das große Verdienst des ersten Wurfs, die hohen Gestalten unserer alten Kaiser traten den gebildeten Deutschen wieder menschlich näher, am deut- lichsten wohl das Charakterbild Kaiser Friedrich's II. Nun das Eis ge- brochen war, fanden auch andere Werke politischer Geschichtsdarstellung freundliche Aufnahme, so Stenzel's Geschichte der ostfränkischen Kaiser und Johannes Voigt's Geschichte des Ordenslandes Preußen.
Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutschen historischen Kunst herannahte, schrieb Wilhelm Humboldt um diese Zeit (1822) seine Ab- handlung über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, eine geistvolle Schrift, die in Form und Inhalt den Uebergang von der philosophischen zur historischen Weltanschauung darstellte. Den geheimnißvollen Dualismus, der in dem sittlichen Leben unseres staubgeborenen und gottverwandten Geschlechts unverkennbar waltet, suchte er dadurch zu erklären, daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm. Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das Geschehene thatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden, daß die Nothwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Rath- schlüsse der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine groß- artige Ansicht, die zugleich mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Frage, wie sich die Welt der Ideen zu der bewußten Thatkraft der wollenden Menschen eigentlich verhalte -- diese entscheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldt's Bruder Alexander erhob daher den Einwand: diese Ideen kämen ihm vor wie jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Physiolog annehme sobald er mit seinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ sich nicht beirren; er wußte, daß die Geisteswissenschaft nicht wie die Natur- wissenschaft allein den Gesetzen der Logik folgen darf, daß sie ihre letzten und höchsten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweisen kann.
Inzwischen traten schon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche in der nächsten Zukunft die deutsche Geschichtschreibung beherrschen sollten, Schlosser und Ranke. F. C. Schlosser zählt zu den erstaunlichsten Er- scheinungen unserer Literatur-Geschichte; denn selten geschieht es, daß ein Mann, der innerlich einer ganz anderen Zeit angehört, dennoch auf die Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahrhun- derts, ganz und gar erfüllt von dem strengen Pflichtbegriffe Kant's. In scharfem Gegensatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages mit unverhohlener Verachtung. Selbst die patriotische Erregung der Be- freiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim, draußen unter den Friesen, die sich kaum recht zu Deutschland rechneten.
III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
das große Verdienſt des erſten Wurfs, die hohen Geſtalten unſerer alten Kaiſer traten den gebildeten Deutſchen wieder menſchlich näher, am deut- lichſten wohl das Charakterbild Kaiſer Friedrich’s II. Nun das Eis ge- brochen war, fanden auch andere Werke politiſcher Geſchichtsdarſtellung freundliche Aufnahme, ſo Stenzel’s Geſchichte der oſtfränkiſchen Kaiſer und Johannes Voigt’s Geſchichte des Ordenslandes Preußen.
Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutſchen hiſtoriſchen Kunſt herannahte, ſchrieb Wilhelm Humboldt um dieſe Zeit (1822) ſeine Ab- handlung über die Aufgabe des Geſchichtsſchreibers, eine geiſtvolle Schrift, die in Form und Inhalt den Uebergang von der philoſophiſchen zur hiſtoriſchen Weltanſchauung darſtellte. Den geheimnißvollen Dualismus, der in dem ſittlichen Leben unſeres ſtaubgeborenen und gottverwandten Geſchlechts unverkennbar waltet, ſuchte er dadurch zu erklären, daß er eine hinter den Erſcheinungen der Geſchichte ſtehende Ideenwelt annahm. Geſchichte war mithin Darſtellung des Strebens einer Idee, Daſein in der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Hiſtoriker fiel die zweifache Aufgabe zu, das Geſchehene thatſächlich zu ergründen und das Erforſchte dergeſtalt zu verbinden, daß die Nothwendigkeit der Ereigniſſe erwieſen und die Rath- ſchlüſſe der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine groß- artige Anſicht, die zugleich mit Zartheit das perſönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der Geſchichte zu verſtehen ſuchte; ſie ſicherte der Geſchichtſchreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt. Die Frage, wie ſich die Welt der Ideen zu der bewußten Thatkraft der wollenden Menſchen eigentlich verhalte — dieſe entſcheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldt’s Bruder Alexander erhob daher den Einwand: dieſe Ideen kämen ihm vor wie jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Phyſiolog annehme ſobald er mit ſeinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ ſich nicht beirren; er wußte, daß die Geiſteswiſſenſchaft nicht wie die Natur- wiſſenſchaft allein den Geſetzen der Logik folgen darf, daß ſie ihre letzten und höchſten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweiſen kann.
Inzwiſchen traten ſchon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche in der nächſten Zukunft die deutſche Geſchichtſchreibung beherrſchen ſollten, Schloſſer und Ranke. F. C. Schloſſer zählt zu den erſtaunlichſten Er- ſcheinungen unſerer Literatur-Geſchichte; denn ſelten geſchieht es, daß ein Mann, der innerlich einer ganz anderen Zeit angehört, dennoch auf die Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahrhun- derts, ganz und gar erfüllt von dem ſtrengen Pflichtbegriffe Kant’s. In ſcharfem Gegenſatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages mit unverhohlener Verachtung. Selbſt die patriotiſche Erregung der Be- freiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim, draußen unter den Frieſen, die ſich kaum recht zu Deutſchland rechneten.
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das große Verdienſt des erſten Wurfs, die hohen Geſtalten unſerer alten
Kaiſer traten den gebildeten Deutſchen wieder menſchlich näher, am deut-
lichſten wohl das Charakterbild Kaiſer Friedrich’s II. Nun das Eis ge-
brochen war, fanden auch andere Werke politiſcher Geſchichtsdarſtellung
freundliche Aufnahme, ſo Stenzel’s Geſchichte der oſtfränkiſchen Kaiſer und
Johannes Voigt’s Geſchichte des Ordenslandes Preußen.
Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutſchen hiſtoriſchen Kunſt
herannahte, ſchrieb Wilhelm Humboldt um dieſe Zeit (1822) ſeine Ab-
handlung über die Aufgabe des Geſchichtsſchreibers, eine geiſtvolle Schrift,
die in Form und Inhalt den Uebergang von der philoſophiſchen zur
hiſtoriſchen Weltanſchauung darſtellte. Den geheimnißvollen Dualismus,
der in dem ſittlichen Leben unſeres ſtaubgeborenen und gottverwandten
Geſchlechts unverkennbar waltet, ſuchte er dadurch zu erklären, daß er
eine hinter den Erſcheinungen der Geſchichte ſtehende Ideenwelt annahm.
Geſchichte war mithin Darſtellung des Strebens einer Idee, Daſein in
der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Hiſtoriker fiel die zweifache Aufgabe
zu, das Geſchehene thatſächlich zu ergründen und das Erforſchte dergeſtalt
zu verbinden, daß die Nothwendigkeit der Ereigniſſe erwieſen und die Rath-
ſchlüſſe der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine groß-
artige Anſicht, die zugleich mit Zartheit das perſönliche Leben, mit Freiheit
die allgemeinen Mächte der Geſchichte zu verſtehen ſuchte; ſie ſicherte der
Geſchichtſchreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze
zwiſchen Wiſſenſchaft und Kunſt. Die Frage, wie ſich die Welt der Ideen
zu der bewußten Thatkraft der wollenden Menſchen eigentlich verhalte
— dieſe entſcheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldt’s Bruder
Alexander erhob daher den Einwand: dieſe Ideen kämen ihm vor wie
jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Phyſiolog annehme ſobald
er mit ſeinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ
ſich nicht beirren; er wußte, daß die Geiſteswiſſenſchaft nicht wie die Natur-
wiſſenſchaft allein den Geſetzen der Logik folgen darf, daß ſie ihre letzten
und höchſten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweiſen kann.
Inzwiſchen traten ſchon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche
in der nächſten Zukunft die deutſche Geſchichtſchreibung beherrſchen ſollten,
Schloſſer und Ranke. F. C. Schloſſer zählt zu den erſtaunlichſten Er-
ſcheinungen unſerer Literatur-Geſchichte; denn ſelten geſchieht es, daß ein
Mann, der innerlich einer ganz anderen Zeit angehört, dennoch auf die
Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahrhun-
derts, ganz und gar erfüllt von dem ſtrengen Pflichtbegriffe Kant’s. In
ſcharfem Gegenſatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das
Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages
mit unverhohlener Verachtung. Selbſt die patriotiſche Erregung der Be-
freiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim,
draußen unter den Frieſen, die ſich kaum recht zu Deutſchland rechneten.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/712>, abgerufen am 25.11.2024.
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