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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
erreichte er doch, daß der Sultan seinen Versicherungen Glauben schenkte
und sich entschloß, zwei Friedens-Bevollmächtigte, die ihm Müffling vor-
schlug, an den russischen Feldmarschall zu senden.*).

Der zeigte jetzt, daß er seinem Czaren als Diplomat noch besser denn
als Feldherr zu dienen vermochte. Seine Lage war mit nichten so glän-
zend wie sie schien. Für einen Marsch gegen Konstantinopel hatte er
kaum noch 20,000 Mann zur Verfügung, und diese ganz ungenügende
Macht schmolz vor seinen Augen durch verheerende Krankheiten zusammen.
Bei längerem Verweilen konnte das Heer des Siegers vielleicht ganz auf-
gerieben werden, wenn eine kleine türkische Armee, die sich im Norden bei
Sofia zusammenzog, rechtzeitig herankam. Diebitsch aber verstand die
Stärke und den Zustand seiner Truppen geschickt zu verbergen, nicht blos
vor den Türken, sondern auch vor den beiden preußischen Offizieren,
welche Müffling zur vorläufigen Besprechung nach Adrianopel sendete;
und es gelang ihm, Jedermann zu täuschen, den Sultan, Müffling, das
diplomatische Corps in Pera und alle europäischen Höfe. Selbst Metternich,
der so lange als möglich auf den Sieg seiner türkischen Freunde gehofft,
hatte keine Ahnung von der Bedrängniß der Russen. Die Pforte war
anfangs harmlos genug zu glauben, daß man ihr die Kriegskosten erlassen
würde. Auf eine Anfrage Müffling's erwiderte jedoch Diebitsch seinem
alten Kriegskameraden in aller Freundschaft sehr bestimmt: "Heute mehr
denn je wird der Divan die Strafe seiner blinden Hartnäckigkeit tragen
müssen. Es lag in seiner Hand den Frieden vor zwei Monaten zu er-
langen; er hat vorgezogen den Krieg fortzusetzen und uns zu dem Zuge
über den Balkan gezwungen. Die hochherzige Großmuth S. M. des
Kaisers Nikolaus wird der Pforte die Last der Kriegskosten zu erleichtern
wissen, vorausgesetzt freilich, daß sie sich Ansprüche auf so viel Nachgiebig-
keit zu erwerben versteht."**) Diesen Ton erhabener Zuversicht hielt der
Feldmarschall beharrlich inne, und bis zum Abschluß des Friedens blieb
die gesammte Diplomatie am Bosporus fest davon überzeugt, daß er eine
seltene Mäßigung zeige, während er in Wahrheit sein Heer zu retten
suchte.

Am 27. August fanden sich in Adrianopel die türkischen Bevollmäch-
tigten zur ersten Besprechung bei dem Feldmarschall ein. Damit war
Müffling's Sendung erledigt. Zum Abschied gewährte ihm der dankbare
Sultan noch die Gnade einer Audienz, was seit Menschengedenken keinem
Franken widerfahren war, und hielt dabei durch den Dolmetscher eine
nach orientalischen Begriffen wunderbar freundliche Ansprache. Er er-
kundigte sich zuerst nach der Gesundheit des Königs, erklärte sodann,

*) Müffling's Berichte, 6., 11., 13., 16. Aug. 1829.
**) Müffling an Diebitsch, Pera 16. August. Diebitsch's Antwort, Adrianopel
11/23. August 1829.

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
erreichte er doch, daß der Sultan ſeinen Verſicherungen Glauben ſchenkte
und ſich entſchloß, zwei Friedens-Bevollmächtigte, die ihm Müffling vor-
ſchlug, an den ruſſiſchen Feldmarſchall zu ſenden.*).

Der zeigte jetzt, daß er ſeinem Czaren als Diplomat noch beſſer denn
als Feldherr zu dienen vermochte. Seine Lage war mit nichten ſo glän-
zend wie ſie ſchien. Für einen Marſch gegen Konſtantinopel hatte er
kaum noch 20,000 Mann zur Verfügung, und dieſe ganz ungenügende
Macht ſchmolz vor ſeinen Augen durch verheerende Krankheiten zuſammen.
Bei längerem Verweilen konnte das Heer des Siegers vielleicht ganz auf-
gerieben werden, wenn eine kleine türkiſche Armee, die ſich im Norden bei
Sofia zuſammenzog, rechtzeitig herankam. Diebitſch aber verſtand die
Stärke und den Zuſtand ſeiner Truppen geſchickt zu verbergen, nicht blos
vor den Türken, ſondern auch vor den beiden preußiſchen Offizieren,
welche Müffling zur vorläufigen Beſprechung nach Adrianopel ſendete;
und es gelang ihm, Jedermann zu täuſchen, den Sultan, Müffling, das
diplomatiſche Corps in Pera und alle europäiſchen Höfe. Selbſt Metternich,
der ſo lange als möglich auf den Sieg ſeiner türkiſchen Freunde gehofft,
hatte keine Ahnung von der Bedrängniß der Ruſſen. Die Pforte war
anfangs harmlos genug zu glauben, daß man ihr die Kriegskoſten erlaſſen
würde. Auf eine Anfrage Müffling’s erwiderte jedoch Diebitſch ſeinem
alten Kriegskameraden in aller Freundſchaft ſehr beſtimmt: „Heute mehr
denn je wird der Divan die Strafe ſeiner blinden Hartnäckigkeit tragen
müſſen. Es lag in ſeiner Hand den Frieden vor zwei Monaten zu er-
langen; er hat vorgezogen den Krieg fortzuſetzen und uns zu dem Zuge
über den Balkan gezwungen. Die hochherzige Großmuth S. M. des
Kaiſers Nikolaus wird der Pforte die Laſt der Kriegskoſten zu erleichtern
wiſſen, vorausgeſetzt freilich, daß ſie ſich Anſprüche auf ſo viel Nachgiebig-
keit zu erwerben verſteht.“**) Dieſen Ton erhabener Zuverſicht hielt der
Feldmarſchall beharrlich inne, und bis zum Abſchluß des Friedens blieb
die geſammte Diplomatie am Bosporus feſt davon überzeugt, daß er eine
ſeltene Mäßigung zeige, während er in Wahrheit ſein Heer zu retten
ſuchte.

Am 27. Auguſt fanden ſich in Adrianopel die türkiſchen Bevollmäch-
tigten zur erſten Beſprechung bei dem Feldmarſchall ein. Damit war
Müffling’s Sendung erledigt. Zum Abſchied gewährte ihm der dankbare
Sultan noch die Gnade einer Audienz, was ſeit Menſchengedenken keinem
Franken widerfahren war, und hielt dabei durch den Dolmetſcher eine
nach orientaliſchen Begriffen wunderbar freundliche Anſprache. Er er-
kundigte ſich zuerſt nach der Geſundheit des Königs, erklärte ſodann,

*) Müffling’s Berichte, 6., 11., 13., 16. Aug. 1829.
**) Müffling an Diebitſch, Pera 16. Auguſt. Diebitſch’s Antwort, Adrianopel
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[744/0760] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. erreichte er doch, daß der Sultan ſeinen Verſicherungen Glauben ſchenkte und ſich entſchloß, zwei Friedens-Bevollmächtigte, die ihm Müffling vor- ſchlug, an den ruſſiſchen Feldmarſchall zu ſenden. *). Der zeigte jetzt, daß er ſeinem Czaren als Diplomat noch beſſer denn als Feldherr zu dienen vermochte. Seine Lage war mit nichten ſo glän- zend wie ſie ſchien. Für einen Marſch gegen Konſtantinopel hatte er kaum noch 20,000 Mann zur Verfügung, und dieſe ganz ungenügende Macht ſchmolz vor ſeinen Augen durch verheerende Krankheiten zuſammen. Bei längerem Verweilen konnte das Heer des Siegers vielleicht ganz auf- gerieben werden, wenn eine kleine türkiſche Armee, die ſich im Norden bei Sofia zuſammenzog, rechtzeitig herankam. Diebitſch aber verſtand die Stärke und den Zuſtand ſeiner Truppen geſchickt zu verbergen, nicht blos vor den Türken, ſondern auch vor den beiden preußiſchen Offizieren, welche Müffling zur vorläufigen Beſprechung nach Adrianopel ſendete; und es gelang ihm, Jedermann zu täuſchen, den Sultan, Müffling, das diplomatiſche Corps in Pera und alle europäiſchen Höfe. Selbſt Metternich, der ſo lange als möglich auf den Sieg ſeiner türkiſchen Freunde gehofft, hatte keine Ahnung von der Bedrängniß der Ruſſen. Die Pforte war anfangs harmlos genug zu glauben, daß man ihr die Kriegskoſten erlaſſen würde. Auf eine Anfrage Müffling’s erwiderte jedoch Diebitſch ſeinem alten Kriegskameraden in aller Freundſchaft ſehr beſtimmt: „Heute mehr denn je wird der Divan die Strafe ſeiner blinden Hartnäckigkeit tragen müſſen. Es lag in ſeiner Hand den Frieden vor zwei Monaten zu er- langen; er hat vorgezogen den Krieg fortzuſetzen und uns zu dem Zuge über den Balkan gezwungen. Die hochherzige Großmuth S. M. des Kaiſers Nikolaus wird der Pforte die Laſt der Kriegskoſten zu erleichtern wiſſen, vorausgeſetzt freilich, daß ſie ſich Anſprüche auf ſo viel Nachgiebig- keit zu erwerben verſteht.“ **) Dieſen Ton erhabener Zuverſicht hielt der Feldmarſchall beharrlich inne, und bis zum Abſchluß des Friedens blieb die geſammte Diplomatie am Bosporus feſt davon überzeugt, daß er eine ſeltene Mäßigung zeige, während er in Wahrheit ſein Heer zu retten ſuchte. Am 27. Auguſt fanden ſich in Adrianopel die türkiſchen Bevollmäch- tigten zur erſten Beſprechung bei dem Feldmarſchall ein. Damit war Müffling’s Sendung erledigt. Zum Abſchied gewährte ihm der dankbare Sultan noch die Gnade einer Audienz, was ſeit Menſchengedenken keinem Franken widerfahren war, und hielt dabei durch den Dolmetſcher eine nach orientaliſchen Begriffen wunderbar freundliche Anſprache. Er er- kundigte ſich zuerſt nach der Geſundheit des Königs, erklärte ſodann, *) Müffling’s Berichte, 6., 11., 13., 16. Aug. 1829. **) Müffling an Diebitſch, Pera 16. Auguſt. Diebitſch’s Antwort, Adrianopel 11/23. Auguſt 1829.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 744. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/760>, abgerufen am 24.11.2024.