Die Nation war über das Problem der Zolleinheit noch ebenso wenig ins Klare gekommen wie ihre Staatsmänner. Von dem politischen Er- gebniß der Conferenzen erwartete sie, nach den Karlsbader Erfahrungen, nichts Erfreuliches; nur die Aufhebung der Binnenmauthen und nament- lich der preußischen Zolllinien erschien allen Parteien als ein bescheidener Wunsch, der bei einigem guten Willen der Regierungen leicht erfüllt werden konnte. Eine Flugschrift "Freimüthige Worte eines Deutschen aus Anhalt" sprach mit drastischen Worten aus, was nahezu alle Nichtpreußen über die Berliner Handelspolitik dachten. Der offenbar wohlmeinende Verfasser fand es ehrenrührig, daß man die von preußischem Gebiete um- schlossenen Staaten als Enclaven bezeichne, und schlechthin rechtswidrig, daß Preußen von "Fremden" Steuern erhebe; das Strafurtheil der öffent- lichen Meinung müsse der Sache "der Wahrheit und des Rechts" unfehl- bar zum Siege verhelfen.
Als Wortführer der Kaufleute und Gewerbtreibenden fand sich F. List mit seinen Getreuen J. J. Schnell und E. Weber auf den Conferenzen ein und legte eine Denkschrift vor, deren hochgemuthes patriotisches Pathos inmitten der engherzigen partikularistischen Interessenpolitik der Wiener Versammlung wildfremd erschien. Mit der Einheit der Nation -- so führte er in beredten Worten aus -- sei die vollkommene Unabhängigkeit der Einzelstaaten nicht vereinbar; der Bund müsse den dreißig Millionen Deutschen den Segen des freien Verkehrs schaffen und also in Wahrheit ein Bund der Deutschen werden. Und was war der praktische Vorschlag, der diesen begeisterten Worten folgte? List verlangte, daß die deutschen Staaten ihre Zölle an eine Aktiengesellschaft verpachten sollten, und machte sich anheischig die Aktien unterzubringen; diese Gesellschaft würde das deutsche Bundeszollwesen begründen und den Regierungen alle Sorge um lästige Einzelheiten abnehmen! Seltsam doch, in welche holden Selbst- täuschungen der feurige Patriot sich einwiegte. Er behauptete, Preußen sei geneigt sein Zollgesetz aufzugeben, obgleich man ihm soeben von Berlin aus amtlich das Gegentheil versichert hatte. Er sah sich von der Wiener Polizei argwöhnisch beobachtet und schrieb in die Heimath: "wir sind von allen Seiten mit Spionen umgeben, bei einem Spion einquartiert, von einem Spion bedient;"*) er wußte, daß Metternich in der Conferenz er- klärt hatte, mit den Individuen, welche sich für die Vertreter des deut- schen Handelsstandes ausgäben, könne man sich auf keine Verhandlungen einlassen, da der Bundestag bereits den Deutschen Handelsverein als ein gesetzwidriges und unzulässiges Unternehmen verurtheilt habe. Das Alles beirrte ihn nicht in seiner rührenden Zuversicht. Als nun gar Adam Müller eine Denkschrift List's über deutsche Industrie-Ausstellungen wohl- wollend begutachtete, und Kaiser Franz in einer Audienz dem unverwüst-
*) List an seine Gattin, Wien, 18. Febr. 1820.
III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Die Nation war über das Problem der Zolleinheit noch ebenſo wenig ins Klare gekommen wie ihre Staatsmänner. Von dem politiſchen Er- gebniß der Conferenzen erwartete ſie, nach den Karlsbader Erfahrungen, nichts Erfreuliches; nur die Aufhebung der Binnenmauthen und nament- lich der preußiſchen Zolllinien erſchien allen Parteien als ein beſcheidener Wunſch, der bei einigem guten Willen der Regierungen leicht erfüllt werden konnte. Eine Flugſchrift „Freimüthige Worte eines Deutſchen aus Anhalt“ ſprach mit draſtiſchen Worten aus, was nahezu alle Nichtpreußen über die Berliner Handelspolitik dachten. Der offenbar wohlmeinende Verfaſſer fand es ehrenrührig, daß man die von preußiſchem Gebiete um- ſchloſſenen Staaten als Enclaven bezeichne, und ſchlechthin rechtswidrig, daß Preußen von „Fremden“ Steuern erhebe; das Strafurtheil der öffent- lichen Meinung müſſe der Sache „der Wahrheit und des Rechts“ unfehl- bar zum Siege verhelfen.
Als Wortführer der Kaufleute und Gewerbtreibenden fand ſich F. Liſt mit ſeinen Getreuen J. J. Schnell und E. Weber auf den Conferenzen ein und legte eine Denkſchrift vor, deren hochgemuthes patriotiſches Pathos inmitten der engherzigen partikulariſtiſchen Intereſſenpolitik der Wiener Verſammlung wildfremd erſchien. Mit der Einheit der Nation — ſo führte er in beredten Worten aus — ſei die vollkommene Unabhängigkeit der Einzelſtaaten nicht vereinbar; der Bund müſſe den dreißig Millionen Deutſchen den Segen des freien Verkehrs ſchaffen und alſo in Wahrheit ein Bund der Deutſchen werden. Und was war der praktiſche Vorſchlag, der dieſen begeiſterten Worten folgte? Liſt verlangte, daß die deutſchen Staaten ihre Zölle an eine Aktiengeſellſchaft verpachten ſollten, und machte ſich anheiſchig die Aktien unterzubringen; dieſe Geſellſchaft würde das deutſche Bundeszollweſen begründen und den Regierungen alle Sorge um läſtige Einzelheiten abnehmen! Seltſam doch, in welche holden Selbſt- täuſchungen der feurige Patriot ſich einwiegte. Er behauptete, Preußen ſei geneigt ſein Zollgeſetz aufzugeben, obgleich man ihm ſoeben von Berlin aus amtlich das Gegentheil verſichert hatte. Er ſah ſich von der Wiener Polizei argwöhniſch beobachtet und ſchrieb in die Heimath: „wir ſind von allen Seiten mit Spionen umgeben, bei einem Spion einquartiert, von einem Spion bedient;“*) er wußte, daß Metternich in der Conferenz er- klärt hatte, mit den Individuen, welche ſich für die Vertreter des deut- ſchen Handelsſtandes ausgäben, könne man ſich auf keine Verhandlungen einlaſſen, da der Bundestag bereits den Deutſchen Handelsverein als ein geſetzwidriges und unzuläſſiges Unternehmen verurtheilt habe. Das Alles beirrte ihn nicht in ſeiner rührenden Zuverſicht. Als nun gar Adam Müller eine Denkſchrift Liſt’s über deutſche Induſtrie-Ausſtellungen wohl- wollend begutachtete, und Kaiſer Franz in einer Audienz dem unverwüſt-
*) Liſt an ſeine Gattin, Wien, 18. Febr. 1820.
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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Die Nation war über das Problem der Zolleinheit noch ebenſo wenig
ins Klare gekommen wie ihre Staatsmänner. Von dem politiſchen Er-
gebniß der Conferenzen erwartete ſie, nach den Karlsbader Erfahrungen,
nichts Erfreuliches; nur die Aufhebung der Binnenmauthen und nament-
lich der preußiſchen Zolllinien erſchien allen Parteien als ein beſcheidener
Wunſch, der bei einigem guten Willen der Regierungen leicht erfüllt
werden konnte. Eine Flugſchrift „Freimüthige Worte eines Deutſchen aus
Anhalt“ ſprach mit draſtiſchen Worten aus, was nahezu alle Nichtpreußen
über die Berliner Handelspolitik dachten. Der offenbar wohlmeinende
Verfaſſer fand es ehrenrührig, daß man die von preußiſchem Gebiete um-
ſchloſſenen Staaten als Enclaven bezeichne, und ſchlechthin rechtswidrig,
daß Preußen von „Fremden“ Steuern erhebe; das Strafurtheil der öffent-
lichen Meinung müſſe der Sache „der Wahrheit und des Rechts“ unfehl-
bar zum Siege verhelfen.
Als Wortführer der Kaufleute und Gewerbtreibenden fand ſich F.
Liſt mit ſeinen Getreuen J. J. Schnell und E. Weber auf den Conferenzen
ein und legte eine Denkſchrift vor, deren hochgemuthes patriotiſches Pathos
inmitten der engherzigen partikulariſtiſchen Intereſſenpolitik der Wiener
Verſammlung wildfremd erſchien. Mit der Einheit der Nation — ſo
führte er in beredten Worten aus — ſei die vollkommene Unabhängigkeit
der Einzelſtaaten nicht vereinbar; der Bund müſſe den dreißig Millionen
Deutſchen den Segen des freien Verkehrs ſchaffen und alſo in Wahrheit
ein Bund der Deutſchen werden. Und was war der praktiſche Vorſchlag,
der dieſen begeiſterten Worten folgte? Liſt verlangte, daß die deutſchen
Staaten ihre Zölle an eine Aktiengeſellſchaft verpachten ſollten, und machte
ſich anheiſchig die Aktien unterzubringen; dieſe Geſellſchaft würde das
deutſche Bundeszollweſen begründen und den Regierungen alle Sorge um
läſtige Einzelheiten abnehmen! Seltſam doch, in welche holden Selbſt-
täuſchungen der feurige Patriot ſich einwiegte. Er behauptete, Preußen
ſei geneigt ſein Zollgeſetz aufzugeben, obgleich man ihm ſoeben von Berlin
aus amtlich das Gegentheil verſichert hatte. Er ſah ſich von der Wiener
Polizei argwöhniſch beobachtet und ſchrieb in die Heimath: „wir ſind von
allen Seiten mit Spionen umgeben, bei einem Spion einquartiert, von
einem Spion bedient;“ *) er wußte, daß Metternich in der Conferenz er-
klärt hatte, mit den Individuen, welche ſich für die Vertreter des deut-
ſchen Handelsſtandes ausgäben, könne man ſich auf keine Verhandlungen
einlaſſen, da der Bundestag bereits den Deutſchen Handelsverein als ein
geſetzwidriges und unzuläſſiges Unternehmen verurtheilt habe. Das Alles
beirrte ihn nicht in ſeiner rührenden Zuverſicht. Als nun gar Adam
Müller eine Denkſchrift Liſt’s über deutſche Induſtrie-Ausſtellungen wohl-
wollend begutachtete, und Kaiſer Franz in einer Audienz dem unverwüſt-
*) Liſt an ſeine Gattin, Wien, 18. Febr. 1820.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/50>, abgerufen am 24.11.2024.
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