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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Der Generalstab.
schule in Berlin leistete in diesen müden Jahren nur Mittelmäßiges, ob-
gleich der geniale Clausewitz an ihrer Spitze stand. Auch jener leidige
Standesübermuth, der in den Zeiten vor 1806 so viel Unfrieden ange-
stiftet, regte sich zuweilen wieder. Als Leutnant Blücher, ein Enkel des
Feldmarschalls, bei einem nächtlichen Liebesabenteuer den Schauspieler
Stich niedergestochen hatte, hielt der König selbst für nöthig seine Offiziere
zu warnen. "Ich will nicht, schrieb er dem Kriegsminister, daß die Offiziere
meiner Armee die Aufrechterhaltung der Würde ihres Standes in der
blutigen Erwiderung selbstverschuldeter Beleidigungen suchen, sondern ich
fordere von ihnen, daß sie dieselbe durch ein verständiges und sittliches
Betragen und durch Unterlassung von Handlungen bewahren, die nach
den Gesetzen der Moral und der Ehre gleich verwerflich sind."*)

Bei Alledem blieb der Kern des Heeres gesund, der Vorrath an
militärischen Talenten unerschöpflich. So schneidige Reiterführer wie General
Wrangel ließen, dem Reglement zum Trotz, den frischen wagenden Reiter-
geist nicht untergehen, und für den Fall des Krieges blickte das Heer zu-
versichtlich auf zwei Männer, die ihm als seine Feldherren galten: auf
Gneisenau, den neu ernannten Feldmarschall, und auf Grolman, der
sechs Jahre nach seiner Entlassung wieder in die Linie eingetreten war,
nachdem Prinz August und Witzleben den Unwillen des Königs endlich
beschwichtigt hatten. Unterdessen währte die rüstige Thätigkeit, welche
Grolman einst im Generalstabe erweckt hatte, auch unter seinem Nach-
folger General Müffling fort. Der neue Chef unternahm alljährlich
Uebungsreisen mit seinen Offizieren und veranstaltete umfassende kriegs-
geschichtliche Forschungen, als deren erste Frucht die Geschichte des sieben-
jährigen Krieges erschien, eine, soweit die dürftigen Quellen reichten,
gründliche und unparteiische Arbeit, die Vorläuferin reiferer Werke. Im
Jahre 1821 wurde der Generalstab vom Kriegsministerium abgetrennt und
als selbständige Behörde dem Könige unmittelbar untergeordnet. Tech-
nische Gründe veranlaßten diese Reform, und Niemand ahnte, wie tief sie
dereinst auf die Verfassung des Staates einwirken sollte: durch sie ward
es möglich, daß der König von Preußen auch als constitutioneller Herr-
scher der freie Kriegsherr seiner Truppen bleiben und sein monarchisches
Heer vor den Schwankungen des parlamentarischen Parteikampfes behüten
konnte. --

Trotz der allgemeinen Wehrpflicht, trotz der Städteordnung und der
Provinzialstände blieb Preußen noch immer wesentlich ein Staat des Be-
amtenthums. Ungeheuer war die Macht dieses politischen Standes; mit
Einschluß der Offiziere, der Lehrer und der Geistlichen, die nach dem Land-
rechte noch zu den Beamten gerechnet wurden, umfaßte er nahezu Alles,
was die Nation an feinerer Bildung besaß, und ergänzte sich beständig

*) Cabinetsordre an Hake, 9. Okt. 1823.

Der Generalſtab.
ſchule in Berlin leiſtete in dieſen müden Jahren nur Mittelmäßiges, ob-
gleich der geniale Clauſewitz an ihrer Spitze ſtand. Auch jener leidige
Standesübermuth, der in den Zeiten vor 1806 ſo viel Unfrieden ange-
ſtiftet, regte ſich zuweilen wieder. Als Leutnant Blücher, ein Enkel des
Feldmarſchalls, bei einem nächtlichen Liebesabenteuer den Schauſpieler
Stich niedergeſtochen hatte, hielt der König ſelbſt für nöthig ſeine Offiziere
zu warnen. „Ich will nicht, ſchrieb er dem Kriegsminiſter, daß die Offiziere
meiner Armee die Aufrechterhaltung der Würde ihres Standes in der
blutigen Erwiderung ſelbſtverſchuldeter Beleidigungen ſuchen, ſondern ich
fordere von ihnen, daß ſie dieſelbe durch ein verſtändiges und ſittliches
Betragen und durch Unterlaſſung von Handlungen bewahren, die nach
den Geſetzen der Moral und der Ehre gleich verwerflich ſind.“*)

Bei Alledem blieb der Kern des Heeres geſund, der Vorrath an
militäriſchen Talenten unerſchöpflich. So ſchneidige Reiterführer wie General
Wrangel ließen, dem Reglement zum Trotz, den friſchen wagenden Reiter-
geiſt nicht untergehen, und für den Fall des Krieges blickte das Heer zu-
verſichtlich auf zwei Männer, die ihm als ſeine Feldherren galten: auf
Gneiſenau, den neu ernannten Feldmarſchall, und auf Grolman, der
ſechs Jahre nach ſeiner Entlaſſung wieder in die Linie eingetreten war,
nachdem Prinz Auguſt und Witzleben den Unwillen des Königs endlich
beſchwichtigt hatten. Unterdeſſen währte die rüſtige Thätigkeit, welche
Grolman einſt im Generalſtabe erweckt hatte, auch unter ſeinem Nach-
folger General Müffling fort. Der neue Chef unternahm alljährlich
Uebungsreiſen mit ſeinen Offizieren und veranſtaltete umfaſſende kriegs-
geſchichtliche Forſchungen, als deren erſte Frucht die Geſchichte des ſieben-
jährigen Krieges erſchien, eine, ſoweit die dürftigen Quellen reichten,
gründliche und unparteiiſche Arbeit, die Vorläuferin reiferer Werke. Im
Jahre 1821 wurde der Generalſtab vom Kriegsminiſterium abgetrennt und
als ſelbſtändige Behörde dem Könige unmittelbar untergeordnet. Tech-
niſche Gründe veranlaßten dieſe Reform, und Niemand ahnte, wie tief ſie
dereinſt auf die Verfaſſung des Staates einwirken ſollte: durch ſie ward
es möglich, daß der König von Preußen auch als conſtitutioneller Herr-
ſcher der freie Kriegsherr ſeiner Truppen bleiben und ſein monarchiſches
Heer vor den Schwankungen des parlamentariſchen Parteikampfes behüten
konnte. —

Trotz der allgemeinen Wehrpflicht, trotz der Städteordnung und der
Provinzialſtände blieb Preußen noch immer weſentlich ein Staat des Be-
amtenthums. Ungeheuer war die Macht dieſes politiſchen Standes; mit
Einſchluß der Offiziere, der Lehrer und der Geiſtlichen, die nach dem Land-
rechte noch zu den Beamten gerechnet wurden, umfaßte er nahezu Alles,
was die Nation an feinerer Bildung beſaß, und ergänzte ſich beſtändig

*) Cabinetsordre an Hake, 9. Okt. 1823.
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[423/0439] Der Generalſtab. ſchule in Berlin leiſtete in dieſen müden Jahren nur Mittelmäßiges, ob- gleich der geniale Clauſewitz an ihrer Spitze ſtand. Auch jener leidige Standesübermuth, der in den Zeiten vor 1806 ſo viel Unfrieden ange- ſtiftet, regte ſich zuweilen wieder. Als Leutnant Blücher, ein Enkel des Feldmarſchalls, bei einem nächtlichen Liebesabenteuer den Schauſpieler Stich niedergeſtochen hatte, hielt der König ſelbſt für nöthig ſeine Offiziere zu warnen. „Ich will nicht, ſchrieb er dem Kriegsminiſter, daß die Offiziere meiner Armee die Aufrechterhaltung der Würde ihres Standes in der blutigen Erwiderung ſelbſtverſchuldeter Beleidigungen ſuchen, ſondern ich fordere von ihnen, daß ſie dieſelbe durch ein verſtändiges und ſittliches Betragen und durch Unterlaſſung von Handlungen bewahren, die nach den Geſetzen der Moral und der Ehre gleich verwerflich ſind.“ *) Bei Alledem blieb der Kern des Heeres geſund, der Vorrath an militäriſchen Talenten unerſchöpflich. So ſchneidige Reiterführer wie General Wrangel ließen, dem Reglement zum Trotz, den friſchen wagenden Reiter- geiſt nicht untergehen, und für den Fall des Krieges blickte das Heer zu- verſichtlich auf zwei Männer, die ihm als ſeine Feldherren galten: auf Gneiſenau, den neu ernannten Feldmarſchall, und auf Grolman, der ſechs Jahre nach ſeiner Entlaſſung wieder in die Linie eingetreten war, nachdem Prinz Auguſt und Witzleben den Unwillen des Königs endlich beſchwichtigt hatten. Unterdeſſen währte die rüſtige Thätigkeit, welche Grolman einſt im Generalſtabe erweckt hatte, auch unter ſeinem Nach- folger General Müffling fort. Der neue Chef unternahm alljährlich Uebungsreiſen mit ſeinen Offizieren und veranſtaltete umfaſſende kriegs- geſchichtliche Forſchungen, als deren erſte Frucht die Geſchichte des ſieben- jährigen Krieges erſchien, eine, ſoweit die dürftigen Quellen reichten, gründliche und unparteiiſche Arbeit, die Vorläuferin reiferer Werke. Im Jahre 1821 wurde der Generalſtab vom Kriegsminiſterium abgetrennt und als ſelbſtändige Behörde dem Könige unmittelbar untergeordnet. Tech- niſche Gründe veranlaßten dieſe Reform, und Niemand ahnte, wie tief ſie dereinſt auf die Verfaſſung des Staates einwirken ſollte: durch ſie ward es möglich, daß der König von Preußen auch als conſtitutioneller Herr- ſcher der freie Kriegsherr ſeiner Truppen bleiben und ſein monarchiſches Heer vor den Schwankungen des parlamentariſchen Parteikampfes behüten konnte. — Trotz der allgemeinen Wehrpflicht, trotz der Städteordnung und der Provinzialſtände blieb Preußen noch immer weſentlich ein Staat des Be- amtenthums. Ungeheuer war die Macht dieſes politiſchen Standes; mit Einſchluß der Offiziere, der Lehrer und der Geiſtlichen, die nach dem Land- rechte noch zu den Beamten gerechnet wurden, umfaßte er nahezu Alles, was die Nation an feinerer Bildung beſaß, und ergänzte ſich beſtändig *) Cabinetsordre an Hake, 9. Okt. 1823.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/439>, abgerufen am 24.11.2024.