dieſen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, ſo meinte ſich gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der beſten Juriſten des Landes, in ſeinem Gewiſſen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem doch höchſtens ein verzeihlicher Formfehler zur Laſt fiel, wegen Verfaſſungs- bruchs angeklagt werde. In leidenſchaftlicher Rede fiel Jordan bei und rief wie gewöhnlich den Geiſt der Verfaſſung zu Hilfe gegen ihren zweifel- haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher. Die Bürgergarden von Caſſel und Marburg beriethen ſchon unter ein- ander, wie „die im Finſtern ſchleichende, geifernde Brut gänzlich unter- drückt“ und der Kurfürſt — aber ohne ſeine Gräfin — in die Hauptſtadt zurückgeführt werden ſolle; eine Adreſſe von nahezu tauſend Caſſeler Ein- wohnern ſtellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch länger fern bleibe, ſo verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich- keit waren die Heſſen ſchon nahe daran, den Verſailler Zug der Pariſer vom October 1789 zu wiederholen.
Um ein Ende zu machen beſchloß der Landtag, noch einmal ſein Glück bei dem grollenden Landesherrn zu verſuchen. Gegen Ende Auguſt reiſten abermals ſtändiſche Abgeſandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen ward vorgelaſſen: Präſident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter, der an der Spitze des Obergerichts ſo viele Jahre hindurch gegen fürſt- liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll ſetzte er dem Kurfürſten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen- wärtigen Lage mit den Miniſtern regelmäßig zuſammen arbeiten müſſe, die Gräfin aber in Caſſel ihres Lebens ſchwerlich ſicher ſei; ſchließlich ſtellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte vor und ſendete den Präſidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur- prinzen, dem nach der Verfaſſung die Regentſchaft gebührte, weiter zu verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen Sitzung berufen, und mit Zuſtimmung des Landtags kam nunmehr ein Geſetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige Beſorgung aller Regierungsgeſchäfte übertrug, bis der Kurfürſt ſeine bleibende Reſidenz wieder in Caſſel nehmen würde.
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Der Kurfürſt im Hanauer Lande.
Großmuth üben“. Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus-
helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ ſich aber nur dann
ſichern, wenn die Anarchie des Mauthweſens durch die preußiſche Ordnung
verdrängt wurde, und vor dem preußiſchen Zollvereine bebten viele der
Liberalen faſt ebenſo ſcheu zurück wie der Landesherr ſelber.
Derweil man dergeſtalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der
Verfaſſung ſchon ſeine verderbliche Wirkung. Der Kurfürſt hatte durch
Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache ſelbſt wie gegen
die Perſonen ließ ſich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die
Unterſchrift des Kriegsminiſters Loßberg, und obſchon die Vorſchriften der
Verfaſſung für dieſen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, ſo meinte ſich
gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der beſten Juriſten des Landes, in
ſeinem Gewiſſen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem
doch höchſtens ein verzeihlicher Formfehler zur Laſt fiel, wegen Verfaſſungs-
bruchs angeklagt werde. In leidenſchaftlicher Rede fiel Jordan bei und
rief wie gewöhnlich den Geiſt der Verfaſſung zu Hilfe gegen ihren zweifel-
haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher.
Die Bürgergarden von Caſſel und Marburg beriethen ſchon unter ein-
ander, wie „die im Finſtern ſchleichende, geifernde Brut gänzlich unter-
drückt“ und der Kurfürſt — aber ohne ſeine Gräfin — in die Hauptſtadt
zurückgeführt werden ſolle; eine Adreſſe von nahezu tauſend Caſſeler Ein-
wohnern ſtellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch
länger fern bleibe, ſo verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich-
keit waren die Heſſen ſchon nahe daran, den Verſailler Zug der Pariſer
vom October 1789 zu wiederholen.
Um ein Ende zu machen beſchloß der Landtag, noch einmal ſein Glück
bei dem grollenden Landesherrn zu verſuchen. Gegen Ende Auguſt reiſten
abermals ſtändiſche Abgeſandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen
ward vorgelaſſen: Präſident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter,
der an der Spitze des Obergerichts ſo viele Jahre hindurch gegen fürſt-
liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll ſetzte
er dem Kurfürſten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen-
wärtigen Lage mit den Miniſtern regelmäßig zuſammen arbeiten müſſe,
die Gräfin aber in Caſſel ihres Lebens ſchwerlich ſicher ſei; ſchließlich
ſtellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht
auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte
vor und ſendete den Präſidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur-
prinzen, dem nach der Verfaſſung die Regentſchaft gebührte, weiter zu
verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen
Sitzung berufen, und mit Zuſtimmung des Landtags kam nunmehr ein
Geſetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige
Beſorgung aller Regierungsgeſchäfte übertrug, bis der Kurfürſt ſeine
bleibende Reſidenz wieder in Caſſel nehmen würde.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/153>, abgerufen am 04.12.2024.
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