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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Pilgerfahrten nach Paris.
Offiziere, die während des Krieges in Frankreich in Quartier lagen, hatten
wohl bemerkt, daß die große Mehrheit dieser Nation aus sparsamen, fleißi-
gen, furchtsamen Geschäftsleuten bestand und der militärische Geist dort
ungleich schwächer war als in Preußen. Diese richtige Erkenntniß ging
den Deutschen jetzt wieder verloren, seit die Schüler Börne's ihnen be-
harrlich erzählten: die ritterliche französische Nation kümmere sich wenig
um die niederen, wirthschaftlichen Sorgen, sie glühe vor Begierde sich
selber die Freiheit zu sichern um sie dann anderen Völkern großmüthig
mitzutheilen. Der Cultus der sogenannten Ideen von 89, der sich während
der Revolutionsjahre doch nur auf kleine Kreise der deutschen Gelehrten-
welt beschränkt hatte, wurde erst durch diese deutsch-französische Publicistik
in die breiten Massen unserer Mittelstände hineingetragen. Es war die
denkbar schlechteste politische Schule für ein Volk, das sich ohnehin zum
Doktrinarismus neigte.

Nach seiner Rückkehr aus Paris zeigte sich Börne fieberisch aufgeregt.
Er ersehnte die Revolution. Woher sie kommen und was sie bringen sollte,
das wußte er selber nicht. Da die Deutschen ruhig blieben, so schimpfte
er sie aus, ebenso unfläthig wie einst Saul Ascher. In den Jahren nach
dem Freiheitskriege hatte die Nation noch ihr Hausrecht gebraucht und
Ascher's jüdischer Frechheit die Thüre gewiesen. Jetzt war die Stimmung
umgeschlagen. Die gesinnungstüchtigen Radicalen schauten einander mit
verständnißinnigem Lächeln an, wenn Börne mit immer neuen Schimpf-
worten denselben Gedanken wiederholte: die Deutschen seien ein Volk von
Bedienten und brächten auf den Ruf Apporte! schweifwedelnd ihren Herren
die verlorenen Kronen zurück. Sie fanden es witzig, wenn er die Ver-
brennung der Göttinger Bibliothek anempfahl und den Vorsatz aussprach
die Deutschen durch Schimpfen zum National-Aerger zu stacheln. Sie
riefen ihm Beifall als er mit einer Gehässigkeit, die dem Eifer der Dema-
gogenverfolger nichts nachgab, der politischen Gesinnung der namhaften
Zeitgenossen nachspürte, jeden Vertreter gemäßigter Grundsätze kurzerhand
der Knechtsgesinnung beschuldigte und vornehmlich die ersten Geister der
Nation, weil er sie nicht begriff, mit niedrigen Verdächtigungen ver-
folgte. Goethe nannte er den gereimten Knecht, Hegel den ungereimten.
Wer durfte es der jungen Generation verargen, wenn sie gegen den
Schiller-Göethe'schen Briefwechsel das Recht der Lebendigen gebraucht und
schroff, selbst ungerecht herausgesagt hätte, diese Welt der Schönheit sei
gewesen? Börne that mehr. Er eiferte nicht nur gegen die volksfeind-
liche Gesinnung Goethe's und selbst Schiller's, der sogar ein noch ärgerer
Aristokrat gewesen sein sollte; er zog auch den Freundschaftsbund der beiden
Dichter in den Koth und besudelte ihre menschliche Größe, die gerade aus
diesen Briefen so überwältigend zu allen deutschen Herzen sprach. Traurig,
rief er aus, "daß unsere zwei größten Geister in ihrem Hause so nichts
sind, nein weniger als nichts, so wenig!" Sein Urtheil über Goethe faßte

Die Pilgerfahrten nach Paris.
Offiziere, die während des Krieges in Frankreich in Quartier lagen, hatten
wohl bemerkt, daß die große Mehrheit dieſer Nation aus ſparſamen, fleißi-
gen, furchtſamen Geſchäftsleuten beſtand und der militäriſche Geiſt dort
ungleich ſchwächer war als in Preußen. Dieſe richtige Erkenntniß ging
den Deutſchen jetzt wieder verloren, ſeit die Schüler Börne’s ihnen be-
harrlich erzählten: die ritterliche franzöſiſche Nation kümmere ſich wenig
um die niederen, wirthſchaftlichen Sorgen, ſie glühe vor Begierde ſich
ſelber die Freiheit zu ſichern um ſie dann anderen Völkern großmüthig
mitzutheilen. Der Cultus der ſogenannten Ideen von 89, der ſich während
der Revolutionsjahre doch nur auf kleine Kreiſe der deutſchen Gelehrten-
welt beſchränkt hatte, wurde erſt durch dieſe deutſch-franzöſiſche Publiciſtik
in die breiten Maſſen unſerer Mittelſtände hineingetragen. Es war die
denkbar ſchlechteſte politiſche Schule für ein Volk, das ſich ohnehin zum
Doktrinarismus neigte.

Nach ſeiner Rückkehr aus Paris zeigte ſich Börne fieberiſch aufgeregt.
Er erſehnte die Revolution. Woher ſie kommen und was ſie bringen ſollte,
das wußte er ſelber nicht. Da die Deutſchen ruhig blieben, ſo ſchimpfte
er ſie aus, ebenſo unfläthig wie einſt Saul Aſcher. In den Jahren nach
dem Freiheitskriege hatte die Nation noch ihr Hausrecht gebraucht und
Aſcher’s jüdiſcher Frechheit die Thüre gewieſen. Jetzt war die Stimmung
umgeſchlagen. Die geſinnungstüchtigen Radicalen ſchauten einander mit
verſtändnißinnigem Lächeln an, wenn Börne mit immer neuen Schimpf-
worten denſelben Gedanken wiederholte: die Deutſchen ſeien ein Volk von
Bedienten und brächten auf den Ruf Apporte! ſchweifwedelnd ihren Herren
die verlorenen Kronen zurück. Sie fanden es witzig, wenn er die Ver-
brennung der Göttinger Bibliothek anempfahl und den Vorſatz ausſprach
die Deutſchen durch Schimpfen zum National-Aerger zu ſtacheln. Sie
riefen ihm Beifall als er mit einer Gehäſſigkeit, die dem Eifer der Dema-
gogenverfolger nichts nachgab, der politiſchen Geſinnung der namhaften
Zeitgenoſſen nachſpürte, jeden Vertreter gemäßigter Grundſätze kurzerhand
der Knechtsgeſinnung beſchuldigte und vornehmlich die erſten Geiſter der
Nation, weil er ſie nicht begriff, mit niedrigen Verdächtigungen ver-
folgte. Goethe nannte er den gereimten Knecht, Hegel den ungereimten.
Wer durfte es der jungen Generation verargen, wenn ſie gegen den
Schiller-Göethe’ſchen Briefwechſel das Recht der Lebendigen gebraucht und
ſchroff, ſelbſt ungerecht herausgeſagt hätte, dieſe Welt der Schönheit ſei
geweſen? Börne that mehr. Er eiferte nicht nur gegen die volksfeind-
liche Geſinnung Goethe’s und ſelbſt Schiller’s, der ſogar ein noch ärgerer
Ariſtokrat geweſen ſein ſollte; er zog auch den Freundſchaftsbund der beiden
Dichter in den Koth und beſudelte ihre menſchliche Größe, die gerade aus
dieſen Briefen ſo überwältigend zu allen deutſchen Herzen ſprach. Traurig,
rief er aus, „daß unſere zwei größten Geiſter in ihrem Hauſe ſo nichts
ſind, nein weniger als nichts, ſo wenig!“ Sein Urtheil über Goethe faßte

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[709/0725] Die Pilgerfahrten nach Paris. Offiziere, die während des Krieges in Frankreich in Quartier lagen, hatten wohl bemerkt, daß die große Mehrheit dieſer Nation aus ſparſamen, fleißi- gen, furchtſamen Geſchäftsleuten beſtand und der militäriſche Geiſt dort ungleich ſchwächer war als in Preußen. Dieſe richtige Erkenntniß ging den Deutſchen jetzt wieder verloren, ſeit die Schüler Börne’s ihnen be- harrlich erzählten: die ritterliche franzöſiſche Nation kümmere ſich wenig um die niederen, wirthſchaftlichen Sorgen, ſie glühe vor Begierde ſich ſelber die Freiheit zu ſichern um ſie dann anderen Völkern großmüthig mitzutheilen. Der Cultus der ſogenannten Ideen von 89, der ſich während der Revolutionsjahre doch nur auf kleine Kreiſe der deutſchen Gelehrten- welt beſchränkt hatte, wurde erſt durch dieſe deutſch-franzöſiſche Publiciſtik in die breiten Maſſen unſerer Mittelſtände hineingetragen. Es war die denkbar ſchlechteſte politiſche Schule für ein Volk, das ſich ohnehin zum Doktrinarismus neigte. Nach ſeiner Rückkehr aus Paris zeigte ſich Börne fieberiſch aufgeregt. Er erſehnte die Revolution. Woher ſie kommen und was ſie bringen ſollte, das wußte er ſelber nicht. Da die Deutſchen ruhig blieben, ſo ſchimpfte er ſie aus, ebenſo unfläthig wie einſt Saul Aſcher. In den Jahren nach dem Freiheitskriege hatte die Nation noch ihr Hausrecht gebraucht und Aſcher’s jüdiſcher Frechheit die Thüre gewieſen. Jetzt war die Stimmung umgeſchlagen. Die geſinnungstüchtigen Radicalen ſchauten einander mit verſtändnißinnigem Lächeln an, wenn Börne mit immer neuen Schimpf- worten denſelben Gedanken wiederholte: die Deutſchen ſeien ein Volk von Bedienten und brächten auf den Ruf Apporte! ſchweifwedelnd ihren Herren die verlorenen Kronen zurück. Sie fanden es witzig, wenn er die Ver- brennung der Göttinger Bibliothek anempfahl und den Vorſatz ausſprach die Deutſchen durch Schimpfen zum National-Aerger zu ſtacheln. Sie riefen ihm Beifall als er mit einer Gehäſſigkeit, die dem Eifer der Dema- gogenverfolger nichts nachgab, der politiſchen Geſinnung der namhaften Zeitgenoſſen nachſpürte, jeden Vertreter gemäßigter Grundſätze kurzerhand der Knechtsgeſinnung beſchuldigte und vornehmlich die erſten Geiſter der Nation, weil er ſie nicht begriff, mit niedrigen Verdächtigungen ver- folgte. Goethe nannte er den gereimten Knecht, Hegel den ungereimten. Wer durfte es der jungen Generation verargen, wenn ſie gegen den Schiller-Göethe’ſchen Briefwechſel das Recht der Lebendigen gebraucht und ſchroff, ſelbſt ungerecht herausgeſagt hätte, dieſe Welt der Schönheit ſei geweſen? Börne that mehr. Er eiferte nicht nur gegen die volksfeind- liche Geſinnung Goethe’s und ſelbſt Schiller’s, der ſogar ein noch ärgerer Ariſtokrat geweſen ſein ſollte; er zog auch den Freundſchaftsbund der beiden Dichter in den Koth und beſudelte ihre menſchliche Größe, die gerade aus dieſen Briefen ſo überwältigend zu allen deutſchen Herzen ſprach. Traurig, rief er aus, „daß unſere zwei größten Geiſter in ihrem Hauſe ſo nichts ſind, nein weniger als nichts, ſo wenig!“ Sein Urtheil über Goethe faßte

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/725>, abgerufen am 22.11.2024.