III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Wage gehalten hatte. Dies ward jetzt anders, da Graf Einsiedel als streng orthodoxer Lutheraner den Ansprüchen des katholischen Clerus sehr freundlich entgegenkam. Die Vorliebe des Ministers für den Prediger Stephan, der in der Böhmischen Kirche zu Dresden eine fanatische Sekte um sich versammelte und späterhin als gemeiner Heuchler entlarvt wurde, erregte im Lande berechtigten Unwillen und verstimmte die öffentliche Mei- nung dermaßen, daß man dem unbeliebten Manne sogar seine Theilnahme an der Bibelgesellschaft, an dem Missionsvereine und ähnlichen unschul- digen christlichen Liebeswerken verdachte. Denn ganz unumschränkt herrschte noch im obersächsischen Volke der lutherische Rationalismus des alten Jahrhunderts, der von der evangelischen Union nichts wissen wollte, aber auch jede Regung streng kirchlichen Sinnes mit der äußersten Unduld- samkeit als Muckerei und Pfaffenthum bekämpfte. Die Verbreitung ortho- doxer Tractätchen war unter Ammon's rationalistischem Kirchenregimente streng untersagt. Die Conventikel des Grafen Dohna, eines Enkels von Zinzendorf, und die Schüler Schubert's, die gottseligen armen Weber im Erzgebirge mußten sich ebenso still halten wie die Brüdergemeinden, die in einem lieblichen Winkel der Lausitz ihr Pella-Herrnhut gegründet hatten.
Neben dem Cabinet bestanden der Geheime Rath, mit lediglich be- rathenden Befugnissen, und die Centralbehörde für Justiz und Polizei, die unförmliche Landesregierung. Im Finanzwesen herrschte noch unge- brochen der Dualismus des altständischen Staates. Das königliche Ge- heime Finanz-Collegium verwaltete die Domänen, das zum Theil durch den Landtag besetzte Obersteuercollegium die Mehrzahl der Abgaben; die Streitigkeiten zwischen Finanz-Aerar und Steuer-Aerar nahmen kein Ende. In den Aemtern führten die Amtshauptleute die Verwaltung, Staatsbe- amte aus dem angesessenen Adel, den preußischen Landräthen ähnlich. Die Ritterschaft aber fragte wenig nach ihnen; sie übte auf ihren Gütern eine fast unbeschränkte Polizeigewalt, ließ Recht sprechen durch Patrimonial- richter, welche der Gerichtsherr nach Belieben entlassen durfte, und be- herrschte ihre Hintersassen durch den Gesindezwang, durch schwere Grund- lasten, Zehnten und Frohnden. In der Lausitz bestand sogar noch die Erb- unterthänigkeit. Vollends in den Receßherrschaften des Hauses Schönburg besaß die Krone nicht viel mehr als den Namen der Landeshoheit; sie er- hob bis in die zwanziger Jahre hinein Aus- und Einfuhrzölle an den Grenzen dieses Vasallenländchens. Kaum minder selbstherrlich schaltete der Graf Solms-Wildenfels in seiner winzigen Standesherrschaft; der pflegte die Offiziere der benachbarten Zwickauer Garnison, wenn sie ihn besuchten, neugierig zu fragen: wie steht's denn bei Euch drüben in Sachsen?
Auch die Städte fühlten sich als Staaten im Staate; ihre Stadt- räthe ergänzten sich selbst, wie einst in Preußen vor den Reformen Friedrich Wilhelm's I., und bestanden in den großen Städten ausschließlich aus Juristen. In Leipzig und Dresden war der Rath, kraft der Privilegien
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Wage gehalten hatte. Dies ward jetzt anders, da Graf Einſiedel als ſtreng orthodoxer Lutheraner den Anſprüchen des katholiſchen Clerus ſehr freundlich entgegenkam. Die Vorliebe des Miniſters für den Prediger Stephan, der in der Böhmiſchen Kirche zu Dresden eine fanatiſche Sekte um ſich verſammelte und ſpäterhin als gemeiner Heuchler entlarvt wurde, erregte im Lande berechtigten Unwillen und verſtimmte die öffentliche Mei- nung dermaßen, daß man dem unbeliebten Manne ſogar ſeine Theilnahme an der Bibelgeſellſchaft, an dem Miſſionsvereine und ähnlichen unſchul- digen chriſtlichen Liebeswerken verdachte. Denn ganz unumſchränkt herrſchte noch im oberſächſiſchen Volke der lutheriſche Rationalismus des alten Jahrhunderts, der von der evangeliſchen Union nichts wiſſen wollte, aber auch jede Regung ſtreng kirchlichen Sinnes mit der äußerſten Unduld- ſamkeit als Muckerei und Pfaffenthum bekämpfte. Die Verbreitung ortho- doxer Tractätchen war unter Ammon’s rationaliſtiſchem Kirchenregimente ſtreng unterſagt. Die Conventikel des Grafen Dohna, eines Enkels von Zinzendorf, und die Schüler Schubert’s, die gottſeligen armen Weber im Erzgebirge mußten ſich ebenſo ſtill halten wie die Brüdergemeinden, die in einem lieblichen Winkel der Lauſitz ihr Pella-Herrnhut gegründet hatten.
Neben dem Cabinet beſtanden der Geheime Rath, mit lediglich be- rathenden Befugniſſen, und die Centralbehörde für Juſtiz und Polizei, die unförmliche Landesregierung. Im Finanzweſen herrſchte noch unge- brochen der Dualismus des altſtändiſchen Staates. Das königliche Ge- heime Finanz-Collegium verwaltete die Domänen, das zum Theil durch den Landtag beſetzte Oberſteuercollegium die Mehrzahl der Abgaben; die Streitigkeiten zwiſchen Finanz-Aerar und Steuer-Aerar nahmen kein Ende. In den Aemtern führten die Amtshauptleute die Verwaltung, Staatsbe- amte aus dem angeſeſſenen Adel, den preußiſchen Landräthen ähnlich. Die Ritterſchaft aber fragte wenig nach ihnen; ſie übte auf ihren Gütern eine faſt unbeſchränkte Polizeigewalt, ließ Recht ſprechen durch Patrimonial- richter, welche der Gerichtsherr nach Belieben entlaſſen durfte, und be- herrſchte ihre Hinterſaſſen durch den Geſindezwang, durch ſchwere Grund- laſten, Zehnten und Frohnden. In der Lauſitz beſtand ſogar noch die Erb- unterthänigkeit. Vollends in den Receßherrſchaften des Hauſes Schönburg beſaß die Krone nicht viel mehr als den Namen der Landeshoheit; ſie er- hob bis in die zwanziger Jahre hinein Aus- und Einfuhrzölle an den Grenzen dieſes Vaſallenländchens. Kaum minder ſelbſtherrlich ſchaltete der Graf Solms-Wildenfels in ſeiner winzigen Standesherrſchaft; der pflegte die Offiziere der benachbarten Zwickauer Garniſon, wenn ſie ihn beſuchten, neugierig zu fragen: wie ſteht’s denn bei Euch drüben in Sachſen?
Auch die Städte fühlten ſich als Staaten im Staate; ihre Stadt- räthe ergänzten ſich ſelbſt, wie einſt in Preußen vor den Reformen Friedrich Wilhelm’s I., und beſtanden in den großen Städten ausſchließlich aus Juriſten. In Leipzig und Dresden war der Rath, kraft der Privilegien
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III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Wage gehalten hatte. Dies ward jetzt anders, da Graf Einſiedel als
ſtreng orthodoxer Lutheraner den Anſprüchen des katholiſchen Clerus ſehr
freundlich entgegenkam. Die Vorliebe des Miniſters für den Prediger
Stephan, der in der Böhmiſchen Kirche zu Dresden eine fanatiſche Sekte
um ſich verſammelte und ſpäterhin als gemeiner Heuchler entlarvt wurde,
erregte im Lande berechtigten Unwillen und verſtimmte die öffentliche Mei-
nung dermaßen, daß man dem unbeliebten Manne ſogar ſeine Theilnahme
an der Bibelgeſellſchaft, an dem Miſſionsvereine und ähnlichen unſchul-
digen chriſtlichen Liebeswerken verdachte. Denn ganz unumſchränkt herrſchte
noch im oberſächſiſchen Volke der lutheriſche Rationalismus des alten
Jahrhunderts, der von der evangeliſchen Union nichts wiſſen wollte, aber
auch jede Regung ſtreng kirchlichen Sinnes mit der äußerſten Unduld-
ſamkeit als Muckerei und Pfaffenthum bekämpfte. Die Verbreitung ortho-
doxer Tractätchen war unter Ammon’s rationaliſtiſchem Kirchenregimente
ſtreng unterſagt. Die Conventikel des Grafen Dohna, eines Enkels von
Zinzendorf, und die Schüler Schubert’s, die gottſeligen armen Weber im
Erzgebirge mußten ſich ebenſo ſtill halten wie die Brüdergemeinden, die
in einem lieblichen Winkel der Lauſitz ihr Pella-Herrnhut gegründet hatten.
Neben dem Cabinet beſtanden der Geheime Rath, mit lediglich be-
rathenden Befugniſſen, und die Centralbehörde für Juſtiz und Polizei,
die unförmliche Landesregierung. Im Finanzweſen herrſchte noch unge-
brochen der Dualismus des altſtändiſchen Staates. Das königliche Ge-
heime Finanz-Collegium verwaltete die Domänen, das zum Theil durch
den Landtag beſetzte Oberſteuercollegium die Mehrzahl der Abgaben; die
Streitigkeiten zwiſchen Finanz-Aerar und Steuer-Aerar nahmen kein Ende.
In den Aemtern führten die Amtshauptleute die Verwaltung, Staatsbe-
amte aus dem angeſeſſenen Adel, den preußiſchen Landräthen ähnlich. Die
Ritterſchaft aber fragte wenig nach ihnen; ſie übte auf ihren Gütern eine
faſt unbeſchränkte Polizeigewalt, ließ Recht ſprechen durch Patrimonial-
richter, welche der Gerichtsherr nach Belieben entlaſſen durfte, und be-
herrſchte ihre Hinterſaſſen durch den Geſindezwang, durch ſchwere Grund-
laſten, Zehnten und Frohnden. In der Lauſitz beſtand ſogar noch die Erb-
unterthänigkeit. Vollends in den Receßherrſchaften des Hauſes Schönburg
beſaß die Krone nicht viel mehr als den Namen der Landeshoheit; ſie er-
hob bis in die zwanziger Jahre hinein Aus- und Einfuhrzölle an den
Grenzen dieſes Vaſallenländchens. Kaum minder ſelbſtherrlich ſchaltete
der Graf Solms-Wildenfels in ſeiner winzigen Standesherrſchaft; der
pflegte die Offiziere der benachbarten Zwickauer Garniſon, wenn ſie ihn
beſuchten, neugierig zu fragen: wie ſteht’s denn bei Euch drüben in Sachſen?
Auch die Städte fühlten ſich als Staaten im Staate; ihre Stadt-
räthe ergänzten ſich ſelbſt, wie einſt in Preußen vor den Reformen Friedrich
Wilhelm’s I., und beſtanden in den großen Städten ausſchließlich aus
Juriſten. In Leipzig und Dresden war der Rath, kraft der Privilegien
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/524>, abgerufen am 29.06.2024.
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