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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Ranke. Die Germanisten.
neue Leben der historisch-philologischen Wissenschaften. Als Karl Ritter
nach Berlin kam, wollten sich zuerst keine Zuhörer finden für das unbe-
kannte Fach der Geographie; nach wenigen Jahren stand er schon als
anerkannter Meister da. Unter den classischen Philologen erforschte F. G.
Welcker zuerst mit feinsinnigem Verständniß den trilogischen Bau der
Tragödien des Aeschylus, während Lobeck's Aglaophamus mit scharfer,
zuweilen allzu nüchterner Kritik die Wahngebilde der Symboliker zer-
störte und Otfried Müller, den Spuren Niebuhr's folgend, die Verfas-
sungsgebilde der Dorier aus den socialen Zuständen des Zeitalters der
peloponnesischen Eroberung erklärte. Im Kreise der Germanisten ver-
loren v. d. Hagen und die anderen Dilettanten der ersten Lehrjahre all-
mählich alles Ansehen. Die strengen Forscher aber hielten zusammen wie
eine gläubige Gemeinde; sie genossen noch die Seligkeit jugendlicher Er-
kenntniß und empfanden dankbar, daß die Wissenschaft mehr als die Kunst,
die den Schaffenden so leicht vereinzelt, die Herzen zu verbinden vermag.
Der arme Wilhelm Wackernagel spürte kaum den Frost, wenn er in
seiner ungeheizten Kegelbahn die langen Winternächte hindurch über den
alten Handschriften saß. Freudig arbeitete Einer dem Anderen in die
Hände. Als Uhland das Leben Walther's von der Vogelweide geschildert
und nach Künstlerart die Dichtung aus der Persönlichkeit des Dichters
erklärt hatte, ließ Lachmann bald nachher seine kritische Ausgabe der
Werke Walther's erscheinen und widmete das Buch dem Schwaben. Auch
zwei reiche Sammler halfen mit durch ihre Bücherschätze. Wer die Bi-
bliothek des Frhrn. v. Meusebach in Berlin benutzen wollte, wurde von
dem witzigen Sonderling unbarmherzig im Lesezimmer eingeschlossen, nur
die Gebrüder Grimm, die unwiderstehlichen hatten freien Zutritt ins Hei-
ligthum. Behaglicher lebte und forschte sich's bei dem Frhrn. v. Laßberg
auf dem alten Schlosse Meersburg am Bodensee; dort walteten noch die
Gastfreundschaft und der ritterliche Sinn des Mittelalters.

Im Jahre 1828 ließ Jakob Grimm wieder eines seiner grundlegen-
den Werke erscheinen, die Rechtsalterthümer. Hier lehrte er die Deut-
schen das sinnliche Element ihrer alten Rechtsgeschichte kennen und zeigte
ihnen, wie Uhland dankbar sagte, über dem steinernen Richterstuhl die
blühende Linde. Der Sammlerfleiß, der diese Masse alter Rechtsformeln
und Symbole zusammengetragen, war ebenso erstaunlich, wie die starke
und doch maßvolle Phantasie, welche ein seit Jahrhunderten vergessenes
Recht wieder zu beleben, seine zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen ver-
mochte. Ueberall verrieth sich die Freude an dem frohen, beseelten Leben
des Mittelalters. Wie Grimm der gemeinen Volkssprache und den Volks-
liedern stets den Vorzug gab, so entnahm er auch seine Kenntniß der
alten Rechtsbräuche mit Vorliebe den Weisthümern, jenen Rechtweisungen
aus dem Munde des Landvolkes selber, welche nur den Germanen eigen-
thümlich, ihm als "ein herrliches Zeugniß der freien und edlen Art unseres

Ranke. Die Germaniſten.
neue Leben der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften. Als Karl Ritter
nach Berlin kam, wollten ſich zuerſt keine Zuhörer finden für das unbe-
kannte Fach der Geographie; nach wenigen Jahren ſtand er ſchon als
anerkannter Meiſter da. Unter den claſſiſchen Philologen erforſchte F. G.
Welcker zuerſt mit feinſinnigem Verſtändniß den trilogiſchen Bau der
Tragödien des Aeſchylus, während Lobeck’s Aglaophamus mit ſcharfer,
zuweilen allzu nüchterner Kritik die Wahngebilde der Symboliker zer-
ſtörte und Otfried Müller, den Spuren Niebuhr’s folgend, die Verfaſ-
ſungsgebilde der Dorier aus den ſocialen Zuſtänden des Zeitalters der
peloponneſiſchen Eroberung erklärte. Im Kreiſe der Germaniſten ver-
loren v. d. Hagen und die anderen Dilettanten der erſten Lehrjahre all-
mählich alles Anſehen. Die ſtrengen Forſcher aber hielten zuſammen wie
eine gläubige Gemeinde; ſie genoſſen noch die Seligkeit jugendlicher Er-
kenntniß und empfanden dankbar, daß die Wiſſenſchaft mehr als die Kunſt,
die den Schaffenden ſo leicht vereinzelt, die Herzen zu verbinden vermag.
Der arme Wilhelm Wackernagel ſpürte kaum den Froſt, wenn er in
ſeiner ungeheizten Kegelbahn die langen Winternächte hindurch über den
alten Handſchriften ſaß. Freudig arbeitete Einer dem Anderen in die
Hände. Als Uhland das Leben Walther’s von der Vogelweide geſchildert
und nach Künſtlerart die Dichtung aus der Perſönlichkeit des Dichters
erklärt hatte, ließ Lachmann bald nachher ſeine kritiſche Ausgabe der
Werke Walther’s erſcheinen und widmete das Buch dem Schwaben. Auch
zwei reiche Sammler halfen mit durch ihre Bücherſchätze. Wer die Bi-
bliothek des Frhrn. v. Meuſebach in Berlin benutzen wollte, wurde von
dem witzigen Sonderling unbarmherzig im Leſezimmer eingeſchloſſen, nur
die Gebrüder Grimm, die unwiderſtehlichen hatten freien Zutritt ins Hei-
ligthum. Behaglicher lebte und forſchte ſich’s bei dem Frhrn. v. Laßberg
auf dem alten Schloſſe Meersburg am Bodenſee; dort walteten noch die
Gaſtfreundſchaft und der ritterliche Sinn des Mittelalters.

Im Jahre 1828 ließ Jakob Grimm wieder eines ſeiner grundlegen-
den Werke erſcheinen, die Rechtsalterthümer. Hier lehrte er die Deut-
ſchen das ſinnliche Element ihrer alten Rechtsgeſchichte kennen und zeigte
ihnen, wie Uhland dankbar ſagte, über dem ſteinernen Richterſtuhl die
blühende Linde. Der Sammlerfleiß, der dieſe Maſſe alter Rechtsformeln
und Symbole zuſammengetragen, war ebenſo erſtaunlich, wie die ſtarke
und doch maßvolle Phantaſie, welche ein ſeit Jahrhunderten vergeſſenes
Recht wieder zu beleben, ſeine zerriſſenen Fäden wieder anzuknüpfen ver-
mochte. Ueberall verrieth ſich die Freude an dem frohen, beſeelten Leben
des Mittelalters. Wie Grimm der gemeinen Volksſprache und den Volks-
liedern ſtets den Vorzug gab, ſo entnahm er auch ſeine Kenntniß der
alten Rechtsbräuche mit Vorliebe den Weisthümern, jenen Rechtweiſungen
aus dem Munde des Landvolkes ſelber, welche nur den Germanen eigen-
thümlich, ihm als „ein herrliches Zeugniß der freien und edlen Art unſeres

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[699/0715] Ranke. Die Germaniſten. neue Leben der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften. Als Karl Ritter nach Berlin kam, wollten ſich zuerſt keine Zuhörer finden für das unbe- kannte Fach der Geographie; nach wenigen Jahren ſtand er ſchon als anerkannter Meiſter da. Unter den claſſiſchen Philologen erforſchte F. G. Welcker zuerſt mit feinſinnigem Verſtändniß den trilogiſchen Bau der Tragödien des Aeſchylus, während Lobeck’s Aglaophamus mit ſcharfer, zuweilen allzu nüchterner Kritik die Wahngebilde der Symboliker zer- ſtörte und Otfried Müller, den Spuren Niebuhr’s folgend, die Verfaſ- ſungsgebilde der Dorier aus den ſocialen Zuſtänden des Zeitalters der peloponneſiſchen Eroberung erklärte. Im Kreiſe der Germaniſten ver- loren v. d. Hagen und die anderen Dilettanten der erſten Lehrjahre all- mählich alles Anſehen. Die ſtrengen Forſcher aber hielten zuſammen wie eine gläubige Gemeinde; ſie genoſſen noch die Seligkeit jugendlicher Er- kenntniß und empfanden dankbar, daß die Wiſſenſchaft mehr als die Kunſt, die den Schaffenden ſo leicht vereinzelt, die Herzen zu verbinden vermag. Der arme Wilhelm Wackernagel ſpürte kaum den Froſt, wenn er in ſeiner ungeheizten Kegelbahn die langen Winternächte hindurch über den alten Handſchriften ſaß. Freudig arbeitete Einer dem Anderen in die Hände. Als Uhland das Leben Walther’s von der Vogelweide geſchildert und nach Künſtlerart die Dichtung aus der Perſönlichkeit des Dichters erklärt hatte, ließ Lachmann bald nachher ſeine kritiſche Ausgabe der Werke Walther’s erſcheinen und widmete das Buch dem Schwaben. Auch zwei reiche Sammler halfen mit durch ihre Bücherſchätze. Wer die Bi- bliothek des Frhrn. v. Meuſebach in Berlin benutzen wollte, wurde von dem witzigen Sonderling unbarmherzig im Leſezimmer eingeſchloſſen, nur die Gebrüder Grimm, die unwiderſtehlichen hatten freien Zutritt ins Hei- ligthum. Behaglicher lebte und forſchte ſich’s bei dem Frhrn. v. Laßberg auf dem alten Schloſſe Meersburg am Bodenſee; dort walteten noch die Gaſtfreundſchaft und der ritterliche Sinn des Mittelalters. Im Jahre 1828 ließ Jakob Grimm wieder eines ſeiner grundlegen- den Werke erſcheinen, die Rechtsalterthümer. Hier lehrte er die Deut- ſchen das ſinnliche Element ihrer alten Rechtsgeſchichte kennen und zeigte ihnen, wie Uhland dankbar ſagte, über dem ſteinernen Richterſtuhl die blühende Linde. Der Sammlerfleiß, der dieſe Maſſe alter Rechtsformeln und Symbole zuſammengetragen, war ebenſo erſtaunlich, wie die ſtarke und doch maßvolle Phantaſie, welche ein ſeit Jahrhunderten vergeſſenes Recht wieder zu beleben, ſeine zerriſſenen Fäden wieder anzuknüpfen ver- mochte. Ueberall verrieth ſich die Freude an dem frohen, beſeelten Leben des Mittelalters. Wie Grimm der gemeinen Volksſprache und den Volks- liedern ſtets den Vorzug gab, ſo entnahm er auch ſeine Kenntniß der alten Rechtsbräuche mit Vorliebe den Weisthümern, jenen Rechtweiſungen aus dem Munde des Landvolkes ſelber, welche nur den Germanen eigen- thümlich, ihm als „ein herrliches Zeugniß der freien und edlen Art unſeres

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/715>, abgerufen am 25.11.2024.