baren Aktenstücke zu Stande! Jeder Vorschlag wurde erst zwischen den verschiedenen ständischen Ausschüssen und Directorien siebenmal, unter Umständen neunmal hin und her geschoben, bevor ein Beschluß "gezogen" werden konnte, und der Volkswitz spottete, der Landtag spiele Kämmerchen. --
Als König Friedrich August starb (1827), erwartete man im Volke wie am Hofe allgemein, seine beiden greisen Brüder würden so viel Selbst- erkenntniß haben, zu Gunsten des jungen rüstigen Prinzen Friedrich August auf die Krone zu verzichten. Aber König Anton ließ sich sein Recht nicht nehmen, und Graf Einsiedel blieb im Amte, unter der aus- drücklichen, bereitwillig zugestandenen Bedingung, daß nicht das Mindeste an dem Bestehenden geändert werden dürfe.*) Der neue König war ein herzensguter Mann, weniger steif als sein älterer Bruder, aber der Ge- schäfte unkundig, da man ihn einst für den geistlichen Stand erzogen hatte, und so unbedeutend, daß ihn selbst die Dresdener Ehrfurcht nur mit dem Beinamen des Gütigen zu schmücken wußte. So ging denn das greisenhafte Regiment schläfrig und langweilig weiter; im Volke aber be- gann die Stimmung allmählich umzuschlagen. Während der ersten Frie- densjahre nahm die wirthschaftliche Noth hier wie in Preußen alle Ge- danken in Anspruch; denn furchtbar hatte das Land gelitten. Die Ver- luste der Dörfer auf dem Leipziger Schlachtfelde schätzte man amtlich auf mehr als dritthalb Millionen Thaler -- was unzweifelhaft noch zu niedrig war. In Dresden wurde nach dem Frieden manches der Garten- grundstücke, auf denen heute die freundlichen Villen der Antonsstadt stehen, für fünf oder zehn Thaler verkauft; mancher Hausherr war allein schon durch die ungeheuere Einquartierung zu Grunde gerichtet: hatte doch das Körner'sche Haus, zu 1085 Thlr. Miethwerth eingeschätzt, im Sommer 1813 binnen 6 1/2 Monaten eine Einquartierung von 7532 Mann ertragen müssen.**) Die gesammten Kriegsschäden vom Jahre 1813 beliefen sich auf mindestens 100 Mill. Thlr. Jetzt waren diese Wunden endlich aus- geheilt, und nun da die bittere Noth aufhörte, regte sich doch die Frage, ob Staat und Volk die Stellung in Deutschland behaupteten, die sie nach ihrer Geschichte verlangen durften. Auf die Dauer kam man nicht mehr aus mit dem beliebten Selbstlobe, Deutschland sei das Herz Europas, Sachsen das Herz von Deutschland, Dresden das Herz von Sachsen.
Wohl blieb die dynastische Ergebenheit unerschüttert. Mit banger Spannung blickte fast das ganze Land auf die Zukunft des königlichen Hauses, die eine Zeit lang sehr unsicher schien, weil die Ehen der beiden jungen Prinzen kinderlos blieben. Auf die Ermahnungen des Papstes und der Hofbeichtväter schloß Prinz Max noch in seinen hohen Jahren eine zweite Ehe mit einer jungen lucchesischen Prinzessin, aber der Kinder-
*) Jordan's Bericht, 17. Mai 1827.
**) Nach der Abrechnung von C. G. Körner.
Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 33
König Anton.
baren Aktenſtücke zu Stande! Jeder Vorſchlag wurde erſt zwiſchen den verſchiedenen ſtändiſchen Ausſchüſſen und Directorien ſiebenmal, unter Umſtänden neunmal hin und her geſchoben, bevor ein Beſchluß „gezogen“ werden konnte, und der Volkswitz ſpottete, der Landtag ſpiele Kämmerchen. —
Als König Friedrich Auguſt ſtarb (1827), erwartete man im Volke wie am Hofe allgemein, ſeine beiden greiſen Brüder würden ſo viel Selbſt- erkenntniß haben, zu Gunſten des jungen rüſtigen Prinzen Friedrich Auguſt auf die Krone zu verzichten. Aber König Anton ließ ſich ſein Recht nicht nehmen, und Graf Einſiedel blieb im Amte, unter der aus- drücklichen, bereitwillig zugeſtandenen Bedingung, daß nicht das Mindeſte an dem Beſtehenden geändert werden dürfe.*) Der neue König war ein herzensguter Mann, weniger ſteif als ſein älterer Bruder, aber der Ge- ſchäfte unkundig, da man ihn einſt für den geiſtlichen Stand erzogen hatte, und ſo unbedeutend, daß ihn ſelbſt die Dresdener Ehrfurcht nur mit dem Beinamen des Gütigen zu ſchmücken wußte. So ging denn das greiſenhafte Regiment ſchläfrig und langweilig weiter; im Volke aber be- gann die Stimmung allmählich umzuſchlagen. Während der erſten Frie- densjahre nahm die wirthſchaftliche Noth hier wie in Preußen alle Ge- danken in Anſpruch; denn furchtbar hatte das Land gelitten. Die Ver- luſte der Dörfer auf dem Leipziger Schlachtfelde ſchätzte man amtlich auf mehr als dritthalb Millionen Thaler — was unzweifelhaft noch zu niedrig war. In Dresden wurde nach dem Frieden manches der Garten- grundſtücke, auf denen heute die freundlichen Villen der Antonsſtadt ſtehen, für fünf oder zehn Thaler verkauft; mancher Hausherr war allein ſchon durch die ungeheuere Einquartierung zu Grunde gerichtet: hatte doch das Körner’ſche Haus, zu 1085 Thlr. Miethwerth eingeſchätzt, im Sommer 1813 binnen 6 ½ Monaten eine Einquartierung von 7532 Mann ertragen müſſen.**) Die geſammten Kriegsſchäden vom Jahre 1813 beliefen ſich auf mindeſtens 100 Mill. Thlr. Jetzt waren dieſe Wunden endlich aus- geheilt, und nun da die bittere Noth aufhörte, regte ſich doch die Frage, ob Staat und Volk die Stellung in Deutſchland behaupteten, die ſie nach ihrer Geſchichte verlangen durften. Auf die Dauer kam man nicht mehr aus mit dem beliebten Selbſtlobe, Deutſchland ſei das Herz Europas, Sachſen das Herz von Deutſchland, Dresden das Herz von Sachſen.
Wohl blieb die dynaſtiſche Ergebenheit unerſchüttert. Mit banger Spannung blickte faſt das ganze Land auf die Zukunft des königlichen Hauſes, die eine Zeit lang ſehr unſicher ſchien, weil die Ehen der beiden jungen Prinzen kinderlos blieben. Auf die Ermahnungen des Papſtes und der Hofbeichtväter ſchloß Prinz Max noch in ſeinen hohen Jahren eine zweite Ehe mit einer jungen luccheſiſchen Prinzeſſin, aber der Kinder-
*) Jordan’s Bericht, 17. Mai 1827.
**) Nach der Abrechnung von C. G. Körner.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. III. 33
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König Anton.
baren Aktenſtücke zu Stande! Jeder Vorſchlag wurde erſt zwiſchen den
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Umſtänden neunmal hin und her geſchoben, bevor ein Beſchluß „gezogen“
werden konnte, und der Volkswitz ſpottete, der Landtag ſpiele Kämmerchen. —
Als König Friedrich Auguſt ſtarb (1827), erwartete man im Volke
wie am Hofe allgemein, ſeine beiden greiſen Brüder würden ſo viel Selbſt-
erkenntniß haben, zu Gunſten des jungen rüſtigen Prinzen Friedrich
Auguſt auf die Krone zu verzichten. Aber König Anton ließ ſich ſein
Recht nicht nehmen, und Graf Einſiedel blieb im Amte, unter der aus-
drücklichen, bereitwillig zugeſtandenen Bedingung, daß nicht das Mindeſte
an dem Beſtehenden geändert werden dürfe. *) Der neue König war ein
herzensguter Mann, weniger ſteif als ſein älterer Bruder, aber der Ge-
ſchäfte unkundig, da man ihn einſt für den geiſtlichen Stand erzogen
hatte, und ſo unbedeutend, daß ihn ſelbſt die Dresdener Ehrfurcht nur
mit dem Beinamen des Gütigen zu ſchmücken wußte. So ging denn das
greiſenhafte Regiment ſchläfrig und langweilig weiter; im Volke aber be-
gann die Stimmung allmählich umzuſchlagen. Während der erſten Frie-
densjahre nahm die wirthſchaftliche Noth hier wie in Preußen alle Ge-
danken in Anſpruch; denn furchtbar hatte das Land gelitten. Die Ver-
luſte der Dörfer auf dem Leipziger Schlachtfelde ſchätzte man amtlich
auf mehr als dritthalb Millionen Thaler — was unzweifelhaft noch zu
niedrig war. In Dresden wurde nach dem Frieden manches der Garten-
grundſtücke, auf denen heute die freundlichen Villen der Antonsſtadt ſtehen,
für fünf oder zehn Thaler verkauft; mancher Hausherr war allein ſchon
durch die ungeheuere Einquartierung zu Grunde gerichtet: hatte doch das
Körner’ſche Haus, zu 1085 Thlr. Miethwerth eingeſchätzt, im Sommer
1813 binnen 6 ½ Monaten eine Einquartierung von 7532 Mann ertragen
müſſen. **) Die geſammten Kriegsſchäden vom Jahre 1813 beliefen ſich
auf mindeſtens 100 Mill. Thlr. Jetzt waren dieſe Wunden endlich aus-
geheilt, und nun da die bittere Noth aufhörte, regte ſich doch die Frage,
ob Staat und Volk die Stellung in Deutſchland behaupteten, die ſie nach
ihrer Geſchichte verlangen durften. Auf die Dauer kam man nicht mehr
aus mit dem beliebten Selbſtlobe, Deutſchland ſei das Herz Europas,
Sachſen das Herz von Deutſchland, Dresden das Herz von Sachſen.
Wohl blieb die dynaſtiſche Ergebenheit unerſchüttert. Mit banger
Spannung blickte faſt das ganze Land auf die Zukunft des königlichen
Hauſes, die eine Zeit lang ſehr unſicher ſchien, weil die Ehen der beiden
jungen Prinzen kinderlos blieben. Auf die Ermahnungen des Papſtes
und der Hofbeichtväter ſchloß Prinz Max noch in ſeinen hohen Jahren
eine zweite Ehe mit einer jungen luccheſiſchen Prinzeſſin, aber der Kinder-
*) Jordan’s Bericht, 17. Mai 1827.
**) Nach der Abrechnung von C. G. Körner.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/529>, abgerufen am 22.11.2024.
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