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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Der rheinisch-westphälische Protestantismus.
neben der gemeinsamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten
ließen, in jeder Landschaft den Gebrauch altgewohnter liturgischer Formen
gestatteten. Nach diesem Zugeständniß gaben Schleiermacher und seine
Freunde ihren Widerspruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem
Boden der Union stand, sich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. Am
Jubelfeste der Augsburger Confession, 1830, erlebte der König die Freude,
daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen
und damit, wie er sagte, die Union der Vollendung näher geführt war.

Am Längsten widerstand der Westen. Hier in Cleve-Berg und Mark
hatte der Protestantismus einst ganz aus eigener Kraft, unabhängig von
der Landesherrschaft, seine ersten Wurzeln geschlagen und sich nach dem
Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfassung geschaffen,
die unter der Fremdherrschaft verfallen aber noch in ihren Trümmern
dem evangelischen Volke theuer war. Altenstein selbst mußte einsehen,
diese der Selbständigkeit gewohnten Protestanten würden sich niemals zur
Annahme der Agende verstehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien
und Synoden wiederherstelle. So ward denn hier allein die Kirche selbst
befragt, wie es dem Geiste der Reformation entsprach. Auf den Rath des
Bischofs Roß, der sich seiner Landsleute wacker annahm, beschloß der
König im Jahre 1835, mit der verbesserten Agende zugleich eine Neuord-
nung der Kirchenverfassung in Rheinland und Westphalen einzuführen,
und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war.

Diese Kirchengemeinschaft des Westens blieb viele Jahre hindurch das
gesundeste Glied der preußischen Landeskirche, die Heimstätte eines ernsten
und freien Protestantismus, der inmitten der übermächtigen katholischen
Nachbarschaft immer rührig auf der Wacht stand. In der brüderlichen
Arbeit ihrer kirchlichen Selbstverwaltung wirkten scharfe confessionelle
Gegensätze, pfälzische und clevische Reformirte, ravensbergische Lutheraner
und die Gottseligen des Wupperthales einträchtig zusammen. Aus den
Erfahrungen dieser rheinischen Synoden bildete sich Karl Immanuel
Nitzsch seine Reformpläne für die Verfassung der evangelischen Landes-
kirche. Der fromme Wittenbergische Lutheraner lernte hier als Lehrer
und Prediger an der rheinischen Hochschule das freie Gemeindeleben der
Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren schon eine ehrfurcht-
gebietende Erscheinung, tief gelehrt und kindlich bescheiden, errang er sich
bald ein unbestrittenes Ansehen unter den rheinischen Protestanten und
überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein
niemals recht heimisch geworden war, durch die stille Gewalt seiner milden,
sinnigen Beredsamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzsch billiger als
Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner-
kannte; aber "den Teufel der politischen Hierarchie" wollte er der Lan-
deskirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenossen erkannte so klar,
daß die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfassung gesichert

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Der rheiniſch-weſtphäliſche Proteſtantismus.
neben der gemeinſamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten
ließen, in jeder Landſchaft den Gebrauch altgewohnter liturgiſcher Formen
geſtatteten. Nach dieſem Zugeſtändniß gaben Schleiermacher und ſeine
Freunde ihren Widerſpruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem
Boden der Union ſtand, ſich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. Am
Jubelfeſte der Augsburger Confeſſion, 1830, erlebte der König die Freude,
daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen
und damit, wie er ſagte, die Union der Vollendung näher geführt war.

Am Längſten widerſtand der Weſten. Hier in Cleve-Berg und Mark
hatte der Proteſtantismus einſt ganz aus eigener Kraft, unabhängig von
der Landesherrſchaft, ſeine erſten Wurzeln geſchlagen und ſich nach dem
Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfaſſung geſchaffen,
die unter der Fremdherrſchaft verfallen aber noch in ihren Trümmern
dem evangeliſchen Volke theuer war. Altenſtein ſelbſt mußte einſehen,
dieſe der Selbſtändigkeit gewohnten Proteſtanten würden ſich niemals zur
Annahme der Agende verſtehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien
und Synoden wiederherſtelle. So ward denn hier allein die Kirche ſelbſt
befragt, wie es dem Geiſte der Reformation entſprach. Auf den Rath des
Biſchofs Roß, der ſich ſeiner Landsleute wacker annahm, beſchloß der
König im Jahre 1835, mit der verbeſſerten Agende zugleich eine Neuord-
nung der Kirchenverfaſſung in Rheinland und Weſtphalen einzuführen,
und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war.

Dieſe Kirchengemeinſchaft des Weſtens blieb viele Jahre hindurch das
geſundeſte Glied der preußiſchen Landeskirche, die Heimſtätte eines ernſten
und freien Proteſtantismus, der inmitten der übermächtigen katholiſchen
Nachbarſchaft immer rührig auf der Wacht ſtand. In der brüderlichen
Arbeit ihrer kirchlichen Selbſtverwaltung wirkten ſcharfe confeſſionelle
Gegenſätze, pfälziſche und cleviſche Reformirte, ravensbergiſche Lutheraner
und die Gottſeligen des Wupperthales einträchtig zuſammen. Aus den
Erfahrungen dieſer rheiniſchen Synoden bildete ſich Karl Immanuel
Nitzſch ſeine Reformpläne für die Verfaſſung der evangeliſchen Landes-
kirche. Der fromme Wittenbergiſche Lutheraner lernte hier als Lehrer
und Prediger an der rheiniſchen Hochſchule das freie Gemeindeleben der
Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren ſchon eine ehrfurcht-
gebietende Erſcheinung, tief gelehrt und kindlich beſcheiden, errang er ſich
bald ein unbeſtrittenes Anſehen unter den rheiniſchen Proteſtanten und
überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein
niemals recht heimiſch geworden war, durch die ſtille Gewalt ſeiner milden,
ſinnigen Beredſamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzſch billiger als
Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner-
kannte; aber „den Teufel der politiſchen Hierarchie“ wollte er der Lan-
deskirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenoſſen erkannte ſo klar,
daß die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfaſſung geſichert

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[403/0419] Der rheiniſch-weſtphäliſche Proteſtantismus. neben der gemeinſamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten ließen, in jeder Landſchaft den Gebrauch altgewohnter liturgiſcher Formen geſtatteten. Nach dieſem Zugeſtändniß gaben Schleiermacher und ſeine Freunde ihren Widerſpruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem Boden der Union ſtand, ſich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. Am Jubelfeſte der Augsburger Confeſſion, 1830, erlebte der König die Freude, daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen und damit, wie er ſagte, die Union der Vollendung näher geführt war. Am Längſten widerſtand der Weſten. Hier in Cleve-Berg und Mark hatte der Proteſtantismus einſt ganz aus eigener Kraft, unabhängig von der Landesherrſchaft, ſeine erſten Wurzeln geſchlagen und ſich nach dem Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfaſſung geſchaffen, die unter der Fremdherrſchaft verfallen aber noch in ihren Trümmern dem evangeliſchen Volke theuer war. Altenſtein ſelbſt mußte einſehen, dieſe der Selbſtändigkeit gewohnten Proteſtanten würden ſich niemals zur Annahme der Agende verſtehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien und Synoden wiederherſtelle. So ward denn hier allein die Kirche ſelbſt befragt, wie es dem Geiſte der Reformation entſprach. Auf den Rath des Biſchofs Roß, der ſich ſeiner Landsleute wacker annahm, beſchloß der König im Jahre 1835, mit der verbeſſerten Agende zugleich eine Neuord- nung der Kirchenverfaſſung in Rheinland und Weſtphalen einzuführen, und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war. Dieſe Kirchengemeinſchaft des Weſtens blieb viele Jahre hindurch das geſundeſte Glied der preußiſchen Landeskirche, die Heimſtätte eines ernſten und freien Proteſtantismus, der inmitten der übermächtigen katholiſchen Nachbarſchaft immer rührig auf der Wacht ſtand. In der brüderlichen Arbeit ihrer kirchlichen Selbſtverwaltung wirkten ſcharfe confeſſionelle Gegenſätze, pfälziſche und cleviſche Reformirte, ravensbergiſche Lutheraner und die Gottſeligen des Wupperthales einträchtig zuſammen. Aus den Erfahrungen dieſer rheiniſchen Synoden bildete ſich Karl Immanuel Nitzſch ſeine Reformpläne für die Verfaſſung der evangeliſchen Landes- kirche. Der fromme Wittenbergiſche Lutheraner lernte hier als Lehrer und Prediger an der rheiniſchen Hochſchule das freie Gemeindeleben der Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren ſchon eine ehrfurcht- gebietende Erſcheinung, tief gelehrt und kindlich beſcheiden, errang er ſich bald ein unbeſtrittenes Anſehen unter den rheiniſchen Proteſtanten und überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein niemals recht heimiſch geworden war, durch die ſtille Gewalt ſeiner milden, ſinnigen Beredſamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzſch billiger als Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner- kannte; aber „den Teufel der politiſchen Hierarchie“ wollte er der Lan- deskirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenoſſen erkannte ſo klar, daß die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfaſſung geſichert 26*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/419>, abgerufen am 28.11.2024.