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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Selbstherrschaft des Kurfürsten.
loren hatte, den Ruf, der ihr bis zum Ende der kurfürstlichen Zeiten ver-
blieben ist: daß sie bedeutende junge Kräfte zu gewinnen aber niemals sie
zu halten verstehe. Noch ärger lag der bürgerliche Wohlstand darnieder.
Kein anderer deutscher Gau zeigte noch so deutlich die Spuren des dreißig-
jährigen Krieges, keiner war so weit zurückgekommen von der Behäbigkeit
des sechzehnten Jahrhunderts. Wer jetzt in Fritzlar den herrlichen Re-
naissancebau des Nymphäums betrachtete, der wollte kaum glauben, daß
die Bürger dieses verödeten Ackerstädtchens sich jemals ein solches Hochzeits-
haus hatten bauen können. In jedem Bauernhause arbeiteten die Weiber
am Rocken und Webstuhl um dem Bauern seinen Hausbedarf und viel-
leicht etwas Leinwand für den Markt zu verschaffen; aber ein irgend
rühriger Gewerbfleiß hatte sich in dem Lande der großen Töpfe und des
saueren Weines, wie es die Rheinfranken nannten, noch nirgends ent-
wickelt, mit der einzigen Ausnahme Hanaus. Die schwachen Regungen
wirthschaftlicher Unternehmungslust wurden darniedergehalten durch ein
veraltetes Zollsystem, durch Binnenmauthen mitten im Kurfürstenthum
und durch unzählige lächerliche Quälereien: wie viele Jahre vergingen,
bis man das enge Stadtthor in Gelnhausen, das die große Leipzig-Frank-
furter Handelsstraße versperrte und alljährlich hunderte von Fuhrleuten
zum Umladen zwang, endlich abtrug. Vierzig Procent des Bodens waren
Waldland. Der Landmann lebte in der höchsten Einfachheit. An der
Schwalm, wo die größten Bauernhöfe des Landes lagen, war der Kaffee
noch ganz unbekannt und der Covent, ein altberüchtigtes Dünnbier, der
einzige Labetrank.

Ueberall Verfall und Armuth; auch die Aasvögel des deutschen Bauern-
elends, die Wucherjuden, hatten sich längst in Schaaren eingenistet. Auf
dem erinnerungsreichen Marburger Schlosse, der Geburtsstätte Philipp's
des Großmüthigen, saßen die Eisengefangenen; die schöne Marienkirche
drunten, das älteste Werk deutscher Gothik, lag verschmutzt und halb ver-
fallen, und von der staufischen Kaiserpfalz auf der Kinziginsel bei Geln-
hausen wurden um diese Zeit die besterhaltenen Theile auf den Abbruch
verkauft. Selbst für Kassel geschah gar nichts, obgleich sich doch sonst die
Residenz selbst in den schlecht regierten deutschen Kleinstaaten der landes-
fürstlichen Gnade zu erfreuen pflegte. In seinen jungen Jahren hatte
der Kurfürst noch einige Badeorte mit Anlagen geschmückt und den Park
der Wilhelmshöhe durch die lächerliche Geschmacklosigkeit seiner Löwenburg
verschönert; jetzt meinte er genug zu thun, wenn er das Standbild Napo-
leon's vom Königsplatze entfernte und dafür den menschenverkaufenden
alten pater patriae wieder auf dem Friedrichsplatze aufstellen ließ. In
den fünfzig Jahren bis zum Einzug der Preußen blieb Kassel fast völlig
unverändert, die Kunstsammlungen geschlossen, Alles so todt und öde, daß
die Göttinger Studenten, wenn sie herüberkamen, am hellen Mittag das
sechsfache Echo auf dem runden Königsplatze wecken konnten. Nur zu

Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 34

Die Selbſtherrſchaft des Kurfürſten.
loren hatte, den Ruf, der ihr bis zum Ende der kurfürſtlichen Zeiten ver-
blieben iſt: daß ſie bedeutende junge Kräfte zu gewinnen aber niemals ſie
zu halten verſtehe. Noch ärger lag der bürgerliche Wohlſtand darnieder.
Kein anderer deutſcher Gau zeigte noch ſo deutlich die Spuren des dreißig-
jährigen Krieges, keiner war ſo weit zurückgekommen von der Behäbigkeit
des ſechzehnten Jahrhunderts. Wer jetzt in Fritzlar den herrlichen Re-
naiſſancebau des Nymphäums betrachtete, der wollte kaum glauben, daß
die Bürger dieſes verödeten Ackerſtädtchens ſich jemals ein ſolches Hochzeits-
haus hatten bauen können. In jedem Bauernhauſe arbeiteten die Weiber
am Rocken und Webſtuhl um dem Bauern ſeinen Hausbedarf und viel-
leicht etwas Leinwand für den Markt zu verſchaffen; aber ein irgend
rühriger Gewerbfleiß hatte ſich in dem Lande der großen Töpfe und des
ſaueren Weines, wie es die Rheinfranken nannten, noch nirgends ent-
wickelt, mit der einzigen Ausnahme Hanaus. Die ſchwachen Regungen
wirthſchaftlicher Unternehmungsluſt wurden darniedergehalten durch ein
veraltetes Zollſyſtem, durch Binnenmauthen mitten im Kurfürſtenthum
und durch unzählige lächerliche Quälereien: wie viele Jahre vergingen,
bis man das enge Stadtthor in Gelnhauſen, das die große Leipzig-Frank-
furter Handelsſtraße verſperrte und alljährlich hunderte von Fuhrleuten
zum Umladen zwang, endlich abtrug. Vierzig Procent des Bodens waren
Waldland. Der Landmann lebte in der höchſten Einfachheit. An der
Schwalm, wo die größten Bauernhöfe des Landes lagen, war der Kaffee
noch ganz unbekannt und der Covent, ein altberüchtigtes Dünnbier, der
einzige Labetrank.

Ueberall Verfall und Armuth; auch die Aasvögel des deutſchen Bauern-
elends, die Wucherjuden, hatten ſich längſt in Schaaren eingeniſtet. Auf
dem erinnerungsreichen Marburger Schloſſe, der Geburtsſtätte Philipp’s
des Großmüthigen, ſaßen die Eiſengefangenen; die ſchöne Marienkirche
drunten, das älteſte Werk deutſcher Gothik, lag verſchmutzt und halb ver-
fallen, und von der ſtaufiſchen Kaiſerpfalz auf der Kinziginſel bei Geln-
hauſen wurden um dieſe Zeit die beſterhaltenen Theile auf den Abbruch
verkauft. Selbſt für Kaſſel geſchah gar nichts, obgleich ſich doch ſonſt die
Reſidenz ſelbſt in den ſchlecht regierten deutſchen Kleinſtaaten der landes-
fürſtlichen Gnade zu erfreuen pflegte. In ſeinen jungen Jahren hatte
der Kurfürſt noch einige Badeorte mit Anlagen geſchmückt und den Park
der Wilhelmshöhe durch die lächerliche Geſchmackloſigkeit ſeiner Löwenburg
verſchönert; jetzt meinte er genug zu thun, wenn er das Standbild Napo-
leon’s vom Königsplatze entfernte und dafür den menſchenverkaufenden
alten pater patriae wieder auf dem Friedrichsplatze aufſtellen ließ. In
den fünfzig Jahren bis zum Einzug der Preußen blieb Kaſſel faſt völlig
unverändert, die Kunſtſammlungen geſchloſſen, Alles ſo todt und öde, daß
die Göttinger Studenten, wenn ſie herüberkamen, am hellen Mittag das
ſechsfache Echo auf dem runden Königsplatze wecken konnten. Nur zu

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[529/0545] Die Selbſtherrſchaft des Kurfürſten. loren hatte, den Ruf, der ihr bis zum Ende der kurfürſtlichen Zeiten ver- blieben iſt: daß ſie bedeutende junge Kräfte zu gewinnen aber niemals ſie zu halten verſtehe. Noch ärger lag der bürgerliche Wohlſtand darnieder. Kein anderer deutſcher Gau zeigte noch ſo deutlich die Spuren des dreißig- jährigen Krieges, keiner war ſo weit zurückgekommen von der Behäbigkeit des ſechzehnten Jahrhunderts. Wer jetzt in Fritzlar den herrlichen Re- naiſſancebau des Nymphäums betrachtete, der wollte kaum glauben, daß die Bürger dieſes verödeten Ackerſtädtchens ſich jemals ein ſolches Hochzeits- haus hatten bauen können. In jedem Bauernhauſe arbeiteten die Weiber am Rocken und Webſtuhl um dem Bauern ſeinen Hausbedarf und viel- leicht etwas Leinwand für den Markt zu verſchaffen; aber ein irgend rühriger Gewerbfleiß hatte ſich in dem Lande der großen Töpfe und des ſaueren Weines, wie es die Rheinfranken nannten, noch nirgends ent- wickelt, mit der einzigen Ausnahme Hanaus. Die ſchwachen Regungen wirthſchaftlicher Unternehmungsluſt wurden darniedergehalten durch ein veraltetes Zollſyſtem, durch Binnenmauthen mitten im Kurfürſtenthum und durch unzählige lächerliche Quälereien: wie viele Jahre vergingen, bis man das enge Stadtthor in Gelnhauſen, das die große Leipzig-Frank- furter Handelsſtraße verſperrte und alljährlich hunderte von Fuhrleuten zum Umladen zwang, endlich abtrug. Vierzig Procent des Bodens waren Waldland. Der Landmann lebte in der höchſten Einfachheit. An der Schwalm, wo die größten Bauernhöfe des Landes lagen, war der Kaffee noch ganz unbekannt und der Covent, ein altberüchtigtes Dünnbier, der einzige Labetrank. Ueberall Verfall und Armuth; auch die Aasvögel des deutſchen Bauern- elends, die Wucherjuden, hatten ſich längſt in Schaaren eingeniſtet. Auf dem erinnerungsreichen Marburger Schloſſe, der Geburtsſtätte Philipp’s des Großmüthigen, ſaßen die Eiſengefangenen; die ſchöne Marienkirche drunten, das älteſte Werk deutſcher Gothik, lag verſchmutzt und halb ver- fallen, und von der ſtaufiſchen Kaiſerpfalz auf der Kinziginſel bei Geln- hauſen wurden um dieſe Zeit die beſterhaltenen Theile auf den Abbruch verkauft. Selbſt für Kaſſel geſchah gar nichts, obgleich ſich doch ſonſt die Reſidenz ſelbſt in den ſchlecht regierten deutſchen Kleinſtaaten der landes- fürſtlichen Gnade zu erfreuen pflegte. In ſeinen jungen Jahren hatte der Kurfürſt noch einige Badeorte mit Anlagen geſchmückt und den Park der Wilhelmshöhe durch die lächerliche Geſchmackloſigkeit ſeiner Löwenburg verſchönert; jetzt meinte er genug zu thun, wenn er das Standbild Napo- leon’s vom Königsplatze entfernte und dafür den menſchenverkaufenden alten pater patriae wieder auf dem Friedrichsplatze aufſtellen ließ. In den fünfzig Jahren bis zum Einzug der Preußen blieb Kaſſel faſt völlig unverändert, die Kunſtſammlungen geſchloſſen, Alles ſo todt und öde, daß die Göttinger Studenten, wenn ſie herüberkamen, am hellen Mittag das ſechsfache Echo auf dem runden Königsplatze wecken konnten. Nur zu Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 34

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/545>, abgerufen am 22.11.2024.