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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die neue Agende.
arglos, daß seine Landeskirche, wie sie soeben auf seinen Ruf die Union
abgeschlossen hatte, nun auch dies Werk seines treuen Fleißes als eine
neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde.

Schmerzlich genug sollte er enttäuscht werden. Die Schwäche des
absoluten Königthums liegt weit mehr in der Menschenfurcht der Höfe
als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbst diesem wohlwollenden
Fürsten, der freimüthigen Widerspruch immer bedachtsam prüfte, wagte
selten Jemand die ganze Wahrheit zu sagen, weil er unliebsame Mitthei-
lungen im ersten Augenblicke zuweilen mit einem unwirschen Worte auf-
nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannichfache Bedenken
schon der erste Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreisen veranlaßt hatte;
der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerste über-
rascht, als bei der ersten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geist-
lichen sich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten
her heftiger Widerspruch laut ward. Den strengen Reformirten schien es
ein papistischer Gräuel, daß der Geistliche nach lutherischem Brauche beim
Segen das Kreuz schlagen sollte. Denselben Vorwurf erhoben die Ratio-
nalisten; waren sie doch längst gewohnt, sich selber unbefangen für die
rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen
verkappten Jesuiten anzusehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen
Anstoß an der reformirten Sitte des Brotbrechens, an der einförmigen
Regel, die so viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte;
manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergessen
und erschien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, so die Formel "Unser
Vater," die doch wörtlich in der lutherischen Bibel stand.

Der letzte Grund dieser vielgestaltigen Opposition lag in dem Wieder-
erwachen jener republikanischen Gedanken, welche zum Wesen des Protestan-
tismus gehören und in allen Zeiten, da er sich stark fühlt, ihr gutes Recht
fordern. Die oberstbischöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver-
geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutsche Protestantismus, daß er nicht
in gehässige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geschlecht der aufge-
klärten Geistlichen, die sich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt
zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerst freilich noch in unklaren
Ahnungen, ein selbständiges kirchliches Leben, sie wollte den großen Ge-
danken des Priesterthums der Laien, den Martin Luther streng innerlich
aufgefaßt, auch in der Verfassung der Kirche ausgestaltet sehen. Männer
der verschiedensten Richtungen begegneten sich in solchen Hoffnungen; sie
alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die so tief in das innere
Leben der Kirche einschnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche selbst
gewagt werden dürfe.

Unverkennbar standen diese neuen kirchlichen Anschauungen in Wechsel-
wirkung mit dem politischen Idealismus der Zeit; ihr mächtigster Wort-
führer Schleiermacher bekannte ebenso offen wie sein Freund Gaß, daß die

Die neue Agende.
arglos, daß ſeine Landeskirche, wie ſie ſoeben auf ſeinen Ruf die Union
abgeſchloſſen hatte, nun auch dies Werk ſeines treuen Fleißes als eine
neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde.

Schmerzlich genug ſollte er enttäuſcht werden. Die Schwäche des
abſoluten Königthums liegt weit mehr in der Menſchenfurcht der Höfe
als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbſt dieſem wohlwollenden
Fürſten, der freimüthigen Widerſpruch immer bedachtſam prüfte, wagte
ſelten Jemand die ganze Wahrheit zu ſagen, weil er unliebſame Mitthei-
lungen im erſten Augenblicke zuweilen mit einem unwirſchen Worte auf-
nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannichfache Bedenken
ſchon der erſte Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreiſen veranlaßt hatte;
der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerſte über-
raſcht, als bei der erſten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geiſt-
lichen ſich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten
her heftiger Widerſpruch laut ward. Den ſtrengen Reformirten ſchien es
ein papiſtiſcher Gräuel, daß der Geiſtliche nach lutheriſchem Brauche beim
Segen das Kreuz ſchlagen ſollte. Denſelben Vorwurf erhoben die Ratio-
naliſten; waren ſie doch längſt gewohnt, ſich ſelber unbefangen für die
rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen
verkappten Jeſuiten anzuſehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen
Anſtoß an der reformirten Sitte des Brotbrechens, an der einförmigen
Regel, die ſo viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte;
manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergeſſen
und erſchien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, ſo die Formel „Unſer
Vater,“ die doch wörtlich in der lutheriſchen Bibel ſtand.

Der letzte Grund dieſer vielgeſtaltigen Oppoſition lag in dem Wieder-
erwachen jener republikaniſchen Gedanken, welche zum Weſen des Proteſtan-
tismus gehören und in allen Zeiten, da er ſich ſtark fühlt, ihr gutes Recht
fordern. Die oberſtbiſchöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver-
geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutſche Proteſtantismus, daß er nicht
in gehäſſige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geſchlecht der aufge-
klärten Geiſtlichen, die ſich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt
zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerſt freilich noch in unklaren
Ahnungen, ein ſelbſtändiges kirchliches Leben, ſie wollte den großen Ge-
danken des Prieſterthums der Laien, den Martin Luther ſtreng innerlich
aufgefaßt, auch in der Verfaſſung der Kirche ausgeſtaltet ſehen. Männer
der verſchiedenſten Richtungen begegneten ſich in ſolchen Hoffnungen; ſie
alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die ſo tief in das innere
Leben der Kirche einſchnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche ſelbſt
gewagt werden dürfe.

Unverkennbar ſtanden dieſe neuen kirchlichen Anſchauungen in Wechſel-
wirkung mit dem politiſchen Idealismus der Zeit; ihr mächtigſter Wort-
führer Schleiermacher bekannte ebenſo offen wie ſein Freund Gaß, daß die

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[397/0413] Die neue Agende. arglos, daß ſeine Landeskirche, wie ſie ſoeben auf ſeinen Ruf die Union abgeſchloſſen hatte, nun auch dies Werk ſeines treuen Fleißes als eine neue Klammer ihrer Einheit dankbar annehmen würde. Schmerzlich genug ſollte er enttäuſcht werden. Die Schwäche des abſoluten Königthums liegt weit mehr in der Menſchenfurcht der Höfe als in dem üblen Willen der Monarchen. Selbſt dieſem wohlwollenden Fürſten, der freimüthigen Widerſpruch immer bedachtſam prüfte, wagte ſelten Jemand die ganze Wahrheit zu ſagen, weil er unliebſame Mitthei- lungen im erſten Augenblicke zuweilen mit einem unwirſchen Worte auf- nahm. Seine Umgebungen wußten wohl, wie mannichfache Bedenken ſchon der erſte Entwurf der Liturgie in kirchlichen Kreiſen veranlaßt hatte; der König aber erfuhr kein Wort davon und war daher aufs Aeußerſte über- raſcht, als bei der erſten Umfrage nur eine kleine Minderheit der Geiſt- lichen ſich zur Annahme der Agende bereit erklärte und von allen Seiten her heftiger Widerſpruch laut ward. Den ſtrengen Reformirten ſchien es ein papiſtiſcher Gräuel, daß der Geiſtliche nach lutheriſchem Brauche beim Segen das Kreuz ſchlagen ſollte. Denſelben Vorwurf erhoben die Ratio- naliſten; waren ſie doch längſt gewohnt, ſich ſelber unbefangen für die rechtmäßigen Erben der Reformation, jeden Andersdenkenden für einen verkappten Jeſuiten anzuſehen. Aber auch die gläubigen Lutheraner nahmen Anſtoß an der reformirten Sitte des Brotbrechens, an der einförmigen Regel, die ſo viele liebgewordene Ortsbräuche zu verdrängen drohte; manches Alte, was jetzt wiederkehrte, war im Verlaufe der Zeit vergeſſen und erſchien den Eiferern als ärgerliche Neuerung, ſo die Formel „Unſer Vater,“ die doch wörtlich in der lutheriſchen Bibel ſtand. Der letzte Grund dieſer vielgeſtaltigen Oppoſition lag in dem Wieder- erwachen jener republikaniſchen Gedanken, welche zum Weſen des Proteſtan- tismus gehören und in allen Zeiten, da er ſich ſtark fühlt, ihr gutes Recht fordern. Die oberſtbiſchöfliche Gewalt der Landesherren hatte ihre unver- geßliche Zeit gehabt, ihr dankte der deutſche Proteſtantismus, daß er nicht in gehäſſige Sekten zerfallen war. Aber das alte Geſchlecht der aufge- klärten Geiſtlichen, die ſich harmlos nur als Staatsdiener fühlten, ging jetzt zu Grabe. Die neue Zeit verlangte, vorerſt freilich noch in unklaren Ahnungen, ein ſelbſtändiges kirchliches Leben, ſie wollte den großen Ge- danken des Prieſterthums der Laien, den Martin Luther ſtreng innerlich aufgefaßt, auch in der Verfaſſung der Kirche ausgeſtaltet ſehen. Männer der verſchiedenſten Richtungen begegneten ſich in ſolchen Hoffnungen; ſie alle fühlten, daß eine Reform, wie die Agende, die ſo tief in das innere Leben der Kirche einſchnitt, nicht ohne die Mitwirkung der Kirche ſelbſt gewagt werden dürfe. Unverkennbar ſtanden dieſe neuen kirchlichen Anſchauungen in Wechſel- wirkung mit dem politiſchen Idealismus der Zeit; ihr mächtigſter Wort- führer Schleiermacher bekannte ebenſo offen wie ſein Freund Gaß, daß die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/413>, abgerufen am 24.11.2024.