tischen Probleme nur ein kahles Entweder -- oder aufzufinden vermochte. "Ist der Staat Zweck oder der Mensch in ihm?" -- dies schien ihm die große Frage der Zukunft; den Unsinn dieser Fragstellung, den schon Kant erwiesen hatte, vermochte er nicht zu durchschauen. So erging er sich denn, ohne je ein bestimmtes, greifbares Ziel zu weisen, in hohlen Lob- preisungen der Anarchie, der Mutter aller Freiheit, und in ebenso gehalt- losen Zornreden wider das unabänderliche deutsche Elend: "wir sind eiser- nes Vieh, das die Vergangenheit der Gegenwart zugezählt, und das die Gegenwart, wie sie es erhalten, der Zukunft überliefern muß."
Der einzige klare politische Zweck, den er im Auge behielt, war die Emancipation seiner Stammverwandten. Er selber war zum Christen- thum übergetreten, nicht aus religiöser Ueberzeugung, auch nicht um ganz ein Deutscher zu werden, sondern lediglich um des leichteren Fortkommens willen. Doch er kannte die Scham nicht und hielt es nicht für unan- ständig, als Renegat noch den Anwalt seiner verlassenen Glaubensgenossen zu spielen. Trotz seines Uebertritts bewahrte er sich den Rassendünkel des auserwählten Volks und verhehlte kaum, daß er die Juden für das Salz der deutschen Erde ansah -- was ihn freilich nicht hinderte, gele- gentlich mit roher Selbstverhöhnung über Juden und Deutsche zugleich herzufallen und die deutschen Juden als Hasen mit acht Füßen zu verspotten. "Ich weiß, schrieb er einmal, das unverdiente Glück zu schätzen, zugleich ein Deutscher und ein Jude geboren zu sein, nach allen Tugenden der Deutschen streben zu können und doch keinen ihrer Fehler zu theilen!" Gleichwohl wollte er nicht dulden, daß die Christen auch nur den Namen "Juden" in den Mund nahmen, und schrie über empörende Unduldsamkeit, wenn die Zeitungen der Wahrheit gemäß ein- fach berichteten, daß der jüdische Kaufmann Levi Bankrott gemacht habe. Unter den Beschwerden, die er unermüdlich vorbrachte, waren manche wohl begründet, aber auch viele nur durch die Empfindlichkeit krankhafter Selbst- überhebung eingegeben. Als die Stadt Frankfurt am hundertsten Jahres- tage einer großen Feuersbrunst eine Erinnerungsfeier veranstalten wollte, verfügte der Rath: "Zu dem Ende wird Sonntags den 27. in allen christ- lichen Kirchen feierlicher Gottesdienst gehalten werden, sowie in der jüdi- schen Synagoge Gebete verordnet sind." Die Bekanntmachung war nach Form und Inhalt ganz harmlos, doch da sie für die Juden etwas andere Worte gebrauchte als für die Christen, so schleuderte Börne einen grim- migen Artikel dawider und rief verzweifelnd: "O armes Vaterland, in dem solche Dinge geschehen!" Trotz solcher Uebertreibungen machten die beharrlich wiederholten Klagen doch Eindruck; die radicale Jugend begann die vor Kurzem noch so grimmig gehaßten Juden als edle Freiheitskämpfer zu schätzen.
Im Jahre 1822 reiste Börne nach Paris, und schon in Straßburg rief er glückselig: ich fühle mich frei! Wie weit ab lag schon die Zeit,
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Börne.
tiſchen Probleme nur ein kahles Entweder — oder aufzufinden vermochte. „Iſt der Staat Zweck oder der Menſch in ihm?“ — dies ſchien ihm die große Frage der Zukunft; den Unſinn dieſer Fragſtellung, den ſchon Kant erwieſen hatte, vermochte er nicht zu durchſchauen. So erging er ſich denn, ohne je ein beſtimmtes, greifbares Ziel zu weiſen, in hohlen Lob- preiſungen der Anarchie, der Mutter aller Freiheit, und in ebenſo gehalt- loſen Zornreden wider das unabänderliche deutſche Elend: „wir ſind eiſer- nes Vieh, das die Vergangenheit der Gegenwart zugezählt, und das die Gegenwart, wie ſie es erhalten, der Zukunft überliefern muß.“
Der einzige klare politiſche Zweck, den er im Auge behielt, war die Emancipation ſeiner Stammverwandten. Er ſelber war zum Chriſten- thum übergetreten, nicht aus religiöſer Ueberzeugung, auch nicht um ganz ein Deutſcher zu werden, ſondern lediglich um des leichteren Fortkommens willen. Doch er kannte die Scham nicht und hielt es nicht für unan- ſtändig, als Renegat noch den Anwalt ſeiner verlaſſenen Glaubensgenoſſen zu ſpielen. Trotz ſeines Uebertritts bewahrte er ſich den Raſſendünkel des auserwählten Volks und verhehlte kaum, daß er die Juden für das Salz der deutſchen Erde anſah — was ihn freilich nicht hinderte, gele- gentlich mit roher Selbſtverhöhnung über Juden und Deutſche zugleich herzufallen und die deutſchen Juden als Haſen mit acht Füßen zu verſpotten. „Ich weiß, ſchrieb er einmal, das unverdiente Glück zu ſchätzen, zugleich ein Deutſcher und ein Jude geboren zu ſein, nach allen Tugenden der Deutſchen ſtreben zu können und doch keinen ihrer Fehler zu theilen!“ Gleichwohl wollte er nicht dulden, daß die Chriſten auch nur den Namen „Juden“ in den Mund nahmen, und ſchrie über empörende Unduldſamkeit, wenn die Zeitungen der Wahrheit gemäß ein- fach berichteten, daß der jüdiſche Kaufmann Levi Bankrott gemacht habe. Unter den Beſchwerden, die er unermüdlich vorbrachte, waren manche wohl begründet, aber auch viele nur durch die Empfindlichkeit krankhafter Selbſt- überhebung eingegeben. Als die Stadt Frankfurt am hundertſten Jahres- tage einer großen Feuersbrunſt eine Erinnerungsfeier veranſtalten wollte, verfügte der Rath: „Zu dem Ende wird Sonntags den 27. in allen chriſt- lichen Kirchen feierlicher Gottesdienſt gehalten werden, ſowie in der jüdi- ſchen Synagoge Gebete verordnet ſind.“ Die Bekanntmachung war nach Form und Inhalt ganz harmlos, doch da ſie für die Juden etwas andere Worte gebrauchte als für die Chriſten, ſo ſchleuderte Börne einen grim- migen Artikel dawider und rief verzweifelnd: „O armes Vaterland, in dem ſolche Dinge geſchehen!“ Trotz ſolcher Uebertreibungen machten die beharrlich wiederholten Klagen doch Eindruck; die radicale Jugend begann die vor Kurzem noch ſo grimmig gehaßten Juden als edle Freiheitskämpfer zu ſchätzen.
Im Jahre 1822 reiſte Börne nach Paris, und ſchon in Straßburg rief er glückſelig: ich fühle mich frei! Wie weit ab lag ſchon die Zeit,
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Börne.
tiſchen Probleme nur ein kahles Entweder — oder aufzufinden vermochte.
„Iſt der Staat Zweck oder der Menſch in ihm?“ — dies ſchien ihm die
große Frage der Zukunft; den Unſinn dieſer Fragſtellung, den ſchon Kant
erwieſen hatte, vermochte er nicht zu durchſchauen. So erging er ſich
denn, ohne je ein beſtimmtes, greifbares Ziel zu weiſen, in hohlen Lob-
preiſungen der Anarchie, der Mutter aller Freiheit, und in ebenſo gehalt-
loſen Zornreden wider das unabänderliche deutſche Elend: „wir ſind eiſer-
nes Vieh, das die Vergangenheit der Gegenwart zugezählt, und das die
Gegenwart, wie ſie es erhalten, der Zukunft überliefern muß.“
Der einzige klare politiſche Zweck, den er im Auge behielt, war die
Emancipation ſeiner Stammverwandten. Er ſelber war zum Chriſten-
thum übergetreten, nicht aus religiöſer Ueberzeugung, auch nicht um ganz
ein Deutſcher zu werden, ſondern lediglich um des leichteren Fortkommens
willen. Doch er kannte die Scham nicht und hielt es nicht für unan-
ſtändig, als Renegat noch den Anwalt ſeiner verlaſſenen Glaubensgenoſſen
zu ſpielen. Trotz ſeines Uebertritts bewahrte er ſich den Raſſendünkel
des auserwählten Volks und verhehlte kaum, daß er die Juden für das
Salz der deutſchen Erde anſah — was ihn freilich nicht hinderte, gele-
gentlich mit roher Selbſtverhöhnung über Juden und Deutſche zugleich
herzufallen und die deutſchen Juden als Haſen mit acht Füßen zu
verſpotten. „Ich weiß, ſchrieb er einmal, das unverdiente Glück zu
ſchätzen, zugleich ein Deutſcher und ein Jude geboren zu ſein, nach
allen Tugenden der Deutſchen ſtreben zu können und doch keinen ihrer
Fehler zu theilen!“ Gleichwohl wollte er nicht dulden, daß die Chriſten
auch nur den Namen „Juden“ in den Mund nahmen, und ſchrie über
empörende Unduldſamkeit, wenn die Zeitungen der Wahrheit gemäß ein-
fach berichteten, daß der jüdiſche Kaufmann Levi Bankrott gemacht habe.
Unter den Beſchwerden, die er unermüdlich vorbrachte, waren manche wohl
begründet, aber auch viele nur durch die Empfindlichkeit krankhafter Selbſt-
überhebung eingegeben. Als die Stadt Frankfurt am hundertſten Jahres-
tage einer großen Feuersbrunſt eine Erinnerungsfeier veranſtalten wollte,
verfügte der Rath: „Zu dem Ende wird Sonntags den 27. in allen chriſt-
lichen Kirchen feierlicher Gottesdienſt gehalten werden, ſowie in der jüdi-
ſchen Synagoge Gebete verordnet ſind.“ Die Bekanntmachung war nach
Form und Inhalt ganz harmlos, doch da ſie für die Juden etwas andere
Worte gebrauchte als für die Chriſten, ſo ſchleuderte Börne einen grim-
migen Artikel dawider und rief verzweifelnd: „O armes Vaterland, in
dem ſolche Dinge geſchehen!“ Trotz ſolcher Uebertreibungen machten die
beharrlich wiederholten Klagen doch Eindruck; die radicale Jugend begann
die vor Kurzem noch ſo grimmig gehaßten Juden als edle Freiheitskämpfer
zu ſchätzen.
Im Jahre 1822 reiſte Börne nach Paris, und ſchon in Straßburg
rief er glückſelig: ich fühle mich frei! Wie weit ab lag ſchon die Zeit,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/723>, abgerufen am 25.11.2024.
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