Stände könne anderen Ländern zum Muster dienen.*) Er betrachtete sein Reformwerk als vorläufig abgeschlossen, die Gesetzgebung gerieth ins Stocken, der Ausbau der Verfassung ward auf unbestimmte Zeit vertagt. Das so heiß ersehnte constitutionelle Regiment erwies sich in seinen ersten Zeiten weit unfruchtbarer als vordem die königliche Diktatur.
An diesem Stillstande des öffentlichen Lebens trug der Adel des Landes eine schwere Mitschuld. Wohl mochte es den stolzen reichsun- mittelbaren Geschlechtern hart ankommen, daß sie jetzt den Groll gegen eine Krone, die ihnen so viel Unrecht zugefügt, überwinden und als Un- terthanen an den unscheinbaren Arbeiten eines kleinen Landtags theil- nehmen sollten. Aber die Verfassung hatte ihnen doch endlich Alles ge- währt, was sie nach den Wiener Verträgen fordern durften; wollten sie in diesem demokratischen Jahrhundert ihr Ansehen behaupten, so mußten sie den neuen Rechtsboden ohne Hintergedanken anerkennen und min- destens versuchen, ob es möglich sei auf so enger Bühne die Rolle einer volksthümlichen, die Rechte des Landes muthig wahrenden Aristokratie zu spielen. Zu seinem und des Landes Schaden verschmähte der hohe Adel Schwabens selbst diesen Versuch. Die Kammer der Standesherren zeigte sich unlustig zu den Geschäften, feindselig gegen jede Reform, sie schloß von vornherein alle Zuhörer von ihren Verhandlungen aus -- was ihr durch das Grundgesetz nur freigestellt, nicht geboten war -- und ent- fremdete sich dem Volke so gänzlich, daß sie bald fast so übel berufen war wie der bourbonische Adel. Durch den Widerstand der Privile- girten wurde die dringend nöthige und von König Wilhelm lebhaft ge- wünschte Ablösung der grundherrlichen Lasten während eines Menschen- alters immer wieder hinausgeschoben. Als der erste Landtag im Winter 1820 nach mehrmonatlicher Vertagung abermals zusammentrat, erschienen die Standesherren nicht in beschlußfähiger Anzahl -- ein seltsames Schau- spiel, das sich in den nächsten acht Jahren noch zweimal wiederholte. Da die Verfassung für diesen Fall bereits Vorkehrungen getroffen hatte, so tagte die zweite Kammer vorderhand allein, und das nicht erschienene Haus ward als zustimmend angesehen. Ein Jahr nach dem Abschlusse des Grundvertrags sah man sich also bereits zu dem Nothbehelfe eines unfreiwilligen Einkammersystems gezwungen. Ein also verstümmelter Landtag konnte nur wenig leisten.
Da wurde der parlamentarische Friede plötzlich gestört durch den Ein- tritt Friedrich List's, im December 1820. Der unerschrockene Gegner des Schreiberregiments hatte mittlerweile in seinem "Volksfreund" den alten Kampf rastlos fortgeführt. Er allein im Lande wagte rundheraus zu sagen, daß der alte Herrenstand mit der neuen Bureaukratie sich verständigt hatte. Leider fehlte ihm die schonende Klugheit, deren der Publicist in der
*) Küster's Bericht, 27. Juni 1820.
III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Stände könne anderen Ländern zum Muſter dienen.*) Er betrachtete ſein Reformwerk als vorläufig abgeſchloſſen, die Geſetzgebung gerieth ins Stocken, der Ausbau der Verfaſſung ward auf unbeſtimmte Zeit vertagt. Das ſo heiß erſehnte conſtitutionelle Regiment erwies ſich in ſeinen erſten Zeiten weit unfruchtbarer als vordem die königliche Diktatur.
An dieſem Stillſtande des öffentlichen Lebens trug der Adel des Landes eine ſchwere Mitſchuld. Wohl mochte es den ſtolzen reichsun- mittelbaren Geſchlechtern hart ankommen, daß ſie jetzt den Groll gegen eine Krone, die ihnen ſo viel Unrecht zugefügt, überwinden und als Un- terthanen an den unſcheinbaren Arbeiten eines kleinen Landtags theil- nehmen ſollten. Aber die Verfaſſung hatte ihnen doch endlich Alles ge- währt, was ſie nach den Wiener Verträgen fordern durften; wollten ſie in dieſem demokratiſchen Jahrhundert ihr Anſehen behaupten, ſo mußten ſie den neuen Rechtsboden ohne Hintergedanken anerkennen und min- deſtens verſuchen, ob es möglich ſei auf ſo enger Bühne die Rolle einer volksthümlichen, die Rechte des Landes muthig wahrenden Ariſtokratie zu ſpielen. Zu ſeinem und des Landes Schaden verſchmähte der hohe Adel Schwabens ſelbſt dieſen Verſuch. Die Kammer der Standesherren zeigte ſich unluſtig zu den Geſchäften, feindſelig gegen jede Reform, ſie ſchloß von vornherein alle Zuhörer von ihren Verhandlungen aus — was ihr durch das Grundgeſetz nur freigeſtellt, nicht geboten war — und ent- fremdete ſich dem Volke ſo gänzlich, daß ſie bald faſt ſo übel berufen war wie der bourboniſche Adel. Durch den Widerſtand der Privile- girten wurde die dringend nöthige und von König Wilhelm lebhaft ge- wünſchte Ablöſung der grundherrlichen Laſten während eines Menſchen- alters immer wieder hinausgeſchoben. Als der erſte Landtag im Winter 1820 nach mehrmonatlicher Vertagung abermals zuſammentrat, erſchienen die Standesherren nicht in beſchlußfähiger Anzahl — ein ſeltſames Schau- ſpiel, das ſich in den nächſten acht Jahren noch zweimal wiederholte. Da die Verfaſſung für dieſen Fall bereits Vorkehrungen getroffen hatte, ſo tagte die zweite Kammer vorderhand allein, und das nicht erſchienene Haus ward als zuſtimmend angeſehen. Ein Jahr nach dem Abſchluſſe des Grundvertrags ſah man ſich alſo bereits zu dem Nothbehelfe eines unfreiwilligen Einkammerſyſtems gezwungen. Ein alſo verſtümmelter Landtag konnte nur wenig leiſten.
Da wurde der parlamentariſche Friede plötzlich geſtört durch den Ein- tritt Friedrich Liſt’s, im December 1820. Der unerſchrockene Gegner des Schreiberregiments hatte mittlerweile in ſeinem „Volksfreund“ den alten Kampf raſtlos fortgeführt. Er allein im Lande wagte rundheraus zu ſagen, daß der alte Herrenſtand mit der neuen Bureaukratie ſich verſtändigt hatte. Leider fehlte ihm die ſchonende Klugheit, deren der Publiciſt in der
*) Küſter’s Bericht, 27. Juni 1820.
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Stände könne anderen Ländern zum Muſter dienen. *) Er betrachtete ſein
Reformwerk als vorläufig abgeſchloſſen, die Geſetzgebung gerieth ins Stocken,
der Ausbau der Verfaſſung ward auf unbeſtimmte Zeit vertagt. Das ſo
heiß erſehnte conſtitutionelle Regiment erwies ſich in ſeinen erſten Zeiten
weit unfruchtbarer als vordem die königliche Diktatur.
An dieſem Stillſtande des öffentlichen Lebens trug der Adel des
Landes eine ſchwere Mitſchuld. Wohl mochte es den ſtolzen reichsun-
mittelbaren Geſchlechtern hart ankommen, daß ſie jetzt den Groll gegen
eine Krone, die ihnen ſo viel Unrecht zugefügt, überwinden und als Un-
terthanen an den unſcheinbaren Arbeiten eines kleinen Landtags theil-
nehmen ſollten. Aber die Verfaſſung hatte ihnen doch endlich Alles ge-
währt, was ſie nach den Wiener Verträgen fordern durften; wollten ſie
in dieſem demokratiſchen Jahrhundert ihr Anſehen behaupten, ſo mußten
ſie den neuen Rechtsboden ohne Hintergedanken anerkennen und min-
deſtens verſuchen, ob es möglich ſei auf ſo enger Bühne die Rolle einer
volksthümlichen, die Rechte des Landes muthig wahrenden Ariſtokratie zu
ſpielen. Zu ſeinem und des Landes Schaden verſchmähte der hohe Adel
Schwabens ſelbſt dieſen Verſuch. Die Kammer der Standesherren zeigte
ſich unluſtig zu den Geſchäften, feindſelig gegen jede Reform, ſie ſchloß
von vornherein alle Zuhörer von ihren Verhandlungen aus — was ihr
durch das Grundgeſetz nur freigeſtellt, nicht geboten war — und ent-
fremdete ſich dem Volke ſo gänzlich, daß ſie bald faſt ſo übel berufen
war wie der bourboniſche Adel. Durch den Widerſtand der Privile-
girten wurde die dringend nöthige und von König Wilhelm lebhaft ge-
wünſchte Ablöſung der grundherrlichen Laſten während eines Menſchen-
alters immer wieder hinausgeſchoben. Als der erſte Landtag im Winter
1820 nach mehrmonatlicher Vertagung abermals zuſammentrat, erſchienen
die Standesherren nicht in beſchlußfähiger Anzahl — ein ſeltſames Schau-
ſpiel, das ſich in den nächſten acht Jahren noch zweimal wiederholte.
Da die Verfaſſung für dieſen Fall bereits Vorkehrungen getroffen hatte,
ſo tagte die zweite Kammer vorderhand allein, und das nicht erſchienene
Haus ward als zuſtimmend angeſehen. Ein Jahr nach dem Abſchluſſe
des Grundvertrags ſah man ſich alſo bereits zu dem Nothbehelfe eines
unfreiwilligen Einkammerſyſtems gezwungen. Ein alſo verſtümmelter
Landtag konnte nur wenig leiſten.
Da wurde der parlamentariſche Friede plötzlich geſtört durch den Ein-
tritt Friedrich Liſt’s, im December 1820. Der unerſchrockene Gegner des
Schreiberregiments hatte mittlerweile in ſeinem „Volksfreund“ den alten
Kampf raſtlos fortgeführt. Er allein im Lande wagte rundheraus zu ſagen,
daß der alte Herrenſtand mit der neuen Bureaukratie ſich verſtändigt
hatte. Leider fehlte ihm die ſchonende Klugheit, deren der Publiciſt in der
*) Küſter’s Bericht, 27. Juni 1820.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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