III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Der lange Friede bewahrte die Städte vor der Versuchung, wieder, wie im achtzehnten Jahrhundert, durch eine ängstliche Neutralität sich zu bereichern; aber auch die Zeiten kehrten nicht wieder, da die Hansen ihren Handel mit ihren wohlbewehrten Friedenskoggen geschützt hatten. Waffenlos wie sie jetzt waren, außer Stande dem Auslande werthvolle Gegenvortheile zu bieten, mußten sie durch gewandte, nicht immer würdevolle diplomatische Verhandlungen um die Gunst der fremden Mächte werben und es ruhig hinnehmen, daß ein nordamerikanischer Präsident ihnen sagte: die Hanse- städte sind Hühner, die das Pferd der Vereinigten Staaten nur aus Mit- leid nicht zertritt. In solcher Lage war das Leben der drei Stadtstaaten an grellen Gegensätzen überreich. Größe und Kleinlichkeit, Fortschritt und Schlendrian, Handelsfreiheit und Zunftzwang, Bürgerstolz und Beamten- willkür, deutscher Sinn und Ausländerei lagen dicht bei einander. Neben königlichen Kaufleuten und ehrenfesten republikanischen Staatsmännern, die den Vergleich mit Gerhard v. Attendorn, mit Johann v. d. Wyck und den anderen Größen althansischer Geschichte nicht zu scheuen brauchten, gediehen hier auch die dünkelvollen Vertreter eines philisterhaften, aus Welt- bürgerthum und Pfahlbürgerthum seltsam gemischten Particularismus.
Am lebendigsten war die deutsche Gesinnung in dem aufstrebenden Bremen, das überhaupt in diesen ersten Friedensjahren rascher und kräf- tiger vorwärts schritt als die reichere Schwesterstadt an der Elbe. Die Stadt war im Mittelalter in ihren nordischen und niederländischen Han- delsbeziehungen ganz aufgegangen und erst durch die Reformation in die Strömung des nationalen Lebens hineingerissen worden, dann aber auch mit Heldenmuth für die gemeinsame Sache des Protestantismus einge- treten. Sie erlangte sodann die Reichsstandschaft durch die Gunst von Kaiser und Reich, unter beständigen Kämpfen mit Schweden und Kur- hannover, den Rechtsnachfolgern der alten Erzbischöfe. Erst der Reichs- deputationshauptschluß sicherte ihr die Herrschaft in ihrem eigenen Mauer- ring: der kurhannoversche Oberhauptmann zog ab, und der lutherische Dom, der so lange mitten in der reformirten Stadt unter schwedischer und hannoverscher Hoheit gestanden, wurde dem bremischen Gebiete ein- verleibt. Diese Händel mit unfreundlichen Nachbarn bestärkten die Bürg- erschaft in der Reichstreue, die ihr schon Friedrich der Rothbart nachge- rühmt hatte.
Mit heller Freude wurde der Untergang der verhaßten Fremdherr- schaft begrüßt, und die Wiederherstellung der erprobten alten Verfassung, der Eintracht vom Jahre 1433 schien Allen selbstverständlich. Der voll- mächtige Rath, der sich selber ergänzte, führte wieder das Regiment, ver- pflichtete seine Mitglieder wieder auf den alten niederdeutschen Eid "ik will en recht Radmann sin", und berief von Zeit zu Zeit, nach freiem Ermessen eine beliebige Anzahl rechtfertiger Bürger zu wichtigeren Verhand- lungen. Ward eine Steuer ausgeschrieben, so schätzte jeder Bürger sich
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Der lange Friede bewahrte die Städte vor der Verſuchung, wieder, wie im achtzehnten Jahrhundert, durch eine ängſtliche Neutralität ſich zu bereichern; aber auch die Zeiten kehrten nicht wieder, da die Hanſen ihren Handel mit ihren wohlbewehrten Friedenskoggen geſchützt hatten. Waffenlos wie ſie jetzt waren, außer Stande dem Auslande werthvolle Gegenvortheile zu bieten, mußten ſie durch gewandte, nicht immer würdevolle diplomatiſche Verhandlungen um die Gunſt der fremden Mächte werben und es ruhig hinnehmen, daß ein nordamerikaniſcher Präſident ihnen ſagte: die Hanſe- ſtädte ſind Hühner, die das Pferd der Vereinigten Staaten nur aus Mit- leid nicht zertritt. In ſolcher Lage war das Leben der drei Stadtſtaaten an grellen Gegenſätzen überreich. Größe und Kleinlichkeit, Fortſchritt und Schlendrian, Handelsfreiheit und Zunftzwang, Bürgerſtolz und Beamten- willkür, deutſcher Sinn und Ausländerei lagen dicht bei einander. Neben königlichen Kaufleuten und ehrenfeſten republikaniſchen Staatsmännern, die den Vergleich mit Gerhard v. Attendorn, mit Johann v. d. Wyck und den anderen Größen althanſiſcher Geſchichte nicht zu ſcheuen brauchten, gediehen hier auch die dünkelvollen Vertreter eines philiſterhaften, aus Welt- bürgerthum und Pfahlbürgerthum ſeltſam gemiſchten Particularismus.
Am lebendigſten war die deutſche Geſinnung in dem aufſtrebenden Bremen, das überhaupt in dieſen erſten Friedensjahren raſcher und kräf- tiger vorwärts ſchritt als die reichere Schweſterſtadt an der Elbe. Die Stadt war im Mittelalter in ihren nordiſchen und niederländiſchen Han- delsbeziehungen ganz aufgegangen und erſt durch die Reformation in die Strömung des nationalen Lebens hineingeriſſen worden, dann aber auch mit Heldenmuth für die gemeinſame Sache des Proteſtantismus einge- treten. Sie erlangte ſodann die Reichsſtandſchaft durch die Gunſt von Kaiſer und Reich, unter beſtändigen Kämpfen mit Schweden und Kur- hannover, den Rechtsnachfolgern der alten Erzbiſchöfe. Erſt der Reichs- deputationshauptſchluß ſicherte ihr die Herrſchaft in ihrem eigenen Mauer- ring: der kurhannoverſche Oberhauptmann zog ab, und der lutheriſche Dom, der ſo lange mitten in der reformirten Stadt unter ſchwediſcher und hannoverſcher Hoheit geſtanden, wurde dem bremiſchen Gebiete ein- verleibt. Dieſe Händel mit unfreundlichen Nachbarn beſtärkten die Bürg- erſchaft in der Reichstreue, die ihr ſchon Friedrich der Rothbart nachge- rühmt hatte.
Mit heller Freude wurde der Untergang der verhaßten Fremdherr- ſchaft begrüßt, und die Wiederherſtellung der erprobten alten Verfaſſung, der Eintracht vom Jahre 1433 ſchien Allen ſelbſtverſtändlich. Der voll- mächtige Rath, der ſich ſelber ergänzte, führte wieder das Regiment, ver- pflichtete ſeine Mitglieder wieder auf den alten niederdeutſchen Eid „ik will en recht Radmann ſin“, und berief von Zeit zu Zeit, nach freiem Ermeſſen eine beliebige Anzahl rechtfertiger Bürger zu wichtigeren Verhand- lungen. Ward eine Steuer ausgeſchrieben, ſo ſchätzte jeder Bürger ſich
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III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Der lange Friede bewahrte die Städte vor der Verſuchung, wieder,
wie im achtzehnten Jahrhundert, durch eine ängſtliche Neutralität ſich zu
bereichern; aber auch die Zeiten kehrten nicht wieder, da die Hanſen ihren
Handel mit ihren wohlbewehrten Friedenskoggen geſchützt hatten. Waffenlos
wie ſie jetzt waren, außer Stande dem Auslande werthvolle Gegenvortheile
zu bieten, mußten ſie durch gewandte, nicht immer würdevolle diplomatiſche
Verhandlungen um die Gunſt der fremden Mächte werben und es ruhig
hinnehmen, daß ein nordamerikaniſcher Präſident ihnen ſagte: die Hanſe-
ſtädte ſind Hühner, die das Pferd der Vereinigten Staaten nur aus Mit-
leid nicht zertritt. In ſolcher Lage war das Leben der drei Stadtſtaaten
an grellen Gegenſätzen überreich. Größe und Kleinlichkeit, Fortſchritt und
Schlendrian, Handelsfreiheit und Zunftzwang, Bürgerſtolz und Beamten-
willkür, deutſcher Sinn und Ausländerei lagen dicht bei einander. Neben
königlichen Kaufleuten und ehrenfeſten republikaniſchen Staatsmännern,
die den Vergleich mit Gerhard v. Attendorn, mit Johann v. d. Wyck und
den anderen Größen althanſiſcher Geſchichte nicht zu ſcheuen brauchten,
gediehen hier auch die dünkelvollen Vertreter eines philiſterhaften, aus Welt-
bürgerthum und Pfahlbürgerthum ſeltſam gemiſchten Particularismus.
Am lebendigſten war die deutſche Geſinnung in dem aufſtrebenden
Bremen, das überhaupt in dieſen erſten Friedensjahren raſcher und kräf-
tiger vorwärts ſchritt als die reichere Schweſterſtadt an der Elbe. Die
Stadt war im Mittelalter in ihren nordiſchen und niederländiſchen Han-
delsbeziehungen ganz aufgegangen und erſt durch die Reformation in die
Strömung des nationalen Lebens hineingeriſſen worden, dann aber auch
mit Heldenmuth für die gemeinſame Sache des Proteſtantismus einge-
treten. Sie erlangte ſodann die Reichsſtandſchaft durch die Gunſt von
Kaiſer und Reich, unter beſtändigen Kämpfen mit Schweden und Kur-
hannover, den Rechtsnachfolgern der alten Erzbiſchöfe. Erſt der Reichs-
deputationshauptſchluß ſicherte ihr die Herrſchaft in ihrem eigenen Mauer-
ring: der kurhannoverſche Oberhauptmann zog ab, und der lutheriſche
Dom, der ſo lange mitten in der reformirten Stadt unter ſchwediſcher
und hannoverſcher Hoheit geſtanden, wurde dem bremiſchen Gebiete ein-
verleibt. Dieſe Händel mit unfreundlichen Nachbarn beſtärkten die Bürg-
erſchaft in der Reichstreue, die ihr ſchon Friedrich der Rothbart nachge-
rühmt hatte.
Mit heller Freude wurde der Untergang der verhaßten Fremdherr-
ſchaft begrüßt, und die Wiederherſtellung der erprobten alten Verfaſſung,
der Eintracht vom Jahre 1433 ſchien Allen ſelbſtverſtändlich. Der voll-
mächtige Rath, der ſich ſelber ergänzte, führte wieder das Regiment, ver-
pflichtete ſeine Mitglieder wieder auf den alten niederdeutſchen Eid „ik
will en recht Radmann ſin“, und berief von Zeit zu Zeit, nach freiem
Ermeſſen eine beliebige Anzahl rechtfertiger Bürger zu wichtigeren Verhand-
lungen. Ward eine Steuer ausgeſchrieben, ſo ſchätzte jeder Bürger ſich
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/594>, abgerufen am 22.11.2024.
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