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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
suchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht
vernommen wurden. Der Handstreich der Wenigen konnte offenbar nur
gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünschte. Die vollbrachte
That erschien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte.
Wohl hatte sich seit der großen Woche der Pariser überall in der Welt
der Wahn verbreitet, daß die Masse im Straßenkampfe unbesiegbar sei;
alle Zeitungen wiederholten beständig den Ausspruch, welchen einst Napoleon
auf Grund der spanischen Erfahrungen seiner Marschälle gethan haben
sollte: wehe dem General, der sich in der Enge der Gassen auf ein
Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der
ruhmreichen schwarzen Schaar die Hände lähmte, sondern Haß und Ver-
achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns
feige verlassen hat, sein Schloß zu behüten? -- dies Bedenken drängte
sich Allen auf und stimmte sie unsicher gegenüber einem weder muthigen
noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere ist
nie erwiesen worden, und es bedarf auch dieses Verdachtes nicht um die
schlechte Haltung der Truppen zu erklären.

In den Trümmern des Schlosses -- das fühlte Jedermann -- hatte
Karl's Herrschaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den
geraubten Briefschaften und dem schwarzen Buche des Herzogs veröffent-
licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die
erbaulichen Geständnisse dieser schönen Seele -- wie Metternich seinen
welfischen Liebling einmal nannte -- gingen von Mund zu Mund, die
kleinstädtische Klatscherei schwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der
leere knabenhafte Thor galt bei seinem ergrimmten Völkchen bald für einen
Wütherich und Giftmischer. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte
die Ordnung sogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen
umher, jetzt nach Pariser Muster mit Flinten bewaffnet, unter der Füh-
rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unschuldiger
diese Philister an dem Schloßbrande waren, um so kühner prahlten
sie mit ihrer Revolution. Paris, Brüssel und Braunschweig bildeten
das Dreigestirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte,
der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte,
hieß mindestens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch
das Geschenk eines bürgerlichen Ehrensäbels darüber getröstet, daß die
preußischen Kameraden ihn mit sehr zweifelhaften Blicken betrachteten;
denn "der heutige Soldat -- so versicherte eine Braunschweigische Flug-
schrift -- ist nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorsam
dressirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts". Ein Bürgergardist drohte
dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunschweiger würden
sich lieber unter dem Schutte ihrer Häuser begraben, als sich unter die
Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer
Abhandlung "den freiwilligen Gehorsam" als den eigenthümlichen Vorzug

IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſuchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht
vernommen wurden. Der Handſtreich der Wenigen konnte offenbar nur
gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünſchte. Die vollbrachte
That erſchien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte.
Wohl hatte ſich ſeit der großen Woche der Pariſer überall in der Welt
der Wahn verbreitet, daß die Maſſe im Straßenkampfe unbeſiegbar ſei;
alle Zeitungen wiederholten beſtändig den Ausſpruch, welchen einſt Napoleon
auf Grund der ſpaniſchen Erfahrungen ſeiner Marſchälle gethan haben
ſollte: wehe dem General, der ſich in der Enge der Gaſſen auf ein
Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der
ruhmreichen ſchwarzen Schaar die Hände lähmte, ſondern Haß und Ver-
achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns
feige verlaſſen hat, ſein Schloß zu behüten? — dies Bedenken drängte
ſich Allen auf und ſtimmte ſie unſicher gegenüber einem weder muthigen
noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere iſt
nie erwieſen worden, und es bedarf auch dieſes Verdachtes nicht um die
ſchlechte Haltung der Truppen zu erklären.

In den Trümmern des Schloſſes — das fühlte Jedermann — hatte
Karl’s Herrſchaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den
geraubten Briefſchaften und dem ſchwarzen Buche des Herzogs veröffent-
licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die
erbaulichen Geſtändniſſe dieſer ſchönen Seele — wie Metternich ſeinen
welfiſchen Liebling einmal nannte — gingen von Mund zu Mund, die
kleinſtädtiſche Klatſcherei ſchwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der
leere knabenhafte Thor galt bei ſeinem ergrimmten Völkchen bald für einen
Wütherich und Giftmiſcher. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte
die Ordnung ſogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen
umher, jetzt nach Pariſer Muſter mit Flinten bewaffnet, unter der Füh-
rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unſchuldiger
dieſe Philiſter an dem Schloßbrande waren, um ſo kühner prahlten
ſie mit ihrer Revolution. Paris, Brüſſel und Braunſchweig bildeten
das Dreigeſtirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte,
der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte,
hieß mindeſtens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch
das Geſchenk eines bürgerlichen Ehrenſäbels darüber getröſtet, daß die
preußiſchen Kameraden ihn mit ſehr zweifelhaften Blicken betrachteten;
denn „der heutige Soldat — ſo verſicherte eine Braunſchweigiſche Flug-
ſchrift — iſt nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorſam
dreſſirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts“. Ein Bürgergardiſt drohte
dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunſchweiger würden
ſich lieber unter dem Schutte ihrer Häuſer begraben, als ſich unter die
Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer
Abhandlung „den freiwilligen Gehorſam“ als den eigenthümlichen Vorzug

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[102/0116] IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. ſuchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht vernommen wurden. Der Handſtreich der Wenigen konnte offenbar nur gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünſchte. Die vollbrachte That erſchien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte. Wohl hatte ſich ſeit der großen Woche der Pariſer überall in der Welt der Wahn verbreitet, daß die Maſſe im Straßenkampfe unbeſiegbar ſei; alle Zeitungen wiederholten beſtändig den Ausſpruch, welchen einſt Napoleon auf Grund der ſpaniſchen Erfahrungen ſeiner Marſchälle gethan haben ſollte: wehe dem General, der ſich in der Enge der Gaſſen auf ein Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der ruhmreichen ſchwarzen Schaar die Hände lähmte, ſondern Haß und Ver- achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns feige verlaſſen hat, ſein Schloß zu behüten? — dies Bedenken drängte ſich Allen auf und ſtimmte ſie unſicher gegenüber einem weder muthigen noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere iſt nie erwieſen worden, und es bedarf auch dieſes Verdachtes nicht um die ſchlechte Haltung der Truppen zu erklären. In den Trümmern des Schloſſes — das fühlte Jedermann — hatte Karl’s Herrſchaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den geraubten Briefſchaften und dem ſchwarzen Buche des Herzogs veröffent- licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die erbaulichen Geſtändniſſe dieſer ſchönen Seele — wie Metternich ſeinen welfiſchen Liebling einmal nannte — gingen von Mund zu Mund, die kleinſtädtiſche Klatſcherei ſchwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der leere knabenhafte Thor galt bei ſeinem ergrimmten Völkchen bald für einen Wütherich und Giftmiſcher. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte die Ordnung ſogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen umher, jetzt nach Pariſer Muſter mit Flinten bewaffnet, unter der Füh- rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unſchuldiger dieſe Philiſter an dem Schloßbrande waren, um ſo kühner prahlten ſie mit ihrer Revolution. Paris, Brüſſel und Braunſchweig bildeten das Dreigeſtirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte, der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte, hieß mindeſtens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch das Geſchenk eines bürgerlichen Ehrenſäbels darüber getröſtet, daß die preußiſchen Kameraden ihn mit ſehr zweifelhaften Blicken betrachteten; denn „der heutige Soldat — ſo verſicherte eine Braunſchweigiſche Flug- ſchrift — iſt nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorſam dreſſirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts“. Ein Bürgergardiſt drohte dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunſchweiger würden ſich lieber unter dem Schutte ihrer Häuſer begraben, als ſich unter die Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer Abhandlung „den freiwilligen Gehorſam“ als den eigenthümlichen Vorzug

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/116>, abgerufen am 30.11.2024.