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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die Judenfrage.
bereits Gewährten dachte Friedrich Wilhelm nicht wieder abzugehen, und
nur einmal, in den Tagen, da die Partei Voß-Buch's den Hof beherrschte,
ließ er sich zu einer Zurücknahme bewegen: im December 1822 wurde
den Juden der Zutritt zu den akademischen und Schulämtern wieder
untersagt, "wegen der bei der Ausführung sich zeigenden Mißverhältnisse."
Unterdessen bestanden in den neuen Provinzen des Ostens noch die harten
kursächsischen und schwedischen Judengesetze, im Westen die Vorschriften
des Code Napoleon. Um diese unerträgliche Ungleichheit zu beseitigen,
verlangte die Krone den Rath der Provinzialstände.

Da brach auf allen acht Landtagen stürmische Entrüstung los. Der
Groll, der hier redete, entsprang nicht, wie vormals der Judenhaß der
Burschenschaft, einer unklaren christlich-germanischen Schwärmerei, sondern
der wirthschaftlichen Bedrängniß des Landvolks; denn unsägliches Elend
hatten jüdische Wucherer und Güterschlächter während der schweren Krisis,
die um die Mitte der zwanziger Jahre die deutsche Landwirthschaft heim-
suchte, über Grundherren und Bauern gebracht. Angesichts solcher Er-
fahrungen hielten die Grundbesitzer fast allesammt für ausgemacht, daß die
Gesetzgebung der napoleonischen Zeit die Juden weder veredelt, noch sie
ihren christlichen Mitbürgern näher geführt habe. Kein einziger der acht
Landtage empfahl die allgemeine Einführung des Edikts von 1812. Alle
verlangten vorbeugende Maßregeln zum Schutze des Grundbesitzes; schade
nur, daß die Vorschläge wieder sehr weit aus einander gingen. Die
Einen wollten den Juden den Ankauf von Landgütern, die Anderen den
Hausirhandel und alle Darlehnsgeschäfte untersagen. Auch sollte ihnen
nicht erlaubt sein, sich die Namen geachteter christlicher Familien anzu-
eignen; diese Bitte kehrte fast auf allen Landtagen wieder, da die großen
altgermanischen Geschlechter der Lehmann und Meier sich über ihre neue
morgenländische Namensvetterschaft gar nicht trösten konnten. Die drei
Grenzprovinzen des Ostens forderten außerdem noch strenges Einschreiten
wider die Landplage der schnorrenden und schachernden Einwanderer, die
aus der polnischen Wiege des deutschen Judenthums jahraus jahrein west-
wärts zogen und zumal in Ostpreußen die öffentliche Sicherheit ernstlich
gefährdeten. Die Erregung war allgemein. Kaum minder heftig als die
conservativen Brandenburger redeten die liberalen Preußen. Selbst die
Rheinländer schlossen sich nicht aus; sie wollten die einheimischen Juden
nur als Schutzverwandte in den Gemeinden dulden, den nichtrheinischen
den Zuzug in die Provinz der Regel nach ganz verbieten und empfahlen
dem Könige namentlich das napoleonische Gesetz vom 17. März 1808,
das für die Schuldverträge der Israeliten harte, zum Theil ehrenkrän-
kende Ausnahmevorschriften aufstellte.

Leicht war es nicht, allen diesen Begehren zu widerstehen, denn sie
sprachen nur aus, was die große Mehrheit des Landvolks dachte, und sie
standen auch im Einklang mit der Volksmeinung außerhalb Preußens.

Die Judenfrage.
bereits Gewährten dachte Friedrich Wilhelm nicht wieder abzugehen, und
nur einmal, in den Tagen, da die Partei Voß-Buch’s den Hof beherrſchte,
ließ er ſich zu einer Zurücknahme bewegen: im December 1822 wurde
den Juden der Zutritt zu den akademiſchen und Schulämtern wieder
unterſagt, „wegen der bei der Ausführung ſich zeigenden Mißverhältniſſe.“
Unterdeſſen beſtanden in den neuen Provinzen des Oſtens noch die harten
kurſächſiſchen und ſchwediſchen Judengeſetze, im Weſten die Vorſchriften
des Code Napoleon. Um dieſe unerträgliche Ungleichheit zu beſeitigen,
verlangte die Krone den Rath der Provinzialſtände.

Da brach auf allen acht Landtagen ſtürmiſche Entrüſtung los. Der
Groll, der hier redete, entſprang nicht, wie vormals der Judenhaß der
Burſchenſchaft, einer unklaren chriſtlich-germaniſchen Schwärmerei, ſondern
der wirthſchaftlichen Bedrängniß des Landvolks; denn unſägliches Elend
hatten jüdiſche Wucherer und Güterſchlächter während der ſchweren Kriſis,
die um die Mitte der zwanziger Jahre die deutſche Landwirthſchaft heim-
ſuchte, über Grundherren und Bauern gebracht. Angeſichts ſolcher Er-
fahrungen hielten die Grundbeſitzer faſt alleſammt für ausgemacht, daß die
Geſetzgebung der napoleoniſchen Zeit die Juden weder veredelt, noch ſie
ihren chriſtlichen Mitbürgern näher geführt habe. Kein einziger der acht
Landtage empfahl die allgemeine Einführung des Edikts von 1812. Alle
verlangten vorbeugende Maßregeln zum Schutze des Grundbeſitzes; ſchade
nur, daß die Vorſchläge wieder ſehr weit aus einander gingen. Die
Einen wollten den Juden den Ankauf von Landgütern, die Anderen den
Hauſirhandel und alle Darlehnsgeſchäfte unterſagen. Auch ſollte ihnen
nicht erlaubt ſein, ſich die Namen geachteter chriſtlicher Familien anzu-
eignen; dieſe Bitte kehrte faſt auf allen Landtagen wieder, da die großen
altgermaniſchen Geſchlechter der Lehmann und Meier ſich über ihre neue
morgenländiſche Namensvetterſchaft gar nicht tröſten konnten. Die drei
Grenzprovinzen des Oſtens forderten außerdem noch ſtrenges Einſchreiten
wider die Landplage der ſchnorrenden und ſchachernden Einwanderer, die
aus der polniſchen Wiege des deutſchen Judenthums jahraus jahrein weſt-
wärts zogen und zumal in Oſtpreußen die öffentliche Sicherheit ernſtlich
gefährdeten. Die Erregung war allgemein. Kaum minder heftig als die
conſervativen Brandenburger redeten die liberalen Preußen. Selbſt die
Rheinländer ſchloſſen ſich nicht aus; ſie wollten die einheimiſchen Juden
nur als Schutzverwandte in den Gemeinden dulden, den nichtrheiniſchen
den Zuzug in die Provinz der Regel nach ganz verbieten und empfahlen
dem Könige namentlich das napoleoniſche Geſetz vom 17. März 1808,
das für die Schuldverträge der Israeliten harte, zum Theil ehrenkrän-
kende Ausnahmevorſchriften aufſtellte.

Leicht war es nicht, allen dieſen Begehren zu widerſtehen, denn ſie
ſprachen nur aus, was die große Mehrheit des Landvolks dachte, und ſie
ſtanden auch im Einklang mit der Volksmeinung außerhalb Preußens.

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[379/0395] Die Judenfrage. bereits Gewährten dachte Friedrich Wilhelm nicht wieder abzugehen, und nur einmal, in den Tagen, da die Partei Voß-Buch’s den Hof beherrſchte, ließ er ſich zu einer Zurücknahme bewegen: im December 1822 wurde den Juden der Zutritt zu den akademiſchen und Schulämtern wieder unterſagt, „wegen der bei der Ausführung ſich zeigenden Mißverhältniſſe.“ Unterdeſſen beſtanden in den neuen Provinzen des Oſtens noch die harten kurſächſiſchen und ſchwediſchen Judengeſetze, im Weſten die Vorſchriften des Code Napoleon. Um dieſe unerträgliche Ungleichheit zu beſeitigen, verlangte die Krone den Rath der Provinzialſtände. Da brach auf allen acht Landtagen ſtürmiſche Entrüſtung los. Der Groll, der hier redete, entſprang nicht, wie vormals der Judenhaß der Burſchenſchaft, einer unklaren chriſtlich-germaniſchen Schwärmerei, ſondern der wirthſchaftlichen Bedrängniß des Landvolks; denn unſägliches Elend hatten jüdiſche Wucherer und Güterſchlächter während der ſchweren Kriſis, die um die Mitte der zwanziger Jahre die deutſche Landwirthſchaft heim- ſuchte, über Grundherren und Bauern gebracht. Angeſichts ſolcher Er- fahrungen hielten die Grundbeſitzer faſt alleſammt für ausgemacht, daß die Geſetzgebung der napoleoniſchen Zeit die Juden weder veredelt, noch ſie ihren chriſtlichen Mitbürgern näher geführt habe. Kein einziger der acht Landtage empfahl die allgemeine Einführung des Edikts von 1812. Alle verlangten vorbeugende Maßregeln zum Schutze des Grundbeſitzes; ſchade nur, daß die Vorſchläge wieder ſehr weit aus einander gingen. Die Einen wollten den Juden den Ankauf von Landgütern, die Anderen den Hauſirhandel und alle Darlehnsgeſchäfte unterſagen. Auch ſollte ihnen nicht erlaubt ſein, ſich die Namen geachteter chriſtlicher Familien anzu- eignen; dieſe Bitte kehrte faſt auf allen Landtagen wieder, da die großen altgermaniſchen Geſchlechter der Lehmann und Meier ſich über ihre neue morgenländiſche Namensvetterſchaft gar nicht tröſten konnten. Die drei Grenzprovinzen des Oſtens forderten außerdem noch ſtrenges Einſchreiten wider die Landplage der ſchnorrenden und ſchachernden Einwanderer, die aus der polniſchen Wiege des deutſchen Judenthums jahraus jahrein weſt- wärts zogen und zumal in Oſtpreußen die öffentliche Sicherheit ernſtlich gefährdeten. Die Erregung war allgemein. Kaum minder heftig als die conſervativen Brandenburger redeten die liberalen Preußen. Selbſt die Rheinländer ſchloſſen ſich nicht aus; ſie wollten die einheimiſchen Juden nur als Schutzverwandte in den Gemeinden dulden, den nichtrheiniſchen den Zuzug in die Provinz der Regel nach ganz verbieten und empfahlen dem Könige namentlich das napoleoniſche Geſetz vom 17. März 1808, das für die Schuldverträge der Israeliten harte, zum Theil ehrenkrän- kende Ausnahmevorſchriften aufſtellte. Leicht war es nicht, allen dieſen Begehren zu widerſtehen, denn ſie ſprachen nur aus, was die große Mehrheit des Landvolks dachte, und ſie ſtanden auch im Einklang mit der Volksmeinung außerhalb Preußens.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/395>, abgerufen am 24.11.2024.