gerissen; Fürst Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten sich nicht mehr zu regen, die siegreiche Partei beschloß den aussichtslosen Kampf fortzusetzen. Am 6. September begann Paskiewitsch den Angriff auf dem weiten Blachfelde von Wola, wo einst die Hunderttausende des polnischen Adels zur Königswahl sich zu versammeln pflegten; am folgenden Tage erstürmten die Russen unter Toll's Führung nach wüthendem Kampfe die Thore der Hauptstadt. Warschau ergab sich, die Trümmer des pol- nischen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.
Alsbald ließ Nikolaus die versöhnlichen Gedanken der letzten Monate fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, "die nationale Eigenthümlichkeit besaß, internationale Verträge schlecht zu erfüllen und namentlich von Preußen viel zu fordern ohne seinerseits das gleiche Ent- gegenkommen zu beweisen".*) Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine allgemeine Amnestie, untersagte jedoch allen den Offizieren, welche erst nach dem Falle von Warschau ins Ausland übergetreten waren -- mithin der großen Mehrzahl des polnischen Offizierscorps -- die Rückkehr für immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe sollten also Preußen und Oesterreich mit einigen tausend verzweifelten Heimathlosen belastet werden. Beschlüsse solcher Art, schrieb Schöler warnend, gehen von dem Kaiser selber aus, sie lassen auf Eigenheiten seines Charakters schließen, die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert sind.**) Beide Mächte erhoben Einspruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine Massenverbannung "in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf- hetzung und der Brandstiftung zu gründen"?***)
Erst nach langen Verhandlungen entschloß sich der Czar, seinen Ukas nach und nach zu mildern, so daß schließlich nur noch die gemeinen Ver- brecher und die politischen Hauptschuldigen von der Amnestie ausgeschlossen blieben.+) Wie König Friedrich Wilhelm dergestalt die ehrliche Aus- legung des mit Rußland abgeschlossenen Auslieferungsvertrags durchsetzte, so war er auch keineswegs gesonnen, aus Gefälligkeit gegen seinen Schwiegersohn den Westmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die Republik Krakau den Aufstand ihrer Stammgenossen mannichfach unter- stützt hatte, so wünschte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet des Freistaats gemeinsam besetzen sollten. Der Berliner Hof aber wider- sprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus- gehen und überließ die militärische Besetzung den Russen als dem allein
geriſſen; Fürſt Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten ſich nicht mehr zu regen, die ſiegreiche Partei beſchloß den ausſichtsloſen Kampf fortzuſetzen. Am 6. September begann Paskiewitſch den Angriff auf dem weiten Blachfelde von Wola, wo einſt die Hunderttauſende des polniſchen Adels zur Königswahl ſich zu verſammeln pflegten; am folgenden Tage erſtürmten die Ruſſen unter Toll’s Führung nach wüthendem Kampfe die Thore der Hauptſtadt. Warſchau ergab ſich, die Trümmer des pol- niſchen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.
Alsbald ließ Nikolaus die verſöhnlichen Gedanken der letzten Monate fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, „die nationale Eigenthümlichkeit beſaß, internationale Verträge ſchlecht zu erfüllen und namentlich von Preußen viel zu fordern ohne ſeinerſeits das gleiche Ent- gegenkommen zu beweiſen“.*) Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine allgemeine Amneſtie, unterſagte jedoch allen den Offizieren, welche erſt nach dem Falle von Warſchau ins Ausland übergetreten waren — mithin der großen Mehrzahl des polniſchen Offizierscorps — die Rückkehr für immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe ſollten alſo Preußen und Oeſterreich mit einigen tauſend verzweifelten Heimathloſen belaſtet werden. Beſchlüſſe ſolcher Art, ſchrieb Schöler warnend, gehen von dem Kaiſer ſelber aus, ſie laſſen auf Eigenheiten ſeines Charakters ſchließen, die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert ſind.**) Beide Mächte erhoben Einſpruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine Maſſenverbannung „in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf- hetzung und der Brandſtiftung zu gründen“?***)
Erſt nach langen Verhandlungen entſchloß ſich der Czar, ſeinen Ukas nach und nach zu mildern, ſo daß ſchließlich nur noch die gemeinen Ver- brecher und die politiſchen Hauptſchuldigen von der Amneſtie ausgeſchloſſen blieben.†) Wie König Friedrich Wilhelm dergeſtalt die ehrliche Aus- legung des mit Rußland abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrags durchſetzte, ſo war er auch keineswegs geſonnen, aus Gefälligkeit gegen ſeinen Schwiegerſohn den Weſtmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die Republik Krakau den Aufſtand ihrer Stammgenoſſen mannichfach unter- ſtützt hatte, ſo wünſchte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet des Freiſtaats gemeinſam beſetzen ſollten. Der Berliner Hof aber wider- ſprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus- gehen und überließ die militäriſche Beſetzung den Ruſſen als dem allein
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Fall von Warſchau.
geriſſen; Fürſt Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten ſich nicht
mehr zu regen, die ſiegreiche Partei beſchloß den ausſichtsloſen Kampf
fortzuſetzen. Am 6. September begann Paskiewitſch den Angriff auf dem
weiten Blachfelde von Wola, wo einſt die Hunderttauſende des polniſchen
Adels zur Königswahl ſich zu verſammeln pflegten; am folgenden Tage
erſtürmten die Ruſſen unter Toll’s Führung nach wüthendem Kampfe
die Thore der Hauptſtadt. Warſchau ergab ſich, die Trümmer des pol-
niſchen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.
Alsbald ließ Nikolaus die verſöhnlichen Gedanken der letzten Monate
fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg
begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der
That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, „die nationale
Eigenthümlichkeit beſaß, internationale Verträge ſchlecht zu erfüllen und
namentlich von Preußen viel zu fordern ohne ſeinerſeits das gleiche Ent-
gegenkommen zu beweiſen“. *) Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine
allgemeine Amneſtie, unterſagte jedoch allen den Offizieren, welche erſt
nach dem Falle von Warſchau ins Ausland übergetreten waren — mithin
der großen Mehrzahl des polniſchen Offizierscorps — die Rückkehr für
immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe ſollten alſo Preußen
und Oeſterreich mit einigen tauſend verzweifelten Heimathloſen belaſtet
werden. Beſchlüſſe ſolcher Art, ſchrieb Schöler warnend, gehen von dem
Kaiſer ſelber aus, ſie laſſen auf Eigenheiten ſeines Charakters ſchließen,
die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert ſind. **) Beide Mächte
erhoben Einſpruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine
Maſſenverbannung „in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf-
hetzung und der Brandſtiftung zu gründen“? ***)
Erſt nach langen Verhandlungen entſchloß ſich der Czar, ſeinen Ukas
nach und nach zu mildern, ſo daß ſchließlich nur noch die gemeinen Ver-
brecher und die politiſchen Hauptſchuldigen von der Amneſtie ausgeſchloſſen
blieben. †) Wie König Friedrich Wilhelm dergeſtalt die ehrliche Aus-
legung des mit Rußland abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrags durchſetzte,
ſo war er auch keineswegs geſonnen, aus Gefälligkeit gegen ſeinen
Schwiegerſohn den Weſtmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die
Republik Krakau den Aufſtand ihrer Stammgenoſſen mannichfach unter-
ſtützt hatte, ſo wünſchte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet
des Freiſtaats gemeinſam beſetzen ſollten. Der Berliner Hof aber wider-
ſprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus-
gehen und überließ die militäriſche Beſetzung den Ruſſen als dem allein
*) Schöler’s Berichte, 7. Mai, 17. Nov. 1831.
**) Schöler’s Bericht, 7. Oct. 1831.
***) Ancillon an Maltzahn 25. Oct. 1831.
†) Ancillon, Weiſung an Schöler 10. Nov. Schöler’s Berichte, 16. 20. Nov.
21. Dec. 1831.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/103>, abgerufen am 29.11.2024.
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