Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland. Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfassungsbruchs solltendie Stände nicht blos berechtigt, sondern verpflichtet sein die Minister vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieser § 100 erwies sich bald als der gefährlichste des Grundgesetzes; er forderte die Zanklust, die allen den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver- schiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfassung kaum ausbleiben konnten, und begünstigte die verhängnißvolle Neigung der Deutschen, poli- tische Machtfragen vom Standpunkte des Civilprocesses zu beurtheilen. Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen, wegen Verletzung der Verfassung, wegen Veruntreuung, Bestechung und Mißbrauch der Amtsgewalt. Also den Landständen verantwortlich erlangten die Staatsdiener dem Kurfürsten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von ihrer bisherigen völlig rechtlosen Stellung seltsam abstach; sie durften nur durch Urtheil und Recht abgesetzt, nur wegen Altersschwäche oder anderer Gebrechen pensionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt, so konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er- heblichen Gründen, die sie den Ständen mitzutheilen hatte. So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con- Da das hessische Kurhaus von solcher Gesinnung nichts besaß, so IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſolltendie Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver- ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli- tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen. Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen, wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt, ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er- heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte. So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con- Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0148" n="134"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.</fw><lb/> Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſollten<lb/> die Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter<lb/> vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald<lb/> als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen<lb/> den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver-<lb/> ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben<lb/> konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli-<lb/> tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen.<lb/> Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen,<lb/> wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und<lb/> Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten<lb/> die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von<lb/> ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur<lb/> durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer<lb/> Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt,<lb/> ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er-<lb/> heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte.</p><lb/> <p>So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con-<lb/> ſtitutionellen Staates in dem Geiſte des Mißtrauens ſuchte, auf deutſchem<lb/> Boden noch nie verwirklicht worden; und nach Allem was dies Land an<lb/> ſeinen Fürſten erlebt, mußte ſich der heſſiſche Landtag allerdings in<lb/> einem Zuſtande beſtändiger Nothwehr fühlen. Daß auch die Stände<lb/> ſelber ihr Recht mißbrauchen könnten, hielt die vernunftrechtliche Doctrin<lb/> für unmöglich; für dieſen Fall gab die Verfaſſung dem Kurfürſten keine<lb/> Waffen. Er konnte ſelbſt in der Noth, wenn die Geſetze ſich unzu-<lb/> länglich erwieſen, nur mit Zuziehung des ſtändiſchen Ausſchuſſes Ver-<lb/> ordnungen erlaſſen. Zweifelhaft blieb ſogar, ob er auch nur ſein Recht,<lb/> den Landtag aufzulöſen, wirklich gebrauchen durfte; denn am Schluſſe<lb/> jeder Tagung mußten die Stände den Landtagsabſchied mit unterzeichnen,<lb/> ihren Ausſchuß mit Weiſungen verſehen, und wie war dies möglich, wenn<lb/> die Regierung den Landtag wider ſeinen Willen auflöſte? Ein großer<lb/> Staat mit ſtarkem Heere und ſelbſtändiger auswärtiger Politik konnte<lb/> unter einer ſolchen Verfaſſung unmöglich beſtehen, ein kleines abhängiges<lb/> Gemeinweſen vielleicht — wenn ſeine Fürſten eine ungewöhnliche Selbſt-<lb/> verleugnung bewährten.</p><lb/> <p>Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo<lb/> ſollten die Bekenner des Vernunftrechts bald durch eine große Enttäuſchung<lb/> erfahren, wie wenig politiſche Formen allein die Freiheit ſichern: unter<lb/> allen deutſchen Verfaſſungen war keine durch Rechtsſchranken jeder Art<lb/> ſo wohl geſchützt wie die kurheſſiſche, und doch wurde keine ſo oft und<lb/> ſo frevelhaft gebrochen. Jordan ſelbſt zeigte ſich mit dem Werke nur halb<lb/> zufrieden; er klagte: „das anti-conſtitutionelle Element durchdringt die<lb/> ganze Verfaſſung und ſchließt ſich allenthalben klettenartig an das con-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [134/0148]
IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſollten
die Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter
vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald
als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen
den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver-
ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben
konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli-
tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen.
Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen,
wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und
Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten
die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von
ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur
durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer
Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt,
ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er-
heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte.
So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con-
ſtitutionellen Staates in dem Geiſte des Mißtrauens ſuchte, auf deutſchem
Boden noch nie verwirklicht worden; und nach Allem was dies Land an
ſeinen Fürſten erlebt, mußte ſich der heſſiſche Landtag allerdings in
einem Zuſtande beſtändiger Nothwehr fühlen. Daß auch die Stände
ſelber ihr Recht mißbrauchen könnten, hielt die vernunftrechtliche Doctrin
für unmöglich; für dieſen Fall gab die Verfaſſung dem Kurfürſten keine
Waffen. Er konnte ſelbſt in der Noth, wenn die Geſetze ſich unzu-
länglich erwieſen, nur mit Zuziehung des ſtändiſchen Ausſchuſſes Ver-
ordnungen erlaſſen. Zweifelhaft blieb ſogar, ob er auch nur ſein Recht,
den Landtag aufzulöſen, wirklich gebrauchen durfte; denn am Schluſſe
jeder Tagung mußten die Stände den Landtagsabſchied mit unterzeichnen,
ihren Ausſchuß mit Weiſungen verſehen, und wie war dies möglich, wenn
die Regierung den Landtag wider ſeinen Willen auflöſte? Ein großer
Staat mit ſtarkem Heere und ſelbſtändiger auswärtiger Politik konnte
unter einer ſolchen Verfaſſung unmöglich beſtehen, ein kleines abhängiges
Gemeinweſen vielleicht — wenn ſeine Fürſten eine ungewöhnliche Selbſt-
verleugnung bewährten.
Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo
ſollten die Bekenner des Vernunftrechts bald durch eine große Enttäuſchung
erfahren, wie wenig politiſche Formen allein die Freiheit ſichern: unter
allen deutſchen Verfaſſungen war keine durch Rechtsſchranken jeder Art
ſo wohl geſchützt wie die kurheſſiſche, und doch wurde keine ſo oft und
ſo frevelhaft gebrochen. Jordan ſelbſt zeigte ſich mit dem Werke nur halb
zufrieden; er klagte: „das anti-conſtitutionelle Element durchdringt die
ganze Verfaſſung und ſchließt ſich allenthalben klettenartig an das con-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |