bung mit unterlaufen, aus dem Allen sprach ein Ernst der Staatsgesin- nung, der den älteren deutschen Philosophen fremd war.
Dies Verständniß für das Wesen des Staates ergab sich nothwendig aus Hegel's durchgebildetem historischen Sinne. Ein Denker, der in allem Leben der Welt nur Werden sah, mußte von dem Drange nach geschicht- lichem Verständniß, der die ganze Zeit beherrschte, noch stärker sogar als Schelling ergriffen werden. Er sah, daß die göttliche Vernunft nur ge- brochen in tausend Strahlen dem Sterblichen erkennbar wird, daß die Idee der Menschheit nur in der Gesammtheit der Geschichte sich vollendet. Darum grübelte er nicht, wie so viele Philosophen vor ihm, über die dunklen Räthsel des Anfangs und des Endes der Geschichte; er wollte weder sehn- süchtig zurückblicken nach der verlorenen Unschuld eines goldenen Zeitalters, noch die Welt vertrösten auf ein besseres Jenseits, sondern stellte sich herz- haft auf den Boden der historischen Wirklichkeit und fand in ihr, in der unend- lichen Mannichfaltigkeit der menschlichen Gesittung die Entfaltung des göttlichen Gedankens. Hegel's Philosophie der Geschichte war seine größte wissenschaftliche That, fast ebenso folgenreich wie einst Kant's Pflichtenlehre. Auch sie war, wie alle fruchtbaren Ideen, nicht schlechthin neu, sondern von langer Hand her, schon durch Kant und Herder vorbereitet. Aus Kant's Abhandlung über den Anfang des Menschengeschlechts entnahm Hegel die Idee des Fortschritts der Menschheit, jedoch er vertiefte und belebte sie, indem er nicht ein gradliniges Aufsteigen annahm, sondern, wie Herder, in jedem Volke einen eigenen Gedanken Gottes fand, jeder Zeit ihr eigenes Maß der Sittlichkeit zugestand. In jedem Weltalter er- kannte er ein führendes Volk, das die Leuchte des Lebens eine Zeit lang trug um sie dann anderen Händen zu übergeben. Der historische Mensch erschien in dieser Darstellung zugleich unermeßlich groß als Träger der Idee und verschwindend klein neben den weltbauenden Gesetzen der gött- lichen Vernunft.
Wohl trat die construirende Willkür des Philosophen auch hier überall zu Tage. Er hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen sprach, wenig Ehrfurcht vor den Thatsachen und rückte sich das Geschehene, oft nur der heiligen Dreizahl zu Liebe, gewaltsam zurecht. Eine Geschichts- philosophie, die ihre Blicke immer nur auf die Zukunft gerichtet hielt, mußte zu weitsichtig werden; sie gab stets dem Sieger Recht und hatte kein Herz für das Heldenthum der Unterliegenden, für das heilige Pflicht- gefühl, das einen Hannibal, einen Demosthenes trieb ein versinkendes Volksthum zu retten; sie verstand nicht die hohe Tragik der welthistorischen Kämpfe. Befangen in ihrem glücklichen Optimismus fand sie vollends keine Antwort auf die schwere Gewissensfrage: warum der einzelne Mensch bei dem ewigen Fortschreiten seines Geschlechts so schwach und sündhaft bleibt wie er immer war? Gleichwohl blieb aus einer Fülle von Irr- thümern ein unvergänglicher Gewinn zurück. Hegel zuerst erkannte mit
Hegel’s Rechts- und Geſchichtsphiloſophie.
bung mit unterlaufen, aus dem Allen ſprach ein Ernſt der Staatsgeſin- nung, der den älteren deutſchen Philoſophen fremd war.
Dies Verſtändniß für das Weſen des Staates ergab ſich nothwendig aus Hegel’s durchgebildetem hiſtoriſchen Sinne. Ein Denker, der in allem Leben der Welt nur Werden ſah, mußte von dem Drange nach geſchicht- lichem Verſtändniß, der die ganze Zeit beherrſchte, noch ſtärker ſogar als Schelling ergriffen werden. Er ſah, daß die göttliche Vernunft nur ge- brochen in tauſend Strahlen dem Sterblichen erkennbar wird, daß die Idee der Menſchheit nur in der Geſammtheit der Geſchichte ſich vollendet. Darum grübelte er nicht, wie ſo viele Philoſophen vor ihm, über die dunklen Räthſel des Anfangs und des Endes der Geſchichte; er wollte weder ſehn- ſüchtig zurückblicken nach der verlorenen Unſchuld eines goldenen Zeitalters, noch die Welt vertröſten auf ein beſſeres Jenſeits, ſondern ſtellte ſich herz- haft auf den Boden der hiſtoriſchen Wirklichkeit und fand in ihr, in der unend- lichen Mannichfaltigkeit der menſchlichen Geſittung die Entfaltung des göttlichen Gedankens. Hegel’s Philoſophie der Geſchichte war ſeine größte wiſſenſchaftliche That, faſt ebenſo folgenreich wie einſt Kant’s Pflichtenlehre. Auch ſie war, wie alle fruchtbaren Ideen, nicht ſchlechthin neu, ſondern von langer Hand her, ſchon durch Kant und Herder vorbereitet. Aus Kant’s Abhandlung über den Anfang des Menſchengeſchlechts entnahm Hegel die Idee des Fortſchritts der Menſchheit, jedoch er vertiefte und belebte ſie, indem er nicht ein gradliniges Aufſteigen annahm, ſondern, wie Herder, in jedem Volke einen eigenen Gedanken Gottes fand, jeder Zeit ihr eigenes Maß der Sittlichkeit zugeſtand. In jedem Weltalter er- kannte er ein führendes Volk, das die Leuchte des Lebens eine Zeit lang trug um ſie dann anderen Händen zu übergeben. Der hiſtoriſche Menſch erſchien in dieſer Darſtellung zugleich unermeßlich groß als Träger der Idee und verſchwindend klein neben den weltbauenden Geſetzen der gött- lichen Vernunft.
Wohl trat die conſtruirende Willkür des Philoſophen auch hier überall zu Tage. Er hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen ſprach, wenig Ehrfurcht vor den Thatſachen und rückte ſich das Geſchehene, oft nur der heiligen Dreizahl zu Liebe, gewaltſam zurecht. Eine Geſchichts- philoſophie, die ihre Blicke immer nur auf die Zukunft gerichtet hielt, mußte zu weitſichtig werden; ſie gab ſtets dem Sieger Recht und hatte kein Herz für das Heldenthum der Unterliegenden, für das heilige Pflicht- gefühl, das einen Hannibal, einen Demoſthenes trieb ein verſinkendes Volksthum zu retten; ſie verſtand nicht die hohe Tragik der welthiſtoriſchen Kämpfe. Befangen in ihrem glücklichen Optimismus fand ſie vollends keine Antwort auf die ſchwere Gewiſſensfrage: warum der einzelne Menſch bei dem ewigen Fortſchreiten ſeines Geſchlechts ſo ſchwach und ſündhaft bleibt wie er immer war? Gleichwohl blieb aus einer Fülle von Irr- thümern ein unvergänglicher Gewinn zurück. Hegel zuerſt erkannte mit
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Hegel’s Rechts- und Geſchichtsphiloſophie.
bung mit unterlaufen, aus dem Allen ſprach ein Ernſt der Staatsgeſin-
nung, der den älteren deutſchen Philoſophen fremd war.
Dies Verſtändniß für das Weſen des Staates ergab ſich nothwendig
aus Hegel’s durchgebildetem hiſtoriſchen Sinne. Ein Denker, der in allem
Leben der Welt nur Werden ſah, mußte von dem Drange nach geſchicht-
lichem Verſtändniß, der die ganze Zeit beherrſchte, noch ſtärker ſogar als
Schelling ergriffen werden. Er ſah, daß die göttliche Vernunft nur ge-
brochen in tauſend Strahlen dem Sterblichen erkennbar wird, daß die
Idee der Menſchheit nur in der Geſammtheit der Geſchichte ſich vollendet.
Darum grübelte er nicht, wie ſo viele Philoſophen vor ihm, über die dunklen
Räthſel des Anfangs und des Endes der Geſchichte; er wollte weder ſehn-
ſüchtig zurückblicken nach der verlorenen Unſchuld eines goldenen Zeitalters,
noch die Welt vertröſten auf ein beſſeres Jenſeits, ſondern ſtellte ſich herz-
haft auf den Boden der hiſtoriſchen Wirklichkeit und fand in ihr, in der unend-
lichen Mannichfaltigkeit der menſchlichen Geſittung die Entfaltung des
göttlichen Gedankens. Hegel’s Philoſophie der Geſchichte war ſeine größte
wiſſenſchaftliche That, faſt ebenſo folgenreich wie einſt Kant’s Pflichtenlehre.
Auch ſie war, wie alle fruchtbaren Ideen, nicht ſchlechthin neu, ſondern
von langer Hand her, ſchon durch Kant und Herder vorbereitet. Aus
Kant’s Abhandlung über den Anfang des Menſchengeſchlechts entnahm
Hegel die Idee des Fortſchritts der Menſchheit, jedoch er vertiefte und
belebte ſie, indem er nicht ein gradliniges Aufſteigen annahm, ſondern,
wie Herder, in jedem Volke einen eigenen Gedanken Gottes fand, jeder
Zeit ihr eigenes Maß der Sittlichkeit zugeſtand. In jedem Weltalter er-
kannte er ein führendes Volk, das die Leuchte des Lebens eine Zeit lang
trug um ſie dann anderen Händen zu übergeben. Der hiſtoriſche Menſch
erſchien in dieſer Darſtellung zugleich unermeßlich groß als Träger der
Idee und verſchwindend klein neben den weltbauenden Geſetzen der gött-
lichen Vernunft.
Wohl trat die conſtruirende Willkür des Philoſophen auch hier überall
zu Tage. Er hegte, obwohl er von der Vernünftigkeit des Wirklichen
ſprach, wenig Ehrfurcht vor den Thatſachen und rückte ſich das Geſchehene,
oft nur der heiligen Dreizahl zu Liebe, gewaltſam zurecht. Eine Geſchichts-
philoſophie, die ihre Blicke immer nur auf die Zukunft gerichtet hielt,
mußte zu weitſichtig werden; ſie gab ſtets dem Sieger Recht und hatte
kein Herz für das Heldenthum der Unterliegenden, für das heilige Pflicht-
gefühl, das einen Hannibal, einen Demoſthenes trieb ein verſinkendes
Volksthum zu retten; ſie verſtand nicht die hohe Tragik der welthiſtoriſchen
Kämpfe. Befangen in ihrem glücklichen Optimismus fand ſie vollends
keine Antwort auf die ſchwere Gewiſſensfrage: warum der einzelne Menſch
bei dem ewigen Fortſchreiten ſeines Geſchlechts ſo ſchwach und ſündhaft
bleibt wie er immer war? Gleichwohl blieb aus einer Fülle von Irr-
thümern ein unvergänglicher Gewinn zurück. Hegel zuerſt erkannte mit
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/735>, abgerufen am 22.11.2024.
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