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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
wissenschaftlicher Schärfe den Begriff der historischen Entwicklung, des Fort-
schreitens von niederen Gesittungsformen zu höheren, welche die niederen
in sich enthalten, und er zeigte zugleich wie dieser neue Gedanke zu hand-
haben sei, indem er mit wenigen Meisterstrichen den inneren Zusammen-
hang der Epochen unbewußten Schaffens und bewußter Reflexion darstellte.

Darum wirkten seine Ideen mittelbar oder unmittelbar auch auf
solche Historiker, welche die Geschichtsconstructionen des Philosophen ver-
abscheuten. Was unvergänglich war in Hegel's Geschichtsphilosophie, lebte
in Ranke's Werken fort, auch Droysen und viele andere der jüngeren
Historiker erweiterten ihren Gesichtskreis in Hegel's Schule. Die viel-
jährige Herrschaft der Hegelianer auf den Lehranstalten Preußens und
Württembergs beförderte die Vielseitigkeit der Bildung und die Zucht des
Denkens; selbst wer den Formeln des Systems sich nicht beugte, lernte
doch verstehen, daß formloses Wissen gar kein Wissen ist.

Aber ebenso deutlich zeigten sich auch die gefährlichen Folgen der
neuen Lehre in dem maßlosen sophistischen Dünkel, den sie ihren Jüngern
einflößte. Der rechtgläubige Hegelianer vermochte Alles was je geschehen,
gedacht oder gethan war, als aufgehobenes Moment, als überwundenen
Standpunkt in irgend einem Paragraphen seines allumfassenden Systems
nachzuweisen. Ihm blieb eigentlich nur noch die eine Frage unlösbar, welche
ein vorwitziger Schüler in der That aufwarf: was denn der Weltgeist jetzt
noch beginnen solle, nachdem er in der absoluten Philosophie seine Vollen-
dung gefunden habe? In solcher Ueberhebung wurden die Philosophen be-
stärkt durch ihre allen Nichteingeweihten unverständliche Schulsprache. Der
Meister selbst bewährte, wenn er sich in den Anmerkungen und Excursen
frei gehen ließ, immer die natürliche Sprachgewalt des Genius; manches
schöne alterthümliche Wort hat er dem modernen Sprachschatze wiederge-
geben, so das bezeichnende "von Haus aus". In den Paragraphen hin-
gegen befliß er sich barbarischer Kunstausdrücke, welche das Klare verdunkel-
ten, das Einfache verwirrten, und die Jünger säumten nicht, die Unart des
Lehrers noch zu überbieten. Da die Grundlagen des Systems in der Luft
standen, so gelangten seine Bekenner mit Hilfe der Alles beweisenden dia-
lektischen Methode zu Folgerungen, die nach allen Richtungen der Wind-
rose auseinandergingen; und diese Philosophie, die sich mit ihrer Objekti-
vität brüstete, entfesselte schließlich einen Schwall wirr durcheinander wo-
gender subjektiver Meinungen.

Der Satz "das Vernünftige ist wirklich" enthielt eine tiefe Wahrheit,
aber nicht die ganze Wahrheit. Er sagte nicht, daß in dieser wirklichen
und vernünftigen Welt auch das Unvernünftige und das nur scheinbar
Wirkliche besteht; er sagte noch weniger, daß der schaffende Geist berufen
ist, in dem Werdenden das Vollendete zu ahnen, in den Keimen neuen
Lebens schon die Wirklichkeit der Zukunft voraus zu erkennen. Nackt hin-
gestellt konnte er also leicht im Sinne einer gedankenlosen Ruheseligkeit

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
wiſſenſchaftlicher Schärfe den Begriff der hiſtoriſchen Entwicklung, des Fort-
ſchreitens von niederen Geſittungsformen zu höheren, welche die niederen
in ſich enthalten, und er zeigte zugleich wie dieſer neue Gedanke zu hand-
haben ſei, indem er mit wenigen Meiſterſtrichen den inneren Zuſammen-
hang der Epochen unbewußten Schaffens und bewußter Reflexion darſtellte.

Darum wirkten ſeine Ideen mittelbar oder unmittelbar auch auf
ſolche Hiſtoriker, welche die Geſchichtsconſtructionen des Philoſophen ver-
abſcheuten. Was unvergänglich war in Hegel’s Geſchichtsphiloſophie, lebte
in Ranke’s Werken fort, auch Droyſen und viele andere der jüngeren
Hiſtoriker erweiterten ihren Geſichtskreis in Hegel’s Schule. Die viel-
jährige Herrſchaft der Hegelianer auf den Lehranſtalten Preußens und
Württembergs beförderte die Vielſeitigkeit der Bildung und die Zucht des
Denkens; ſelbſt wer den Formeln des Syſtems ſich nicht beugte, lernte
doch verſtehen, daß formloſes Wiſſen gar kein Wiſſen iſt.

Aber ebenſo deutlich zeigten ſich auch die gefährlichen Folgen der
neuen Lehre in dem maßloſen ſophiſtiſchen Dünkel, den ſie ihren Jüngern
einflößte. Der rechtgläubige Hegelianer vermochte Alles was je geſchehen,
gedacht oder gethan war, als aufgehobenes Moment, als überwundenen
Standpunkt in irgend einem Paragraphen ſeines allumfaſſenden Syſtems
nachzuweiſen. Ihm blieb eigentlich nur noch die eine Frage unlösbar, welche
ein vorwitziger Schüler in der That aufwarf: was denn der Weltgeiſt jetzt
noch beginnen ſolle, nachdem er in der abſoluten Philoſophie ſeine Vollen-
dung gefunden habe? In ſolcher Ueberhebung wurden die Philoſophen be-
ſtärkt durch ihre allen Nichteingeweihten unverſtändliche Schulſprache. Der
Meiſter ſelbſt bewährte, wenn er ſich in den Anmerkungen und Excurſen
frei gehen ließ, immer die natürliche Sprachgewalt des Genius; manches
ſchöne alterthümliche Wort hat er dem modernen Sprachſchatze wiederge-
geben, ſo das bezeichnende „von Haus aus“. In den Paragraphen hin-
gegen befliß er ſich barbariſcher Kunſtausdrücke, welche das Klare verdunkel-
ten, das Einfache verwirrten, und die Jünger ſäumten nicht, die Unart des
Lehrers noch zu überbieten. Da die Grundlagen des Syſtems in der Luft
ſtanden, ſo gelangten ſeine Bekenner mit Hilfe der Alles beweiſenden dia-
lektiſchen Methode zu Folgerungen, die nach allen Richtungen der Wind-
roſe auseinandergingen; und dieſe Philoſophie, die ſich mit ihrer Objekti-
vität brüſtete, entfeſſelte ſchließlich einen Schwall wirr durcheinander wo-
gender ſubjektiver Meinungen.

Der Satz „das Vernünftige iſt wirklich“ enthielt eine tiefe Wahrheit,
aber nicht die ganze Wahrheit. Er ſagte nicht, daß in dieſer wirklichen
und vernünftigen Welt auch das Unvernünftige und das nur ſcheinbar
Wirkliche beſteht; er ſagte noch weniger, daß der ſchaffende Geiſt berufen
iſt, in dem Werdenden das Vollendete zu ahnen, in den Keimen neuen
Lebens ſchon die Wirklichkeit der Zukunft voraus zu erkennen. Nackt hin-
geſtellt konnte er alſo leicht im Sinne einer gedankenloſen Ruheſeligkeit

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[720/0736] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. wiſſenſchaftlicher Schärfe den Begriff der hiſtoriſchen Entwicklung, des Fort- ſchreitens von niederen Geſittungsformen zu höheren, welche die niederen in ſich enthalten, und er zeigte zugleich wie dieſer neue Gedanke zu hand- haben ſei, indem er mit wenigen Meiſterſtrichen den inneren Zuſammen- hang der Epochen unbewußten Schaffens und bewußter Reflexion darſtellte. Darum wirkten ſeine Ideen mittelbar oder unmittelbar auch auf ſolche Hiſtoriker, welche die Geſchichtsconſtructionen des Philoſophen ver- abſcheuten. Was unvergänglich war in Hegel’s Geſchichtsphiloſophie, lebte in Ranke’s Werken fort, auch Droyſen und viele andere der jüngeren Hiſtoriker erweiterten ihren Geſichtskreis in Hegel’s Schule. Die viel- jährige Herrſchaft der Hegelianer auf den Lehranſtalten Preußens und Württembergs beförderte die Vielſeitigkeit der Bildung und die Zucht des Denkens; ſelbſt wer den Formeln des Syſtems ſich nicht beugte, lernte doch verſtehen, daß formloſes Wiſſen gar kein Wiſſen iſt. Aber ebenſo deutlich zeigten ſich auch die gefährlichen Folgen der neuen Lehre in dem maßloſen ſophiſtiſchen Dünkel, den ſie ihren Jüngern einflößte. Der rechtgläubige Hegelianer vermochte Alles was je geſchehen, gedacht oder gethan war, als aufgehobenes Moment, als überwundenen Standpunkt in irgend einem Paragraphen ſeines allumfaſſenden Syſtems nachzuweiſen. Ihm blieb eigentlich nur noch die eine Frage unlösbar, welche ein vorwitziger Schüler in der That aufwarf: was denn der Weltgeiſt jetzt noch beginnen ſolle, nachdem er in der abſoluten Philoſophie ſeine Vollen- dung gefunden habe? In ſolcher Ueberhebung wurden die Philoſophen be- ſtärkt durch ihre allen Nichteingeweihten unverſtändliche Schulſprache. Der Meiſter ſelbſt bewährte, wenn er ſich in den Anmerkungen und Excurſen frei gehen ließ, immer die natürliche Sprachgewalt des Genius; manches ſchöne alterthümliche Wort hat er dem modernen Sprachſchatze wiederge- geben, ſo das bezeichnende „von Haus aus“. In den Paragraphen hin- gegen befliß er ſich barbariſcher Kunſtausdrücke, welche das Klare verdunkel- ten, das Einfache verwirrten, und die Jünger ſäumten nicht, die Unart des Lehrers noch zu überbieten. Da die Grundlagen des Syſtems in der Luft ſtanden, ſo gelangten ſeine Bekenner mit Hilfe der Alles beweiſenden dia- lektiſchen Methode zu Folgerungen, die nach allen Richtungen der Wind- roſe auseinandergingen; und dieſe Philoſophie, die ſich mit ihrer Objekti- vität brüſtete, entfeſſelte ſchließlich einen Schwall wirr durcheinander wo- gender ſubjektiver Meinungen. Der Satz „das Vernünftige iſt wirklich“ enthielt eine tiefe Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Er ſagte nicht, daß in dieſer wirklichen und vernünftigen Welt auch das Unvernünftige und das nur ſcheinbar Wirkliche beſteht; er ſagte noch weniger, daß der ſchaffende Geiſt berufen iſt, in dem Werdenden das Vollendete zu ahnen, in den Keimen neuen Lebens ſchon die Wirklichkeit der Zukunft voraus zu erkennen. Nackt hin- geſtellt konnte er alſo leicht im Sinne einer gedankenloſen Ruheſeligkeit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/736>, abgerufen am 22.11.2024.