stitutionelle an," denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete hatten dem doctrinären Feuergeiste zuweilen Wasser in den Wein ge- schüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene "Schlußstein" der Verfassung, die Vorschrift über die Minister-Anklage: wie durfte man die Entscheidung solcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen, das von der Regierung ernannt wird, und "in der Residenz allen Künsten und Gefahren der Hofkabale ausgesetzt ist"? Immerhin wagte er zu hoffen, aus solcher "Verpuppung" werde sich noch der Schmetterling der Freiheit erheben, wenn man nur stets dem Geiste der Verfassung den Vorzug gäbe vor dem Buchstaben. Unter diesem Geiste verstand er aber kurzweg die neufranzösische Parlamentsherrschaft: "das constitutionelle System kann nur da sich kräftig ausbilden, wo kein Ministerium sich halten kann, welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen sich hat." Wie viel er auch selbst noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit Recht, als den Vater der Verfassung. Für Schomburg und den Küfer Masaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein Haus geschenkt; als er nachher von dem ersten constitutionellen Landtage heimkam, empfing man den schlichten, anspruchslosen Mann mit fürst- lichen Ehren, und der junge hessische Dichter Franz Dingelstedt sang:
Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten, Das mit Fahnen und Drommeten grüßte seinen Heimgekehrten?
Ueberall im Lande ward der Verfassungseid willig geleistet; eine Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunsten der römischen Kirche blieb unbeachtet. Nur einige Bauerschaften des Fuldaer Landes nahmen Anstoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürsten sagte: seine Person ist heilig und unverletzlich; sie glaubten, mit dieser Person sei die Reichenbach gemeint, ließen sich jedoch bald eines Besseren belehren. Zahlreiche Flug- schriften verherrlichten "Kurhessens freudige Zukunft" und die Verfassung, "dies tief durchdachte Zeugniß des fortschreitenden Menschengeistes". Ein Verfassungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu- gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und schloß mit der tröstlichen Versicherung: "Das letzte Landesrecht ist, daß jeder Hesse, dem es hiernach im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten wird." In Cassel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitschrift "Der Verfassungsfreund", deren Artikel sich meist durch kühne Allgemein- heit und durch sorgfältiges Vermeiden aller praktischen Fragen auszeichneten. "Der Vorabend großer Ereignisse" oder "Was haben die Kurhessen noch mehr zu thun?" -- so lauteten die Ueberschriften beliebter Aufsätze. Auch die liberale Presse der deutschen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende; sie pflegte nunmehr, seit die spanische Cortes-Verfassung von 1812 endlich in Vergessenheit gerieth, Kurhessen und Norwegen neben dem Musterlande Belgien als die Staaten zu bezeichnen, "welche dem Zeitgeiste die ihm
S. Jordan.
ſtitutionelle an,“ denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge- ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene „Schlußſtein“ der Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen, das von der Regierung ernannt wird, und „in der Reſidenz allen Künſten und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt“? Immerhin wagte er zu hoffen, aus ſolcher „Verpuppung“ werde ſich noch der Schmetterling der Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: „das conſtitutionelle Syſtem kann nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann, welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat.“ Wie viel er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt- lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:
Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten, Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten?
Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug- ſchriften verherrlichten „Kurheſſens freudige Zukunft“ und die Verfaſſung, „dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes“. Ein Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu- gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen Verſicherung: „Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten wird.“ In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift „Der Verfaſſungsfreund“, deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein- heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten. „Der Vorabend großer Ereigniſſe“ oder „Was haben die Kurheſſen noch mehr zu thun?“ — ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende; ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande Belgien als die Staaten zu bezeichnen, „welche dem Zeitgeiſte die ihm
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0149"n="135"/><fwplace="top"type="header">S. Jordan.</fw><lb/>ſtitutionelle an,“ denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete<lb/>
hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge-<lb/>ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene „Schlußſtein“ der<lb/>
Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man<lb/>
die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen,<lb/>
das von der Regierung ernannt wird, und „in der Reſidenz allen Künſten<lb/>
und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt“? Immerhin wagte er zu<lb/>
hoffen, aus ſolcher „Verpuppung“ werde ſich noch der Schmetterling der<lb/>
Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug<lb/>
gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg<lb/>
die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: „das conſtitutionelle Syſtem kann<lb/>
nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann,<lb/>
welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat.“ Wie viel<lb/>
er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit<lb/>
Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer<lb/>
Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler<lb/>
Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein<lb/>
Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage<lb/>
heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt-<lb/>
lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten,</l><lb/><l>Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten?</l></lg><lb/><p>Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine<lb/>
Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche<lb/>
blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen<lb/>
Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt<lb/>
heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach<lb/>
gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug-<lb/>ſchriften verherrlichten „Kurheſſens freudige Zukunft“ und die Verfaſſung,<lb/>„dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes“. Ein<lb/>
Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu-<lb/>
gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen<lb/>
Verſicherung: „Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach<lb/>
im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten<lb/>
wird.“ In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift<lb/>„Der Verfaſſungsfreund“, deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein-<lb/>
heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten.<lb/>„Der Vorabend großer Ereigniſſe“ oder „Was haben die Kurheſſen noch<lb/>
mehr zu thun?“—ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch<lb/>
die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende;<lb/>ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich<lb/>
in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande<lb/>
Belgien als die Staaten zu bezeichnen, „welche dem Zeitgeiſte die ihm<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[135/0149]
S. Jordan.
ſtitutionelle an,“ denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete
hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge-
ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene „Schlußſtein“ der
Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man
die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen,
das von der Regierung ernannt wird, und „in der Reſidenz allen Künſten
und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt“? Immerhin wagte er zu
hoffen, aus ſolcher „Verpuppung“ werde ſich noch der Schmetterling der
Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug
gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg
die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: „das conſtitutionelle Syſtem kann
nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann,
welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat.“ Wie viel
er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit
Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer
Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler
Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein
Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage
heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt-
lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:
Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten,
Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten?
Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine
Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche
blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen
Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt
heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach
gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug-
ſchriften verherrlichten „Kurheſſens freudige Zukunft“ und die Verfaſſung,
„dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes“. Ein
Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu-
gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen
Verſicherung: „Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach
im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten
wird.“ In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift
„Der Verfaſſungsfreund“, deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein-
heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten.
„Der Vorabend großer Ereigniſſe“ oder „Was haben die Kurheſſen noch
mehr zu thun?“ — ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch
die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende;
ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich
in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande
Belgien als die Staaten zu bezeichnen, „welche dem Zeitgeiſte die ihm
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/149>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.