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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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England und Hannover.
britischer Freiheit und Größe, sie sangen das Rule Britannia wie ein han-
noverisches Nationallied und widmeten dem mächtigen Schwestervolke eine
brünstige Verehrung, welche von drüben nur mit insularischem Hochmuth
erwidert wurde. Selbst der Schwabe Spittler, zu seiner Zeit der freieste
Geist unter allen politischen Denkern Deutschlands, konnte sich als er in
Göttingen lebte der landläufigen Selbsttäuschung nicht entziehen; er fand,
für die welfische Macht bleibe heute nichts mehr zu wünschen übrig als
daß sie dauere, und sagte zufrieden: "Wir sind ja hier so gern Halb-
Engländer, und gewiß nicht blos in Kleidung, Sitte und Mode, sondern
auch im Charakter."

So wurde Kurhannover neben Baiern und Kursachsen eine der drei
Hochburgen des deutschen politischen Particularismus. In Baiern erschien
die particularistische Gesinnung naiv und naturwüchsig, in Obersachsen
gehässig und bitter, in Hannover steif und dünkelhaft. Der alte Sonder-
geist der Niedersachsen und die unvergessenen Erinnerungen aus den fernen
Zeiten altwelfischer Größe verschwisterten sich mit dem neuen großbritan-
nischen Selbstgefühle, und nach deutschem Brauche fanden sich auch bald
gelehrte Systematiker, welche den englischen Parlamentarismus mit der
kurhannoverschen Adelsoligarchie unter eine gemeinsame Formel brachten,
an der Themse wie an der Leine überall denselben Segen "welfischer Frei-
heit" entdeckten. Mit dem ganzen Stolze seines Englands blickte der kur-
hannoversche Beamte herab auf die armen Teufel die nur Deutsche waren,
und behandelte die hessischen Nachbarn so herablassend, als ob sein Kur-
fürst, und nicht das englische Parlament, dem Kasseler Landgrafen die
Truppen bezahlte.

Unterthänige Federn erinnerten gern an die Freundschaft, welche schon
vor Jahrhunderten zwischen dem Welfenhause und der englischen Krone
bestanden hatte. Aber wie anders, Macht gegen Macht, waren einst Hein-
rich der Löwe und Kaiser Otto IV. dem Insellande gegenübergetreten.
Jetzt war der deutsche Welfenstaat nur ein bescheidenes Nebenland des
britischen Weltreichs, beständig mißbraucht von dem stärkeren Genossen. In
der Hitze des Streits eiferten die Redner des Parlaments zuweilen wider
den hannoverschen Einfluß und wünschten dies Land des Unheils im Meere
versinken zu sehen; der Abscheu vor allem ausländischen Wesen lag den
Briten so tief im Blute, daß sie den Welfen ihre deutsche Abstammung
erst in der fünften Generation ganz verziehen. Als aber Lord Castlereagh
nach den napoleonischen Kriegen die Summe zog aus den Erfahrungen
des ersten Jahrhunderts englischer Welfenherrschaft, da mußte er selber
ehrlich bekennen, Hannover habe durch die Verbindung mit Großbritannien
mehr gelitten als gewonnen. Eine Ausbeutung, wie sie Kursachsen zu
Gunsten Polens erlitt, ward von den drei ersten Georgen freilich nie ver-
sucht; während ihr englischer Hofhalt durch die Bestechung der Parlaments-
mitglieder beständig in Noth gerieth und das Haus der Gemeinen mehr-

England und Hannover.
britiſcher Freiheit und Größe, ſie ſangen das Rule Britannia wie ein han-
noveriſches Nationallied und widmeten dem mächtigen Schweſtervolke eine
brünſtige Verehrung, welche von drüben nur mit inſulariſchem Hochmuth
erwidert wurde. Selbſt der Schwabe Spittler, zu ſeiner Zeit der freieſte
Geiſt unter allen politiſchen Denkern Deutſchlands, konnte ſich als er in
Göttingen lebte der landläufigen Selbſttäuſchung nicht entziehen; er fand,
für die welfiſche Macht bleibe heute nichts mehr zu wünſchen übrig als
daß ſie dauere, und ſagte zufrieden: „Wir ſind ja hier ſo gern Halb-
Engländer, und gewiß nicht blos in Kleidung, Sitte und Mode, ſondern
auch im Charakter.“

So wurde Kurhannover neben Baiern und Kurſachſen eine der drei
Hochburgen des deutſchen politiſchen Particularismus. In Baiern erſchien
die particulariſtiſche Geſinnung naiv und naturwüchſig, in Oberſachſen
gehäſſig und bitter, in Hannover ſteif und dünkelhaft. Der alte Sonder-
geiſt der Niederſachſen und die unvergeſſenen Erinnerungen aus den fernen
Zeiten altwelfiſcher Größe verſchwiſterten ſich mit dem neuen großbritan-
niſchen Selbſtgefühle, und nach deutſchem Brauche fanden ſich auch bald
gelehrte Syſtematiker, welche den engliſchen Parlamentarismus mit der
kurhannoverſchen Adelsoligarchie unter eine gemeinſame Formel brachten,
an der Themſe wie an der Leine überall denſelben Segen „welfiſcher Frei-
heit“ entdeckten. Mit dem ganzen Stolze ſeines Englands blickte der kur-
hannoverſche Beamte herab auf die armen Teufel die nur Deutſche waren,
und behandelte die heſſiſchen Nachbarn ſo herablaſſend, als ob ſein Kur-
fürſt, und nicht das engliſche Parlament, dem Kaſſeler Landgrafen die
Truppen bezahlte.

Unterthänige Federn erinnerten gern an die Freundſchaft, welche ſchon
vor Jahrhunderten zwiſchen dem Welfenhauſe und der engliſchen Krone
beſtanden hatte. Aber wie anders, Macht gegen Macht, waren einſt Hein-
rich der Löwe und Kaiſer Otto IV. dem Inſellande gegenübergetreten.
Jetzt war der deutſche Welfenſtaat nur ein beſcheidenes Nebenland des
britiſchen Weltreichs, beſtändig mißbraucht von dem ſtärkeren Genoſſen. In
der Hitze des Streits eiferten die Redner des Parlaments zuweilen wider
den hannoverſchen Einfluß und wünſchten dies Land des Unheils im Meere
verſinken zu ſehen; der Abſcheu vor allem ausländiſchen Weſen lag den
Briten ſo tief im Blute, daß ſie den Welfen ihre deutſche Abſtammung
erſt in der fünften Generation ganz verziehen. Als aber Lord Caſtlereagh
nach den napoleoniſchen Kriegen die Summe zog aus den Erfahrungen
des erſten Jahrhunderts engliſcher Welfenherrſchaft, da mußte er ſelber
ehrlich bekennen, Hannover habe durch die Verbindung mit Großbritannien
mehr gelitten als gewonnen. Eine Ausbeutung, wie ſie Kurſachſen zu
Gunſten Polens erlitt, ward von den drei erſten Georgen freilich nie ver-
ſucht; während ihr engliſcher Hofhalt durch die Beſtechung der Parlaments-
mitglieder beſtändig in Noth gerieth und das Haus der Gemeinen mehr-

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[537/0553] England und Hannover. britiſcher Freiheit und Größe, ſie ſangen das Rule Britannia wie ein han- noveriſches Nationallied und widmeten dem mächtigen Schweſtervolke eine brünſtige Verehrung, welche von drüben nur mit inſulariſchem Hochmuth erwidert wurde. Selbſt der Schwabe Spittler, zu ſeiner Zeit der freieſte Geiſt unter allen politiſchen Denkern Deutſchlands, konnte ſich als er in Göttingen lebte der landläufigen Selbſttäuſchung nicht entziehen; er fand, für die welfiſche Macht bleibe heute nichts mehr zu wünſchen übrig als daß ſie dauere, und ſagte zufrieden: „Wir ſind ja hier ſo gern Halb- Engländer, und gewiß nicht blos in Kleidung, Sitte und Mode, ſondern auch im Charakter.“ So wurde Kurhannover neben Baiern und Kurſachſen eine der drei Hochburgen des deutſchen politiſchen Particularismus. In Baiern erſchien die particulariſtiſche Geſinnung naiv und naturwüchſig, in Oberſachſen gehäſſig und bitter, in Hannover ſteif und dünkelhaft. Der alte Sonder- geiſt der Niederſachſen und die unvergeſſenen Erinnerungen aus den fernen Zeiten altwelfiſcher Größe verſchwiſterten ſich mit dem neuen großbritan- niſchen Selbſtgefühle, und nach deutſchem Brauche fanden ſich auch bald gelehrte Syſtematiker, welche den engliſchen Parlamentarismus mit der kurhannoverſchen Adelsoligarchie unter eine gemeinſame Formel brachten, an der Themſe wie an der Leine überall denſelben Segen „welfiſcher Frei- heit“ entdeckten. Mit dem ganzen Stolze ſeines Englands blickte der kur- hannoverſche Beamte herab auf die armen Teufel die nur Deutſche waren, und behandelte die heſſiſchen Nachbarn ſo herablaſſend, als ob ſein Kur- fürſt, und nicht das engliſche Parlament, dem Kaſſeler Landgrafen die Truppen bezahlte. Unterthänige Federn erinnerten gern an die Freundſchaft, welche ſchon vor Jahrhunderten zwiſchen dem Welfenhauſe und der engliſchen Krone beſtanden hatte. Aber wie anders, Macht gegen Macht, waren einſt Hein- rich der Löwe und Kaiſer Otto IV. dem Inſellande gegenübergetreten. Jetzt war der deutſche Welfenſtaat nur ein beſcheidenes Nebenland des britiſchen Weltreichs, beſtändig mißbraucht von dem ſtärkeren Genoſſen. In der Hitze des Streits eiferten die Redner des Parlaments zuweilen wider den hannoverſchen Einfluß und wünſchten dies Land des Unheils im Meere verſinken zu ſehen; der Abſcheu vor allem ausländiſchen Weſen lag den Briten ſo tief im Blute, daß ſie den Welfen ihre deutſche Abſtammung erſt in der fünften Generation ganz verziehen. Als aber Lord Caſtlereagh nach den napoleoniſchen Kriegen die Summe zog aus den Erfahrungen des erſten Jahrhunderts engliſcher Welfenherrſchaft, da mußte er ſelber ehrlich bekennen, Hannover habe durch die Verbindung mit Großbritannien mehr gelitten als gewonnen. Eine Ausbeutung, wie ſie Kurſachſen zu Gunſten Polens erlitt, ward von den drei erſten Georgen freilich nie ver- ſucht; während ihr engliſcher Hofhalt durch die Beſtechung der Parlaments- mitglieder beſtändig in Noth gerieth und das Haus der Gemeinen mehr-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/553>, abgerufen am 25.11.2024.