Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. des Stromes wieder südostwärts gegen Warschau vorzurücken. Nun erstward offenkundig, was Preußens Freundschaft für Rußland bedeutete; ohne die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der König gestattete, daß auf der preußischen Weichsel die Kähne und was sonst noch für den Brückenbau der Russen nöthig war herbeigeschafft wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen jeder Art für die russischen Einkäufer, und obwohl der Oberpräsident Schön gleich der Mehrzahl seiner liberalen Beamten die Russen verab- scheute, so wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußischer Pünkt- lichkeit ausgeführt. Im Juli schloß General Valentini mit dem Russen Mansurow einen Vertrag, kraft dessen Preußen sich bereit erklärte, die nach Deutschland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein- barte Entschädigung, vorläufig zu verpflegen; so sollte zugleich unnützes Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufstandes be- schleunigt werden.*) Im Bewußtsein seines guten Rechtes verfuhr der König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorstellungen der Westmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polnischen Em- pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten der Neutralität könne gar nicht die Rede sein bei einem Aufruhr, der Preußens eigene Sicherheit bedrohe. Zu Diebitsch's Nachfolger wurde der Held des letzten kleinasiatischen *) Schöler's Bericht, 20. Oct. 1831.
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. des Stromes wieder ſüdoſtwärts gegen Warſchau vorzurücken. Nun erſtward offenkundig, was Preußens Freundſchaft für Rußland bedeutete; ohne die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der König geſtattete, daß auf der preußiſchen Weichſel die Kähne und was ſonſt noch für den Brückenbau der Ruſſen nöthig war herbeigeſchafft wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen jeder Art für die ruſſiſchen Einkäufer, und obwohl der Oberpräſident Schön gleich der Mehrzahl ſeiner liberalen Beamten die Ruſſen verab- ſcheute, ſo wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußiſcher Pünkt- lichkeit ausgeführt. Im Juli ſchloß General Valentini mit dem Ruſſen Manſurow einen Vertrag, kraft deſſen Preußen ſich bereit erklärte, die nach Deutſchland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein- barte Entſchädigung, vorläufig zu verpflegen; ſo ſollte zugleich unnützes Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufſtandes be- ſchleunigt werden.*) Im Bewußtſein ſeines guten Rechtes verfuhr der König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorſtellungen der Weſtmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polniſchen Em- pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten der Neutralität könne gar nicht die Rede ſein bei einem Aufruhr, der Preußens eigene Sicherheit bedrohe. Zu Diebitſch’s Nachfolger wurde der Held des letzten kleinaſiatiſchen *) Schöler’s Bericht, 20. Oct. 1831.
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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
des Stromes wieder ſüdoſtwärts gegen Warſchau vorzurücken. Nun erſt
ward offenkundig, was Preußens Freundſchaft für Rußland bedeutete; ohne
die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der
König geſtattete, daß auf der preußiſchen Weichſel die Kähne und was
ſonſt noch für den Brückenbau der Ruſſen nöthig war herbeigeſchafft
wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen
jeder Art für die ruſſiſchen Einkäufer, und obwohl der Oberpräſident
Schön gleich der Mehrzahl ſeiner liberalen Beamten die Ruſſen verab-
ſcheute, ſo wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußiſcher Pünkt-
lichkeit ausgeführt. Im Juli ſchloß General Valentini mit dem Ruſſen
Manſurow einen Vertrag, kraft deſſen Preußen ſich bereit erklärte, die nach
Deutſchland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein-
barte Entſchädigung, vorläufig zu verpflegen; ſo ſollte zugleich unnützes
Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufſtandes be-
ſchleunigt werden. *) Im Bewußtſein ſeines guten Rechtes verfuhr der
König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorſtellungen
der Weſtmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polniſchen Em-
pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten
der Neutralität könne gar nicht die Rede ſein bei einem Aufruhr, der
Preußens eigene Sicherheit bedrohe.
Zu Diebitſch’s Nachfolger wurde der Held des letzten kleinaſiatiſchen
Feldzugs Paskiewitſch ernannt — ein echter Moskowiter, erſchreckend roh,
hart, hochmüthig, als Feldherr zäh ausdauernd, doch überaus vorſichtig.
Er durfte ernten was Andere geſäet. Durch die nahe preußiſche Grenze
in ſeiner rechten Flanke gedeckt, überſchritt er die Weichſel bei Oſſiek,
wenige Stunden oberhalb von Thorn (17. Juli) und zog dann, da die
Cholera im Erlöſchen war, mit ſeinen geſunden, durch die preußiſchen
Zufuhren wohlverſorgten Truppen langſam der Hauptſtadt entgegen,
während die Polen ſchon durch Diebitſch’s Siege den Kern ihres Heeres
verloren hatten und der beſtändige Wechſel im Oberbefehle ihre zu-
nehmende Rathloſigkeit bekundete. Er hoffte die Unterwerfung ohne
Schlacht zu erzwingen und vermied den Kampf, trotz der Mahnungen
Toll’s, auch als er die Polen bei Bolimow in einer ganz unhaltbaren
Stellung antraf. Noch am 4. September ließ er, endlich vor Warſchau
angelangt, den Aufſtändiſchen überraſchend günſtige Bedingungen anbieten:
eine wenig beſchränkte Amneſtie, Wiederherſtellung der Verfaſſung, Abzug
der ruſſiſchen Garniſonen, ja die polniſchen Offiziere ſollten ſogar ihre
im Kampfe gegen Rußland erworbenen neuen Grade behalten! So tief
war der Hochmuth des Czaren durch dieſen langen Krieg gebeugt. In
dem unglücklichen Warſchau aber hatte der wilde Radicalismus ſoeben
durch einen gräßlichen Aufruhr des Pöbels die Herrſchaft wieder an ſich
*) Schöler’s Bericht, 20. Oct. 1831.
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