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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
durch Verbote und unerschwingliche Zölle den ausländischen Fabrikwaaren
fast gänzlich verschließen und bereits am 1. Mai in Kraft treten sollte.
Also wurde die Zusatzakte durch Rußland eigenmächtig außer Kraft ge-
setzt; um den Vertragsbruch nothdürftig zu bemänteln, hatte man aller-
dings hinzugefügt, an der preußischen Grenze sollten die neuen Zölle erst
vom nächsten Neujahr ab gelten, damit unterdessen eine neue Vereinbarung
mit dem Berliner Hofe geschlossen werden könne. In Berlin mußte man
zwar auf die Kündigung des Vertrags jederzeit gefaßt sein, da kein
Staat seine Handelspolitik auf immer dem Willen einer fremden Macht
unterwerfen kann; aber die grobe Rücksichtslosigkeit des russischen Ver-
fahrens erregte berechtigten Unmuth, und als ein erster Verständigungs-
versuch erfolglos blieb, schritt der Finanzminister (1823) zu Retorsionen,
indem er an der russischen Grenze die Getreide- und Viehzölle bis auf
das Zwei- und Dreifache erhöhte. Mehrere seiner kundigen Räthe be-
zweifelten freilich von Haus aus, ob diese Abwehr helfen werde, und
der Erfolg gab leider den Zweifelnden Recht.*) Inzwischen hatte Cancrin
förmlich die Leitung des russischen Finanzwesens erhalten, und sofort
trat sein Restrictionssystem, wie er es nannte, vollständig in Wirksamkeit.
Die Grenzsperre sicherte den Markt für eine künstlich gepflegte Staats-
industrie, ebenso künstlich ward der Staatscredit gehoben durch grund-
sätzliche Vernachlässigung des Privatcredits. Der finanzielle Erfolg des
neuen Systems war glänzend; schon im ersten Jahre seiner Verwaltung
gelang dem kraftvollen Minister die Beseitigung des Deficits, er gewann
das Vertrauen des Czaren so schnell, daß er bereits namhafte Ersparnisse
im Hofhalt und Heerwesen durchsetzen konnte. Erst die Zukunft sollte er-
fahren, auf wie schwachen Füßen die so gewaltsam emporgetriebenen Staats-
gewerbe standen.

Preußen aber war in peinlicher Verlegenheit: man hatte viel von
dem unbequemen Nachbarn zu fordern und konnte ihm nur wenig bieten.
Die Kampfzölle bewährten sich nicht, weil die Getreideeinfuhr ohnehin fast
ganz aufgehört hatte. Neue Verhandlungen begannen, und da Klewiz
nicht der Mann war, den Unterhändler Bernstorff wirksam zu unter-
stützen, so kam am 11. März 1825 ein für Deutschland sehr ungünstiger
zweiter Handelsvertrag zu Stande: Preußen nahm seine Kampfzölle zurück
und erlangte dafür einige sehr geringfügige Erleichterungen zu Gunsten
seiner Tücher u. dgl.; im Uebrigen blieb die vollendete Thatsache der
russischen Grenzsperre unangetastet. Wenn schon das russische Volk dem
gestrengen Minister fluchte, so erklangen die Verwünschungen in den preu-
ßischen Grenzprovinzen noch lauter. Dort lag der gesetzmäßige Verkehr
mit dem Nachbarlande ganz darnieder, da die Grenzämter die hohen Zoll-
sätze nicht einmal gewissenhaft einhielten; dafür blühte, gefördert durch die

*) Meyern's Bericht, Berlin 19. April 1823.

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
durch Verbote und unerſchwingliche Zölle den ausländiſchen Fabrikwaaren
faſt gänzlich verſchließen und bereits am 1. Mai in Kraft treten ſollte.
Alſo wurde die Zuſatzakte durch Rußland eigenmächtig außer Kraft ge-
ſetzt; um den Vertragsbruch nothdürftig zu bemänteln, hatte man aller-
dings hinzugefügt, an der preußiſchen Grenze ſollten die neuen Zölle erſt
vom nächſten Neujahr ab gelten, damit unterdeſſen eine neue Vereinbarung
mit dem Berliner Hofe geſchloſſen werden könne. In Berlin mußte man
zwar auf die Kündigung des Vertrags jederzeit gefaßt ſein, da kein
Staat ſeine Handelspolitik auf immer dem Willen einer fremden Macht
unterwerfen kann; aber die grobe Rückſichtsloſigkeit des ruſſiſchen Ver-
fahrens erregte berechtigten Unmuth, und als ein erſter Verſtändigungs-
verſuch erfolglos blieb, ſchritt der Finanzminiſter (1823) zu Retorſionen,
indem er an der ruſſiſchen Grenze die Getreide- und Viehzölle bis auf
das Zwei- und Dreifache erhöhte. Mehrere ſeiner kundigen Räthe be-
zweifelten freilich von Haus aus, ob dieſe Abwehr helfen werde, und
der Erfolg gab leider den Zweifelnden Recht.*) Inzwiſchen hatte Cancrin
förmlich die Leitung des ruſſiſchen Finanzweſens erhalten, und ſofort
trat ſein Reſtrictionsſyſtem, wie er es nannte, vollſtändig in Wirkſamkeit.
Die Grenzſperre ſicherte den Markt für eine künſtlich gepflegte Staats-
induſtrie, ebenſo künſtlich ward der Staatscredit gehoben durch grund-
ſätzliche Vernachläſſigung des Privatcredits. Der finanzielle Erfolg des
neuen Syſtems war glänzend; ſchon im erſten Jahre ſeiner Verwaltung
gelang dem kraftvollen Miniſter die Beſeitigung des Deficits, er gewann
das Vertrauen des Czaren ſo ſchnell, daß er bereits namhafte Erſparniſſe
im Hofhalt und Heerweſen durchſetzen konnte. Erſt die Zukunft ſollte er-
fahren, auf wie ſchwachen Füßen die ſo gewaltſam emporgetriebenen Staats-
gewerbe ſtanden.

Preußen aber war in peinlicher Verlegenheit: man hatte viel von
dem unbequemen Nachbarn zu fordern und konnte ihm nur wenig bieten.
Die Kampfzölle bewährten ſich nicht, weil die Getreideeinfuhr ohnehin faſt
ganz aufgehört hatte. Neue Verhandlungen begannen, und da Klewiz
nicht der Mann war, den Unterhändler Bernſtorff wirkſam zu unter-
ſtützen, ſo kam am 11. März 1825 ein für Deutſchland ſehr ungünſtiger
zweiter Handelsvertrag zu Stande: Preußen nahm ſeine Kampfzölle zurück
und erlangte dafür einige ſehr geringfügige Erleichterungen zu Gunſten
ſeiner Tücher u. dgl.; im Uebrigen blieb die vollendete Thatſache der
ruſſiſchen Grenzſperre unangetaſtet. Wenn ſchon das ruſſiſche Volk dem
geſtrengen Miniſter fluchte, ſo erklangen die Verwünſchungen in den preu-
ßiſchen Grenzprovinzen noch lauter. Dort lag der geſetzmäßige Verkehr
mit dem Nachbarlande ganz darnieder, da die Grenzämter die hohen Zoll-
ſätze nicht einmal gewiſſenhaft einhielten; dafür blühte, gefördert durch die

*) Meyern’s Bericht, Berlin 19. April 1823.
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[476/0492] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. durch Verbote und unerſchwingliche Zölle den ausländiſchen Fabrikwaaren faſt gänzlich verſchließen und bereits am 1. Mai in Kraft treten ſollte. Alſo wurde die Zuſatzakte durch Rußland eigenmächtig außer Kraft ge- ſetzt; um den Vertragsbruch nothdürftig zu bemänteln, hatte man aller- dings hinzugefügt, an der preußiſchen Grenze ſollten die neuen Zölle erſt vom nächſten Neujahr ab gelten, damit unterdeſſen eine neue Vereinbarung mit dem Berliner Hofe geſchloſſen werden könne. In Berlin mußte man zwar auf die Kündigung des Vertrags jederzeit gefaßt ſein, da kein Staat ſeine Handelspolitik auf immer dem Willen einer fremden Macht unterwerfen kann; aber die grobe Rückſichtsloſigkeit des ruſſiſchen Ver- fahrens erregte berechtigten Unmuth, und als ein erſter Verſtändigungs- verſuch erfolglos blieb, ſchritt der Finanzminiſter (1823) zu Retorſionen, indem er an der ruſſiſchen Grenze die Getreide- und Viehzölle bis auf das Zwei- und Dreifache erhöhte. Mehrere ſeiner kundigen Räthe be- zweifelten freilich von Haus aus, ob dieſe Abwehr helfen werde, und der Erfolg gab leider den Zweifelnden Recht. *) Inzwiſchen hatte Cancrin förmlich die Leitung des ruſſiſchen Finanzweſens erhalten, und ſofort trat ſein Reſtrictionsſyſtem, wie er es nannte, vollſtändig in Wirkſamkeit. Die Grenzſperre ſicherte den Markt für eine künſtlich gepflegte Staats- induſtrie, ebenſo künſtlich ward der Staatscredit gehoben durch grund- ſätzliche Vernachläſſigung des Privatcredits. Der finanzielle Erfolg des neuen Syſtems war glänzend; ſchon im erſten Jahre ſeiner Verwaltung gelang dem kraftvollen Miniſter die Beſeitigung des Deficits, er gewann das Vertrauen des Czaren ſo ſchnell, daß er bereits namhafte Erſparniſſe im Hofhalt und Heerweſen durchſetzen konnte. Erſt die Zukunft ſollte er- fahren, auf wie ſchwachen Füßen die ſo gewaltſam emporgetriebenen Staats- gewerbe ſtanden. Preußen aber war in peinlicher Verlegenheit: man hatte viel von dem unbequemen Nachbarn zu fordern und konnte ihm nur wenig bieten. Die Kampfzölle bewährten ſich nicht, weil die Getreideeinfuhr ohnehin faſt ganz aufgehört hatte. Neue Verhandlungen begannen, und da Klewiz nicht der Mann war, den Unterhändler Bernſtorff wirkſam zu unter- ſtützen, ſo kam am 11. März 1825 ein für Deutſchland ſehr ungünſtiger zweiter Handelsvertrag zu Stande: Preußen nahm ſeine Kampfzölle zurück und erlangte dafür einige ſehr geringfügige Erleichterungen zu Gunſten ſeiner Tücher u. dgl.; im Uebrigen blieb die vollendete Thatſache der ruſſiſchen Grenzſperre unangetaſtet. Wenn ſchon das ruſſiſche Volk dem geſtrengen Miniſter fluchte, ſo erklangen die Verwünſchungen in den preu- ßiſchen Grenzprovinzen noch lauter. Dort lag der geſetzmäßige Verkehr mit dem Nachbarlande ganz darnieder, da die Grenzämter die hohen Zoll- ſätze nicht einmal gewiſſenhaft einhielten; dafür blühte, gefördert durch die *) Meyern’s Bericht, Berlin 19. April 1823.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/492>, abgerufen am 22.11.2024.