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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.

Das altständische Wesen war aber in Niedersachsen dermaßen ins
Kraut geschossen, daß selbst Münster und dieser sein conservativer Rath-
geber sich gezwungen sahen behutsam in der Wildniß zu roden. Am
12. August 1814 wurden durch königliche Verordnung "die sämmtlichen
Stände aller zum Kurfürstenthum gehörigen Staaten" berufen, Ver-
treter zu einer allgemeinen Ständeversammlung zu senden. Es war ein
nothwendiger Entschluß -- denn wie hätte der Prinzregent sich mit den
Trümmern von etwa vierzehn Landtagen über ihre Vereinigung verstän-
digen sollen? -- aber ein gefährlicher Rechtsbruch. Indem man die alten
Landstände anerkannte und doch ihre Zustimmung nicht einholte, gab man
ihnen selber einen Vorwand die Rechtmäßigkeit der neuen Ordnung an-
zuzweifeln. Der Landtag bestand aus 8 Prälaten, 48 Rittern, 38 Ver-
tretern der Städte. Da die Ostfriesen sich das alte Recht ihres "dritten
Standes" nicht nehmen ließen, so wurden noch fünf Vertreter der ost-
friesischen Bauernschaft und drei freie Bauern aus anderen Landschaften
berufen. Diese acht Stimmen sollten einem Bauernstande genügen, der
von dem Acker- und Forstlande des Königreichs etwa drei Viertel besaß;
denn nach der altwelfischen, auch von Rehberg getheilten Rechtsansicht
wurde der bäuerliche Hintersasse durch seinen Gutsherrn vertreten, und
erst vor wenigen Jahrzehnten hatte das Reichskammergericht dem klagen-
den Hildesheimer Landvolke die Belehrung ertheilt, ein Bauernstand sei in
der deutschen Verfassung unerfindlich. --

Am 15. December wurde der Landtag eröffnet, mit all der Ruhm-
redigkeit, welche die hannoversche Krone gleich der bairischen auszeichnete.
Die Thronrede hob hervor, daß der Prinzregent durch die Einberufung
seiner Stände allen deutschen Fürsten ein Beispiel gebe. Der Präsident
Graf Schulenburg erwiderte Namens der Stände, durch England seien die
großen Mächte bewogen worden Deutschland die Freiheit wiederzugeben,
und jetzt werde "von dem britischen Throne das heilige Feuer ausgehen,
welches ein Volk entzündet der Freiheit werth zu sein." Dann versicherte
der Herzog von Cambridge nochmals: dieser Landtag sei berufen, dem Prinz-
regenten "das zu sein was in dem mit uns verschwisterten Großbritannien
das Parlament ist: ein hoher Rath der Nation." Vollständig wurde der
Reiz dieser drei Prachtreden nur von den Eingeweihten genossen, die ein-
ander zuflüsterten, daß alle drei aus Rehberg's fleißiger Feder entsprungen
seien. Auch im Landtage bemühte man sich nach Kräften, englische Formen
nachzuahmen; man sprach von dem Hause, von dem geehrten Redner gegen-
über, von der Ministerpartei und der Opposition. Der Inhalt der Ver-
handlungen unterschied sich freilich nur wenig von dem gewohnten Still-
leben altständischer Versammlungen; sogar die Oeffentlichkeit der Bera-
thung, welche Rehberg selbst empfahl, wollte der Landtag nicht zugeben.

Indeß kam doch eine wichtige Reform zu Stande: die gesammten
Schulden und Steuern der Landschaften wurden in eine Masse geworfen

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.

Das altſtändiſche Weſen war aber in Niederſachſen dermaßen ins
Kraut geſchoſſen, daß ſelbſt Münſter und dieſer ſein conſervativer Rath-
geber ſich gezwungen ſahen behutſam in der Wildniß zu roden. Am
12. Auguſt 1814 wurden durch königliche Verordnung „die ſämmtlichen
Stände aller zum Kurfürſtenthum gehörigen Staaten“ berufen, Ver-
treter zu einer allgemeinen Ständeverſammlung zu ſenden. Es war ein
nothwendiger Entſchluß — denn wie hätte der Prinzregent ſich mit den
Trümmern von etwa vierzehn Landtagen über ihre Vereinigung verſtän-
digen ſollen? — aber ein gefährlicher Rechtsbruch. Indem man die alten
Landſtände anerkannte und doch ihre Zuſtimmung nicht einholte, gab man
ihnen ſelber einen Vorwand die Rechtmäßigkeit der neuen Ordnung an-
zuzweifeln. Der Landtag beſtand aus 8 Prälaten, 48 Rittern, 38 Ver-
tretern der Städte. Da die Oſtfrieſen ſich das alte Recht ihres „dritten
Standes“ nicht nehmen ließen, ſo wurden noch fünf Vertreter der oſt-
frieſiſchen Bauernſchaft und drei freie Bauern aus anderen Landſchaften
berufen. Dieſe acht Stimmen ſollten einem Bauernſtande genügen, der
von dem Acker- und Forſtlande des Königreichs etwa drei Viertel beſaß;
denn nach der altwelfiſchen, auch von Rehberg getheilten Rechtsanſicht
wurde der bäuerliche Hinterſaſſe durch ſeinen Gutsherrn vertreten, und
erſt vor wenigen Jahrzehnten hatte das Reichskammergericht dem klagen-
den Hildesheimer Landvolke die Belehrung ertheilt, ein Bauernſtand ſei in
der deutſchen Verfaſſung unerfindlich. —

Am 15. December wurde der Landtag eröffnet, mit all der Ruhm-
redigkeit, welche die hannoverſche Krone gleich der bairiſchen auszeichnete.
Die Thronrede hob hervor, daß der Prinzregent durch die Einberufung
ſeiner Stände allen deutſchen Fürſten ein Beiſpiel gebe. Der Präſident
Graf Schulenburg erwiderte Namens der Stände, durch England ſeien die
großen Mächte bewogen worden Deutſchland die Freiheit wiederzugeben,
und jetzt werde „von dem britiſchen Throne das heilige Feuer ausgehen,
welches ein Volk entzündet der Freiheit werth zu ſein.“ Dann verſicherte
der Herzog von Cambridge nochmals: dieſer Landtag ſei berufen, dem Prinz-
regenten „das zu ſein was in dem mit uns verſchwiſterten Großbritannien
das Parlament iſt: ein hoher Rath der Nation.“ Vollſtändig wurde der
Reiz dieſer drei Prachtreden nur von den Eingeweihten genoſſen, die ein-
ander zuflüſterten, daß alle drei aus Rehberg’s fleißiger Feder entſprungen
ſeien. Auch im Landtage bemühte man ſich nach Kräften, engliſche Formen
nachzuahmen; man ſprach von dem Hauſe, von dem geehrten Redner gegen-
über, von der Miniſterpartei und der Oppoſition. Der Inhalt der Ver-
handlungen unterſchied ſich freilich nur wenig von dem gewohnten Still-
leben altſtändiſcher Verſammlungen; ſogar die Oeffentlichkeit der Bera-
thung, welche Rehberg ſelbſt empfahl, wollte der Landtag nicht zugeben.

Indeß kam doch eine wichtige Reform zu Stande: die geſammten
Schulden und Steuern der Landſchaften wurden in eine Maſſe geworfen

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[546/0562] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. Das altſtändiſche Weſen war aber in Niederſachſen dermaßen ins Kraut geſchoſſen, daß ſelbſt Münſter und dieſer ſein conſervativer Rath- geber ſich gezwungen ſahen behutſam in der Wildniß zu roden. Am 12. Auguſt 1814 wurden durch königliche Verordnung „die ſämmtlichen Stände aller zum Kurfürſtenthum gehörigen Staaten“ berufen, Ver- treter zu einer allgemeinen Ständeverſammlung zu ſenden. Es war ein nothwendiger Entſchluß — denn wie hätte der Prinzregent ſich mit den Trümmern von etwa vierzehn Landtagen über ihre Vereinigung verſtän- digen ſollen? — aber ein gefährlicher Rechtsbruch. Indem man die alten Landſtände anerkannte und doch ihre Zuſtimmung nicht einholte, gab man ihnen ſelber einen Vorwand die Rechtmäßigkeit der neuen Ordnung an- zuzweifeln. Der Landtag beſtand aus 8 Prälaten, 48 Rittern, 38 Ver- tretern der Städte. Da die Oſtfrieſen ſich das alte Recht ihres „dritten Standes“ nicht nehmen ließen, ſo wurden noch fünf Vertreter der oſt- frieſiſchen Bauernſchaft und drei freie Bauern aus anderen Landſchaften berufen. Dieſe acht Stimmen ſollten einem Bauernſtande genügen, der von dem Acker- und Forſtlande des Königreichs etwa drei Viertel beſaß; denn nach der altwelfiſchen, auch von Rehberg getheilten Rechtsanſicht wurde der bäuerliche Hinterſaſſe durch ſeinen Gutsherrn vertreten, und erſt vor wenigen Jahrzehnten hatte das Reichskammergericht dem klagen- den Hildesheimer Landvolke die Belehrung ertheilt, ein Bauernſtand ſei in der deutſchen Verfaſſung unerfindlich. — Am 15. December wurde der Landtag eröffnet, mit all der Ruhm- redigkeit, welche die hannoverſche Krone gleich der bairiſchen auszeichnete. Die Thronrede hob hervor, daß der Prinzregent durch die Einberufung ſeiner Stände allen deutſchen Fürſten ein Beiſpiel gebe. Der Präſident Graf Schulenburg erwiderte Namens der Stände, durch England ſeien die großen Mächte bewogen worden Deutſchland die Freiheit wiederzugeben, und jetzt werde „von dem britiſchen Throne das heilige Feuer ausgehen, welches ein Volk entzündet der Freiheit werth zu ſein.“ Dann verſicherte der Herzog von Cambridge nochmals: dieſer Landtag ſei berufen, dem Prinz- regenten „das zu ſein was in dem mit uns verſchwiſterten Großbritannien das Parlament iſt: ein hoher Rath der Nation.“ Vollſtändig wurde der Reiz dieſer drei Prachtreden nur von den Eingeweihten genoſſen, die ein- ander zuflüſterten, daß alle drei aus Rehberg’s fleißiger Feder entſprungen ſeien. Auch im Landtage bemühte man ſich nach Kräften, engliſche Formen nachzuahmen; man ſprach von dem Hauſe, von dem geehrten Redner gegen- über, von der Miniſterpartei und der Oppoſition. Der Inhalt der Ver- handlungen unterſchied ſich freilich nur wenig von dem gewohnten Still- leben altſtändiſcher Verſammlungen; ſogar die Oeffentlichkeit der Bera- thung, welche Rehberg ſelbſt empfahl, wollte der Landtag nicht zugeben. Indeß kam doch eine wichtige Reform zu Stande: die geſammten Schulden und Steuern der Landſchaften wurden in eine Maſſe geworfen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/562>, abgerufen am 22.11.2024.