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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Georgia Augusta.
phälischen Zwischenherrschaft -- nach einander nur fünf Männer die Ge-
schäfte der Universität: zuerst ihr Stifter Münchhausen, dann Brandes
Vater und Sohn und die beiden Brüder Hoppenstedt, alle fünf ausge-
zeichnet durch hohe Bildung, Menschenkenntniß, Feinheit. So vererbte
sich eine akademische Familientradition von Geschlecht zu Geschlecht; mit
einem Zartgefühle, das sich in einem großen Staate von selbst verboten
hätte, wurde die Empfindlichkeit der Gelehrten geschont. Als der große
Blumenbach auf seine alten Tage die lästige Gewohnheit annahm, alle
Amtsschreiben, die er wegen der Naturwissenschaftlichen Sammlungen er-
hielt, ungelesen in den Papierkorb zu werfen, da wußte Hoppenstedt jede
Ombrage zu vermeiden; er ließ fortan die Ministerialschreiben in zwei
Abschriften nach Göttingen senden, die eine verschwand in Blumenbach's
Papierkorb, die andere gelangte an den zweiten Director der Sammlungen.
War ein Lehrstuhl erledigt, so wurden zunächst bei Heyne, Heeren oder
anderen vertrauten Professoren Erkundigungen eingezogen, dann alle ge-
lehrten Stachelschweine, die etwa Unfrieden erregen konnten, sorgfältig aus
der Liste entfernt und schließlich, ohne Rücksicht auf die Kosten, fast immer
ein tüchtiger und friedfertiger Mann berufen. Philosophie und schöne
Literatur wollten in der kühlen Göttinger Luft freilich nicht gedeihen, aber
in jeder Facultät wirkten ausgezeichnete Fachmänner, in der juristischen
neben dem alten Hugo der beliebteste aller Rechtslehrer, K. F. Eichhorn,
und mit Recht durfte Gauß rühmen, für die Phrase sei hier nie ein Boden
gewesen. Niemals früher hatte die Georgia Augusta sich eines so zahl-
reichen Besuchs erfreut; der sprichwörtliche Stolz ihrer Hofräthe war um so
begreiflicher, da das Welfenland keine andere Stätte höherer Bildung besaß.

Der Hauptstadt fehlten alle die Kunstwerke und Sammlungen, mit
denen die deutschen Höfe ihre Residenzen zu schmücken pflegten; der Fremde
fand hier außer dem schönen alten Rathhause nichts Merkwürdiges zu
sehen als etwa die Isabellen des Marstalls. Auch in den anderen Städten
war wenig Leben. Der gewaltige Verkehr, der sich einst in althansischer
Zeit um die Ilmenaubrücke zu Lüneburg bewegt, hatte längst andere Wege
eingeschlagen; die feierliche Pracht der Kirchen und die kunstvollen Holz-
schnitzereien an den Bürgerhäusern Hildesheims erzählten auch nur von
längst verschwundener Größe. Das heitere fränkische Völkchen droben im
Harz dünkte sich zwar, im Bewußtsein seiner bergmännischen Kunstfertig-
keit, weit gewitzter als die schwerfälligen Niedersachsen der Ebene, aber der
wirthschaftliche Unternehmungstrieb fehlte auch dort; die königliche "Herr-
schaft" besaß die Forsten wie die Gruben, sie mußte in jeder Noth durch
Brotkorn und andere Hilfe ihren Bergknappen beispringen. Noch sorg-
loser als unter der väterlichen Berghauptmannschaft zu Clausthal lebte
sich's in dem Paradiese der deutschen Kleinstaaterei, dem Communionharze,
der einige Bergwerke und Ortschaften mit etwa 700 Einwohnern umfaßte
und ein Jahr ums andere abwechselnd von Hannover oder von Braun-

Die Georgia Auguſta.
phäliſchen Zwiſchenherrſchaft — nach einander nur fünf Männer die Ge-
ſchäfte der Univerſität: zuerſt ihr Stifter Münchhauſen, dann Brandes
Vater und Sohn und die beiden Brüder Hoppenſtedt, alle fünf ausge-
zeichnet durch hohe Bildung, Menſchenkenntniß, Feinheit. So vererbte
ſich eine akademiſche Familientradition von Geſchlecht zu Geſchlecht; mit
einem Zartgefühle, das ſich in einem großen Staate von ſelbſt verboten
hätte, wurde die Empfindlichkeit der Gelehrten geſchont. Als der große
Blumenbach auf ſeine alten Tage die läſtige Gewohnheit annahm, alle
Amtsſchreiben, die er wegen der Naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen er-
hielt, ungeleſen in den Papierkorb zu werfen, da wußte Hoppenſtedt jede
Ombrage zu vermeiden; er ließ fortan die Miniſterialſchreiben in zwei
Abſchriften nach Göttingen ſenden, die eine verſchwand in Blumenbach’s
Papierkorb, die andere gelangte an den zweiten Director der Sammlungen.
War ein Lehrſtuhl erledigt, ſo wurden zunächſt bei Heyne, Heeren oder
anderen vertrauten Profeſſoren Erkundigungen eingezogen, dann alle ge-
lehrten Stachelſchweine, die etwa Unfrieden erregen konnten, ſorgfältig aus
der Liſte entfernt und ſchließlich, ohne Rückſicht auf die Koſten, faſt immer
ein tüchtiger und friedfertiger Mann berufen. Philoſophie und ſchöne
Literatur wollten in der kühlen Göttinger Luft freilich nicht gedeihen, aber
in jeder Facultät wirkten ausgezeichnete Fachmänner, in der juriſtiſchen
neben dem alten Hugo der beliebteſte aller Rechtslehrer, K. F. Eichhorn,
und mit Recht durfte Gauß rühmen, für die Phraſe ſei hier nie ein Boden
geweſen. Niemals früher hatte die Georgia Auguſta ſich eines ſo zahl-
reichen Beſuchs erfreut; der ſprichwörtliche Stolz ihrer Hofräthe war um ſo
begreiflicher, da das Welfenland keine andere Stätte höherer Bildung beſaß.

Der Hauptſtadt fehlten alle die Kunſtwerke und Sammlungen, mit
denen die deutſchen Höfe ihre Reſidenzen zu ſchmücken pflegten; der Fremde
fand hier außer dem ſchönen alten Rathhauſe nichts Merkwürdiges zu
ſehen als etwa die Iſabellen des Marſtalls. Auch in den anderen Städten
war wenig Leben. Der gewaltige Verkehr, der ſich einſt in althanſiſcher
Zeit um die Ilmenaubrücke zu Lüneburg bewegt, hatte längſt andere Wege
eingeſchlagen; die feierliche Pracht der Kirchen und die kunſtvollen Holz-
ſchnitzereien an den Bürgerhäuſern Hildesheims erzählten auch nur von
längſt verſchwundener Größe. Das heitere fränkiſche Völkchen droben im
Harz dünkte ſich zwar, im Bewußtſein ſeiner bergmänniſchen Kunſtfertig-
keit, weit gewitzter als die ſchwerfälligen Niederſachſen der Ebene, aber der
wirthſchaftliche Unternehmungstrieb fehlte auch dort; die königliche „Herr-
ſchaft“ beſaß die Forſten wie die Gruben, ſie mußte in jeder Noth durch
Brotkorn und andere Hilfe ihren Bergknappen beiſpringen. Noch ſorg-
loſer als unter der väterlichen Berghauptmannſchaft zu Clausthal lebte
ſich’s in dem Paradieſe der deutſchen Kleinſtaaterei, dem Communionharze,
der einige Bergwerke und Ortſchaften mit etwa 700 Einwohnern umfaßte
und ein Jahr ums andere abwechſelnd von Hannover oder von Braun-

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[549/0565] Die Georgia Auguſta. phäliſchen Zwiſchenherrſchaft — nach einander nur fünf Männer die Ge- ſchäfte der Univerſität: zuerſt ihr Stifter Münchhauſen, dann Brandes Vater und Sohn und die beiden Brüder Hoppenſtedt, alle fünf ausge- zeichnet durch hohe Bildung, Menſchenkenntniß, Feinheit. So vererbte ſich eine akademiſche Familientradition von Geſchlecht zu Geſchlecht; mit einem Zartgefühle, das ſich in einem großen Staate von ſelbſt verboten hätte, wurde die Empfindlichkeit der Gelehrten geſchont. Als der große Blumenbach auf ſeine alten Tage die läſtige Gewohnheit annahm, alle Amtsſchreiben, die er wegen der Naturwiſſenſchaftlichen Sammlungen er- hielt, ungeleſen in den Papierkorb zu werfen, da wußte Hoppenſtedt jede Ombrage zu vermeiden; er ließ fortan die Miniſterialſchreiben in zwei Abſchriften nach Göttingen ſenden, die eine verſchwand in Blumenbach’s Papierkorb, die andere gelangte an den zweiten Director der Sammlungen. War ein Lehrſtuhl erledigt, ſo wurden zunächſt bei Heyne, Heeren oder anderen vertrauten Profeſſoren Erkundigungen eingezogen, dann alle ge- lehrten Stachelſchweine, die etwa Unfrieden erregen konnten, ſorgfältig aus der Liſte entfernt und ſchließlich, ohne Rückſicht auf die Koſten, faſt immer ein tüchtiger und friedfertiger Mann berufen. Philoſophie und ſchöne Literatur wollten in der kühlen Göttinger Luft freilich nicht gedeihen, aber in jeder Facultät wirkten ausgezeichnete Fachmänner, in der juriſtiſchen neben dem alten Hugo der beliebteſte aller Rechtslehrer, K. F. Eichhorn, und mit Recht durfte Gauß rühmen, für die Phraſe ſei hier nie ein Boden geweſen. Niemals früher hatte die Georgia Auguſta ſich eines ſo zahl- reichen Beſuchs erfreut; der ſprichwörtliche Stolz ihrer Hofräthe war um ſo begreiflicher, da das Welfenland keine andere Stätte höherer Bildung beſaß. Der Hauptſtadt fehlten alle die Kunſtwerke und Sammlungen, mit denen die deutſchen Höfe ihre Reſidenzen zu ſchmücken pflegten; der Fremde fand hier außer dem ſchönen alten Rathhauſe nichts Merkwürdiges zu ſehen als etwa die Iſabellen des Marſtalls. Auch in den anderen Städten war wenig Leben. Der gewaltige Verkehr, der ſich einſt in althanſiſcher Zeit um die Ilmenaubrücke zu Lüneburg bewegt, hatte längſt andere Wege eingeſchlagen; die feierliche Pracht der Kirchen und die kunſtvollen Holz- ſchnitzereien an den Bürgerhäuſern Hildesheims erzählten auch nur von längſt verſchwundener Größe. Das heitere fränkiſche Völkchen droben im Harz dünkte ſich zwar, im Bewußtſein ſeiner bergmänniſchen Kunſtfertig- keit, weit gewitzter als die ſchwerfälligen Niederſachſen der Ebene, aber der wirthſchaftliche Unternehmungstrieb fehlte auch dort; die königliche „Herr- ſchaft“ beſaß die Forſten wie die Gruben, ſie mußte in jeder Noth durch Brotkorn und andere Hilfe ihren Bergknappen beiſpringen. Noch ſorg- loſer als unter der väterlichen Berghauptmannſchaft zu Clausthal lebte ſich’s in dem Paradieſe der deutſchen Kleinſtaaterei, dem Communionharze, der einige Bergwerke und Ortſchaften mit etwa 700 Einwohnern umfaßte und ein Jahr ums andere abwechſelnd von Hannover oder von Braun-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/565>, abgerufen am 25.11.2024.