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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
willen besprochen wurde. Nur der Hamburger J. L. v. Heß, derselbe, der
schon im Jahre 1814 für "die Freiheit der Hansestädte" geschrieben hatte,
sendete eine Erwiderung hinaus: "Aus Norddeutschland, kein Manuscript".
Der wackere Freistädter sprach noch ganz im Geiste des weitherzigen Patrio-
tismus der Befreiungskriege, frei von partikularistischer Empfindlichkeit,
obschon er nach hanseatischem Brauche die "unbelastete Freiheit" des Ham-
burger Handels etwas überschätzte; er hielt fest an der Hoffnung, daß der
Staat, der jenen nationalen Kampf begonnen, dereinst noch "der Eini-
gungspunkt für Deutschland" werden müsse, und beschämte den Gegner
durch den unwiderleglichen Vorwurf, daß noch niemals ein norddeutscher
Schriftsteller -- auch nicht in den Tagen, da die Baiern noch unter
Frankreichs Fahnen fochten -- ebenso boshaft und lieblos über seine süd-
deutschen Brüder geredet habe.

An den Höfen von Wien und Berlin erregte der offene Aufruf zum
Bundesbruche lebhafte Besorgniß. Man forschte eifrig nach dem Ver-
fasser und rieth anfangs auf Hörmann oder Aretin, da der Pamphletist
selber in der Einleitung auf Baiern als seine Heimath hindeutete; auch
Wangenheim erklärte auf den Darmstädter Conferenzen, das Buch könne
nur von der Partei Montgelas' herrühren.*) Nachher blieb ein drin-
gender, unwiderlegter Verdacht auf Lindner haften, und nunmehr trat
das Libell erst in das rechte Licht. Die Lästerungen jener fanatischen
Bajuvaren wider den Norden entsprangen doch zum Theil der Unkennt-
niß; dieser Kurländer aber, der mit dem niederdeutschen Leben von Kin-
desbeinen an vertraut war, konnte sein widerliches Zerrbild vom nord-
deutschen Volksthum unmöglich in gutem Glauben entworfen haben, er
mußte die Absicht hegen den Süden gegen den Norden aufzuwiegeln,
und in der That ist dies schlechte Handwerk, von Lindner an bis herab
auf die neuesten Zeiten, immer von norddeutschen Ueberläufern mit be-
sonderem Eifer getrieben worden. Man wußte, daß Lindner von König
Wilhelm zuweilen geheime literarische Aufträge empfing; soeben erst hatte
er gegen den Liberalen Keßler, der durch freimüthige Besprechung würt-
tembergischer Zustände dem Hofe lästig fiel, einen gehässigen Federkrieg
geführt.**) Doch jede Mitschuld des Königs an dem Manuscript wurde von
Wintzingerode, auf Befehl seines Herrn, entschieden abgeleugnet, und sie
schien auch kaum denkbar. Wer hätte glauben mögen, daß der Held von
Montereau jetzt den Rheinbund vertheidigen und seine eigenen Verdienste
mit so unziemlichem und unwahrem Selbstlobe der Nation anpreisen sollte?
Als aber Wintzingerode strenges Einschreiten gegen Lindner verlangte,
weil das Treiben "dieser liberalen Tollhäusler" die Großmächte un-
fehlbar erbittern müsse, da weigerte sich der König beharrlich, und erst

*) Nebenius' Bericht an Berstett, Darmstadt 14. Nov. 1820.
**) Küster's Bericht, 12. Febr. 1820.

III. 1. Die Wiener Conferenzen.
willen beſprochen wurde. Nur der Hamburger J. L. v. Heß, derſelbe, der
ſchon im Jahre 1814 für „die Freiheit der Hanſeſtädte“ geſchrieben hatte,
ſendete eine Erwiderung hinaus: „Aus Norddeutſchland, kein Manuſcript“.
Der wackere Freiſtädter ſprach noch ganz im Geiſte des weitherzigen Patrio-
tismus der Befreiungskriege, frei von partikulariſtiſcher Empfindlichkeit,
obſchon er nach hanſeatiſchem Brauche die „unbelaſtete Freiheit“ des Ham-
burger Handels etwas überſchätzte; er hielt feſt an der Hoffnung, daß der
Staat, der jenen nationalen Kampf begonnen, dereinſt noch „der Eini-
gungspunkt für Deutſchland“ werden müſſe, und beſchämte den Gegner
durch den unwiderleglichen Vorwurf, daß noch niemals ein norddeutſcher
Schriftſteller — auch nicht in den Tagen, da die Baiern noch unter
Frankreichs Fahnen fochten — ebenſo boshaft und lieblos über ſeine ſüd-
deutſchen Brüder geredet habe.

An den Höfen von Wien und Berlin erregte der offene Aufruf zum
Bundesbruche lebhafte Beſorgniß. Man forſchte eifrig nach dem Ver-
faſſer und rieth anfangs auf Hörmann oder Aretin, da der Pamphletiſt
ſelber in der Einleitung auf Baiern als ſeine Heimath hindeutete; auch
Wangenheim erklärte auf den Darmſtädter Conferenzen, das Buch könne
nur von der Partei Montgelas’ herrühren.*) Nachher blieb ein drin-
gender, unwiderlegter Verdacht auf Lindner haften, und nunmehr trat
das Libell erſt in das rechte Licht. Die Läſterungen jener fanatiſchen
Bajuvaren wider den Norden entſprangen doch zum Theil der Unkennt-
niß; dieſer Kurländer aber, der mit dem niederdeutſchen Leben von Kin-
desbeinen an vertraut war, konnte ſein widerliches Zerrbild vom nord-
deutſchen Volksthum unmöglich in gutem Glauben entworfen haben, er
mußte die Abſicht hegen den Süden gegen den Norden aufzuwiegeln,
und in der That iſt dies ſchlechte Handwerk, von Lindner an bis herab
auf die neueſten Zeiten, immer von norddeutſchen Ueberläufern mit be-
ſonderem Eifer getrieben worden. Man wußte, daß Lindner von König
Wilhelm zuweilen geheime literariſche Aufträge empfing; ſoeben erſt hatte
er gegen den Liberalen Keßler, der durch freimüthige Beſprechung würt-
tembergiſcher Zuſtände dem Hofe läſtig fiel, einen gehäſſigen Federkrieg
geführt.**) Doch jede Mitſchuld des Königs an dem Manuſcript wurde von
Wintzingerode, auf Befehl ſeines Herrn, entſchieden abgeleugnet, und ſie
ſchien auch kaum denkbar. Wer hätte glauben mögen, daß der Held von
Montereau jetzt den Rheinbund vertheidigen und ſeine eigenen Verdienſte
mit ſo unziemlichem und unwahrem Selbſtlobe der Nation anpreiſen ſollte?
Als aber Wintzingerode ſtrenges Einſchreiten gegen Lindner verlangte,
weil das Treiben „dieſer liberalen Tollhäusler“ die Großmächte un-
fehlbar erbittern müſſe, da weigerte ſich der König beharrlich, und erſt

*) Nebenius’ Bericht an Berſtett, Darmſtadt 14. Nov. 1820.
**) Küſter’s Bericht, 12. Febr. 1820.
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[58/0074] III. 1. Die Wiener Conferenzen. willen beſprochen wurde. Nur der Hamburger J. L. v. Heß, derſelbe, der ſchon im Jahre 1814 für „die Freiheit der Hanſeſtädte“ geſchrieben hatte, ſendete eine Erwiderung hinaus: „Aus Norddeutſchland, kein Manuſcript“. Der wackere Freiſtädter ſprach noch ganz im Geiſte des weitherzigen Patrio- tismus der Befreiungskriege, frei von partikulariſtiſcher Empfindlichkeit, obſchon er nach hanſeatiſchem Brauche die „unbelaſtete Freiheit“ des Ham- burger Handels etwas überſchätzte; er hielt feſt an der Hoffnung, daß der Staat, der jenen nationalen Kampf begonnen, dereinſt noch „der Eini- gungspunkt für Deutſchland“ werden müſſe, und beſchämte den Gegner durch den unwiderleglichen Vorwurf, daß noch niemals ein norddeutſcher Schriftſteller — auch nicht in den Tagen, da die Baiern noch unter Frankreichs Fahnen fochten — ebenſo boshaft und lieblos über ſeine ſüd- deutſchen Brüder geredet habe. An den Höfen von Wien und Berlin erregte der offene Aufruf zum Bundesbruche lebhafte Beſorgniß. Man forſchte eifrig nach dem Ver- faſſer und rieth anfangs auf Hörmann oder Aretin, da der Pamphletiſt ſelber in der Einleitung auf Baiern als ſeine Heimath hindeutete; auch Wangenheim erklärte auf den Darmſtädter Conferenzen, das Buch könne nur von der Partei Montgelas’ herrühren. *) Nachher blieb ein drin- gender, unwiderlegter Verdacht auf Lindner haften, und nunmehr trat das Libell erſt in das rechte Licht. Die Läſterungen jener fanatiſchen Bajuvaren wider den Norden entſprangen doch zum Theil der Unkennt- niß; dieſer Kurländer aber, der mit dem niederdeutſchen Leben von Kin- desbeinen an vertraut war, konnte ſein widerliches Zerrbild vom nord- deutſchen Volksthum unmöglich in gutem Glauben entworfen haben, er mußte die Abſicht hegen den Süden gegen den Norden aufzuwiegeln, und in der That iſt dies ſchlechte Handwerk, von Lindner an bis herab auf die neueſten Zeiten, immer von norddeutſchen Ueberläufern mit be- ſonderem Eifer getrieben worden. Man wußte, daß Lindner von König Wilhelm zuweilen geheime literariſche Aufträge empfing; ſoeben erſt hatte er gegen den Liberalen Keßler, der durch freimüthige Beſprechung würt- tembergiſcher Zuſtände dem Hofe läſtig fiel, einen gehäſſigen Federkrieg geführt. **) Doch jede Mitſchuld des Königs an dem Manuſcript wurde von Wintzingerode, auf Befehl ſeines Herrn, entſchieden abgeleugnet, und ſie ſchien auch kaum denkbar. Wer hätte glauben mögen, daß der Held von Montereau jetzt den Rheinbund vertheidigen und ſeine eigenen Verdienſte mit ſo unziemlichem und unwahrem Selbſtlobe der Nation anpreiſen ſollte? Als aber Wintzingerode ſtrenges Einſchreiten gegen Lindner verlangte, weil das Treiben „dieſer liberalen Tollhäusler“ die Großmächte un- fehlbar erbittern müſſe, da weigerte ſich der König beharrlich, und erſt *) Nebenius’ Bericht an Berſtett, Darmſtadt 14. Nov. 1820. **) Küſter’s Bericht, 12. Febr. 1820.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/74>, abgerufen am 22.11.2024.