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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
Russen zuvorkam und die Donaufürstenthümer rasch besetzte, so mußte Ruß-
land mit ihr wohl oder übel sich verständigen und dem Donaureiche ward
sein natürliches Machtgebiet bis zur Mündung seines Stromes gesichert;
denn noch war das rumänische Nationalgefühl nicht erwacht, noch war es
möglich, alle Rumänier in Ungarn, Siebenbürgen, der Moldau und der
Wallachei mittelbar oder unmittelbar unter dem österreichischen Scepter
zu vereinigen. Czar Nikolaus fürchtete in der That solche Versuche; er
gab seinem Oberfeldherrn Wittgenstein die Weisung, sich mit den Waffen
den Weg zu bahnen, falls die Oesterreicher in den Donaufürstenthümern
sich dem Marsche der Russen widersetzen sollten. Aber die unwiederbring-
liche große Stunde verging unbenutzt. Der elende Zustand des öster-
reichischen Heeres verbot einen raschen Vorstoß, und Metternich hatte sich
in die Doktrin von der Unantastbarkeit der Türkei längst so tief ein-
gelebt, daß er die Interessen seines Staates im Oriente nicht mehr
unbefangen wahren konnte. Er vergeudete die kostbare Zeit mit müßigen
diplomatischen Verhandlungen, empfahl in London und Paris dringend
die Aufrechterhaltung des Londoner Vertrags, den er vor Kurzem noch
für dümmer als dumm erklärt hatte. Im December hatte er noch ge-
prahlt: könnte ich nur wenige Tage in Konstantinopel weilen, "so würde
ich den Rummel bald beendigen"; jetzt verlor er auch bei der Pforte jedes
Ansehen, da keine seiner Vorhersagungen eingetroffen war, und sein Gentz
jammerte: der Autokrat wird am Bosporus thronen!

Unbelästigt von Oesterreich überschwemmte das russische Heer die
Donaufürstenthümer. Dann aber zeigte sich, wie unmäßig die Welt die
Angriffskraft Rußlands überschätzt hatte. Nach langjährigen Vorbe-
reitungen konnte der Czar den Krieg erst sehr spät, erst im Juni begin-
nen und nur mit etwa 100000 Mann. Auch der Heldenmuth der grie-
chischen Rebellen erschien jetzt erst in seinem vollen Glanze. Dies türkische
Heer, das die verachteten hellenischen Klephten niemals hatte ganz bezwingen
können, hielt den Russen Stand -- nur zwei Jahre nach seiner Neubil-
dung, nach der Vernichtung der Janitscharen -- und vertheidigte die Bal-
kanfestungen mit einem Löwenmuthe, der an die großen Tage Suleiman's
erinnerte. Die Russen errangen, trotz oder wegen der Anwesenheit des
Czaren, keinen erheblichen Vortheil; nur Varna wurde erobert, und
in Kleinasien drang Feldmarschall Paskiewitsch vom Kaukasus her sieg-
reich vor. Ein zweiter Feldzug ward unvermeidlich, und er versprach
sicheren Erfolg; denn das gelichtete russische Heer erhielt beträchtliche Ver-
stärkungen, und Czar Nikolaus sah ein, daß er kein Feldherr war, er
legte den Oberbefehl in die kräftigen Hände des Preußen Diebitsch.

Um so bedrohlicher gestaltete sich die diplomatische Lage. Metternich
hatte nach den geringen Erfolgen der Russen frischen Muth geschöpft,
und bemühte sich, einen Bund aller vier Großmächte gegen Rußland zu
Stande zu bringen. Preußen und Frankreich verweigerten ihren Beitritt,

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Ruſſen zuvorkam und die Donaufürſtenthümer raſch beſetzte, ſo mußte Ruß-
land mit ihr wohl oder übel ſich verſtändigen und dem Donaureiche ward
ſein natürliches Machtgebiet bis zur Mündung ſeines Stromes geſichert;
denn noch war das rumäniſche Nationalgefühl nicht erwacht, noch war es
möglich, alle Rumänier in Ungarn, Siebenbürgen, der Moldau und der
Wallachei mittelbar oder unmittelbar unter dem öſterreichiſchen Scepter
zu vereinigen. Czar Nikolaus fürchtete in der That ſolche Verſuche; er
gab ſeinem Oberfeldherrn Wittgenſtein die Weiſung, ſich mit den Waffen
den Weg zu bahnen, falls die Oeſterreicher in den Donaufürſtenthümern
ſich dem Marſche der Ruſſen widerſetzen ſollten. Aber die unwiederbring-
liche große Stunde verging unbenutzt. Der elende Zuſtand des öſter-
reichiſchen Heeres verbot einen raſchen Vorſtoß, und Metternich hatte ſich
in die Doktrin von der Unantaſtbarkeit der Türkei längſt ſo tief ein-
gelebt, daß er die Intereſſen ſeines Staates im Oriente nicht mehr
unbefangen wahren konnte. Er vergeudete die koſtbare Zeit mit müßigen
diplomatiſchen Verhandlungen, empfahl in London und Paris dringend
die Aufrechterhaltung des Londoner Vertrags, den er vor Kurzem noch
für dümmer als dumm erklärt hatte. Im December hatte er noch ge-
prahlt: könnte ich nur wenige Tage in Konſtantinopel weilen, „ſo würde
ich den Rummel bald beendigen“; jetzt verlor er auch bei der Pforte jedes
Anſehen, da keine ſeiner Vorherſagungen eingetroffen war, und ſein Gentz
jammerte: der Autokrat wird am Bosporus thronen!

Unbeläſtigt von Oeſterreich überſchwemmte das ruſſiſche Heer die
Donaufürſtenthümer. Dann aber zeigte ſich, wie unmäßig die Welt die
Angriffskraft Rußlands überſchätzt hatte. Nach langjährigen Vorbe-
reitungen konnte der Czar den Krieg erſt ſehr ſpät, erſt im Juni begin-
nen und nur mit etwa 100000 Mann. Auch der Heldenmuth der grie-
chiſchen Rebellen erſchien jetzt erſt in ſeinem vollen Glanze. Dies türkiſche
Heer, das die verachteten helleniſchen Klephten niemals hatte ganz bezwingen
können, hielt den Ruſſen Stand — nur zwei Jahre nach ſeiner Neubil-
dung, nach der Vernichtung der Janitſcharen — und vertheidigte die Bal-
kanfeſtungen mit einem Löwenmuthe, der an die großen Tage Suleiman’s
erinnerte. Die Ruſſen errangen, trotz oder wegen der Anweſenheit des
Czaren, keinen erheblichen Vortheil; nur Varna wurde erobert, und
in Kleinaſien drang Feldmarſchall Paskiewitſch vom Kaukaſus her ſieg-
reich vor. Ein zweiter Feldzug ward unvermeidlich, und er verſprach
ſicheren Erfolg; denn das gelichtete ruſſiſche Heer erhielt beträchtliche Ver-
ſtärkungen, und Czar Nikolaus ſah ein, daß er kein Feldherr war, er
legte den Oberbefehl in die kräftigen Hände des Preußen Diebitſch.

Um ſo bedrohlicher geſtaltete ſich die diplomatiſche Lage. Metternich
hatte nach den geringen Erfolgen der Ruſſen friſchen Muth geſchöpft,
und bemühte ſich, einen Bund aller vier Großmächte gegen Rußland zu
Stande zu bringen. Preußen und Frankreich verweigerten ihren Beitritt,

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[738/0754] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. Ruſſen zuvorkam und die Donaufürſtenthümer raſch beſetzte, ſo mußte Ruß- land mit ihr wohl oder übel ſich verſtändigen und dem Donaureiche ward ſein natürliches Machtgebiet bis zur Mündung ſeines Stromes geſichert; denn noch war das rumäniſche Nationalgefühl nicht erwacht, noch war es möglich, alle Rumänier in Ungarn, Siebenbürgen, der Moldau und der Wallachei mittelbar oder unmittelbar unter dem öſterreichiſchen Scepter zu vereinigen. Czar Nikolaus fürchtete in der That ſolche Verſuche; er gab ſeinem Oberfeldherrn Wittgenſtein die Weiſung, ſich mit den Waffen den Weg zu bahnen, falls die Oeſterreicher in den Donaufürſtenthümern ſich dem Marſche der Ruſſen widerſetzen ſollten. Aber die unwiederbring- liche große Stunde verging unbenutzt. Der elende Zuſtand des öſter- reichiſchen Heeres verbot einen raſchen Vorſtoß, und Metternich hatte ſich in die Doktrin von der Unantaſtbarkeit der Türkei längſt ſo tief ein- gelebt, daß er die Intereſſen ſeines Staates im Oriente nicht mehr unbefangen wahren konnte. Er vergeudete die koſtbare Zeit mit müßigen diplomatiſchen Verhandlungen, empfahl in London und Paris dringend die Aufrechterhaltung des Londoner Vertrags, den er vor Kurzem noch für dümmer als dumm erklärt hatte. Im December hatte er noch ge- prahlt: könnte ich nur wenige Tage in Konſtantinopel weilen, „ſo würde ich den Rummel bald beendigen“; jetzt verlor er auch bei der Pforte jedes Anſehen, da keine ſeiner Vorherſagungen eingetroffen war, und ſein Gentz jammerte: der Autokrat wird am Bosporus thronen! Unbeläſtigt von Oeſterreich überſchwemmte das ruſſiſche Heer die Donaufürſtenthümer. Dann aber zeigte ſich, wie unmäßig die Welt die Angriffskraft Rußlands überſchätzt hatte. Nach langjährigen Vorbe- reitungen konnte der Czar den Krieg erſt ſehr ſpät, erſt im Juni begin- nen und nur mit etwa 100000 Mann. Auch der Heldenmuth der grie- chiſchen Rebellen erſchien jetzt erſt in ſeinem vollen Glanze. Dies türkiſche Heer, das die verachteten helleniſchen Klephten niemals hatte ganz bezwingen können, hielt den Ruſſen Stand — nur zwei Jahre nach ſeiner Neubil- dung, nach der Vernichtung der Janitſcharen — und vertheidigte die Bal- kanfeſtungen mit einem Löwenmuthe, der an die großen Tage Suleiman’s erinnerte. Die Ruſſen errangen, trotz oder wegen der Anweſenheit des Czaren, keinen erheblichen Vortheil; nur Varna wurde erobert, und in Kleinaſien drang Feldmarſchall Paskiewitſch vom Kaukaſus her ſieg- reich vor. Ein zweiter Feldzug ward unvermeidlich, und er verſprach ſicheren Erfolg; denn das gelichtete ruſſiſche Heer erhielt beträchtliche Ver- ſtärkungen, und Czar Nikolaus ſah ein, daß er kein Feldherr war, er legte den Oberbefehl in die kräftigen Hände des Preußen Diebitſch. Um ſo bedrohlicher geſtaltete ſich die diplomatiſche Lage. Metternich hatte nach den geringen Erfolgen der Ruſſen friſchen Muth geſchöpft, und bemühte ſich, einen Bund aller vier Großmächte gegen Rußland zu Stande zu bringen. Preußen und Frankreich verweigerten ihren Beitritt,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 738. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/754>, abgerufen am 22.11.2024.