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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Die sieben Kreisordnungen.
stürmische Bewegung. Selbstsucht, Neid, Uebermuth, alle die häßlichen Lei-
denschaften der Klassenkämpfe brachen ohne Scheu hervor. Der Kern der
Sache wurde kaum berührt, da noch keine Partei über die schwierigen Auf-
gaben der ländlichen Selbstverwaltung ernstlich nachgedacht hatte. Noch fand
sich Niemand, der dem preußischen Adel gesagt hätte, daß es für ihn hohe
Zeit sei, die feudale Machtstellung mit der communalen zu vertauschen,
die Geschäfte der Kreisverwaltung selber auf seine Schultern zu nehmen
und sich also statt des gehässigen Vorrechts der Virilstimmen einen un-
beneideten und darum gesicherten Einfluß auf dem flachen Lande zu er-
werben. Der Kampf bewegte sich wesentlich um die Frage des Stimm-
rechts, Stand stritt gegen Stand. Dem brandenburgischen Adel gingen
die Vorschläge der Regierung noch nicht weit genug. Hier auf dem Ber-
liner Landtage stand der Adelshochmuth in voller Blüthe. Obgleich viele
dieser stolzen märkischen Junker auf ihren Gütern ein wohlwollendes Re-
giment führten und Marwitz selbst von seinen Friedersdorfer Gutsunter-
thanen wie ein Vater geliebt wurde, so betrachteten sie doch jeden Ver-
such, die Rechte der Bauern zu erweitern, als ein revolutionäres Unter-
nehmen und bewilligten sogar den bäuerlichen Mitgliedern des Provinzial-
landtags nur die Hälfte der ritterschaftlichen Tagegelder -- was der König
sofort abstellen ließ. Darum verlangten sie auch, daß die Bauern auf
den Kreistagen nur eine, höchstens zwei Stimmen erhalten sollten.

Welch ein Abstand zwischen dieser märkischen Engherzigkeit und dem
kräftigen Gemeinsinn der Preußen! Dort im Ordenslande hatte sich die
Ritterschaft längst gewöhnt die kölmischen Grundbesitzer als Ihresgleichen zu
betrachten; sie beantragte selber, daß der Landrath durch den gesammten
Kreistag gewählt werde, sonst verliere er das Vertrauen des Kreises und
die beiden unteren Stände müßten sich gekränkt fühlen. In den anderen
Provinzen bestand die Ritterschaft fast durchweg hartnäckig auf ihrem histo-
rischen Rechte, während die Bauern, meist sehr aufgeregt, Antheil an den
Landrathswahlen und eine gerechtere Vertheilung der Stimmenzahl for-
derten. Ueberall nahmen die Städte, in Sachsen sogar der Stand der
Fürsten, Partei für die Bauernschaft; in Westphalen war der clericale
Westfalus Eremita Sommer ihr eifriger Wortführer. Der König indeß
wies alle Abänderungsvorschläge zurück. Man merkte ihm wohl an, daß
er, schlicht bürgerlich wie er war, die Wünsche der Bauern keineswegs
mißbilligte; der preußischen Ritterschaft sprach er sogar seine Anerkennung
aus für ihren löblichen Gemeinsinn. Jedoch er vermochte mit seiner man-
gelhaften Rechtskenntniß sich gegen die historische Rechtsdoctrin des Kron-
prinzen nicht zu wehren und beschwichtigte die Klagenden durch die Ver-
sicherung: auf die Stimmzahl der Kreistage komme wenig an, da jedem
Stande frei stehe in Theile zu gehen.

So kamen denn in den Jahren 1825 -- 28 sieben neue Kreisord-
nungen zu Stande, eine gemeinsame für Rheinland-Westphalen und je

Die ſieben Kreisordnungen.
ſtürmiſche Bewegung. Selbſtſucht, Neid, Uebermuth, alle die häßlichen Lei-
denſchaften der Klaſſenkämpfe brachen ohne Scheu hervor. Der Kern der
Sache wurde kaum berührt, da noch keine Partei über die ſchwierigen Auf-
gaben der ländlichen Selbſtverwaltung ernſtlich nachgedacht hatte. Noch fand
ſich Niemand, der dem preußiſchen Adel geſagt hätte, daß es für ihn hohe
Zeit ſei, die feudale Machtſtellung mit der communalen zu vertauſchen,
die Geſchäfte der Kreisverwaltung ſelber auf ſeine Schultern zu nehmen
und ſich alſo ſtatt des gehäſſigen Vorrechts der Virilſtimmen einen un-
beneideten und darum geſicherten Einfluß auf dem flachen Lande zu er-
werben. Der Kampf bewegte ſich weſentlich um die Frage des Stimm-
rechts, Stand ſtritt gegen Stand. Dem brandenburgiſchen Adel gingen
die Vorſchläge der Regierung noch nicht weit genug. Hier auf dem Ber-
liner Landtage ſtand der Adelshochmuth in voller Blüthe. Obgleich viele
dieſer ſtolzen märkiſchen Junker auf ihren Gütern ein wohlwollendes Re-
giment führten und Marwitz ſelbſt von ſeinen Friedersdorfer Gutsunter-
thanen wie ein Vater geliebt wurde, ſo betrachteten ſie doch jeden Ver-
ſuch, die Rechte der Bauern zu erweitern, als ein revolutionäres Unter-
nehmen und bewilligten ſogar den bäuerlichen Mitgliedern des Provinzial-
landtags nur die Hälfte der ritterſchaftlichen Tagegelder — was der König
ſofort abſtellen ließ. Darum verlangten ſie auch, daß die Bauern auf
den Kreistagen nur eine, höchſtens zwei Stimmen erhalten ſollten.

Welch ein Abſtand zwiſchen dieſer märkiſchen Engherzigkeit und dem
kräftigen Gemeinſinn der Preußen! Dort im Ordenslande hatte ſich die
Ritterſchaft längſt gewöhnt die kölmiſchen Grundbeſitzer als Ihresgleichen zu
betrachten; ſie beantragte ſelber, daß der Landrath durch den geſammten
Kreistag gewählt werde, ſonſt verliere er das Vertrauen des Kreiſes und
die beiden unteren Stände müßten ſich gekränkt fühlen. In den anderen
Provinzen beſtand die Ritterſchaft faſt durchweg hartnäckig auf ihrem hiſto-
riſchen Rechte, während die Bauern, meiſt ſehr aufgeregt, Antheil an den
Landrathswahlen und eine gerechtere Vertheilung der Stimmenzahl for-
derten. Ueberall nahmen die Städte, in Sachſen ſogar der Stand der
Fürſten, Partei für die Bauernſchaft; in Weſtphalen war der clericale
Weſtfalus Eremita Sommer ihr eifriger Wortführer. Der König indeß
wies alle Abänderungsvorſchläge zurück. Man merkte ihm wohl an, daß
er, ſchlicht bürgerlich wie er war, die Wünſche der Bauern keineswegs
mißbilligte; der preußiſchen Ritterſchaft ſprach er ſogar ſeine Anerkennung
aus für ihren löblichen Gemeinſinn. Jedoch er vermochte mit ſeiner man-
gelhaften Rechtskenntniß ſich gegen die hiſtoriſche Rechtsdoctrin des Kron-
prinzen nicht zu wehren und beſchwichtigte die Klagenden durch die Ver-
ſicherung: auf die Stimmzahl der Kreistage komme wenig an, da jedem
Stande frei ſtehe in Theile zu gehen.

So kamen denn in den Jahren 1825 — 28 ſieben neue Kreisord-
nungen zu Stande, eine gemeinſame für Rheinland-Weſtphalen und je

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[373/0389] Die ſieben Kreisordnungen. ſtürmiſche Bewegung. Selbſtſucht, Neid, Uebermuth, alle die häßlichen Lei- denſchaften der Klaſſenkämpfe brachen ohne Scheu hervor. Der Kern der Sache wurde kaum berührt, da noch keine Partei über die ſchwierigen Auf- gaben der ländlichen Selbſtverwaltung ernſtlich nachgedacht hatte. Noch fand ſich Niemand, der dem preußiſchen Adel geſagt hätte, daß es für ihn hohe Zeit ſei, die feudale Machtſtellung mit der communalen zu vertauſchen, die Geſchäfte der Kreisverwaltung ſelber auf ſeine Schultern zu nehmen und ſich alſo ſtatt des gehäſſigen Vorrechts der Virilſtimmen einen un- beneideten und darum geſicherten Einfluß auf dem flachen Lande zu er- werben. Der Kampf bewegte ſich weſentlich um die Frage des Stimm- rechts, Stand ſtritt gegen Stand. Dem brandenburgiſchen Adel gingen die Vorſchläge der Regierung noch nicht weit genug. Hier auf dem Ber- liner Landtage ſtand der Adelshochmuth in voller Blüthe. Obgleich viele dieſer ſtolzen märkiſchen Junker auf ihren Gütern ein wohlwollendes Re- giment führten und Marwitz ſelbſt von ſeinen Friedersdorfer Gutsunter- thanen wie ein Vater geliebt wurde, ſo betrachteten ſie doch jeden Ver- ſuch, die Rechte der Bauern zu erweitern, als ein revolutionäres Unter- nehmen und bewilligten ſogar den bäuerlichen Mitgliedern des Provinzial- landtags nur die Hälfte der ritterſchaftlichen Tagegelder — was der König ſofort abſtellen ließ. Darum verlangten ſie auch, daß die Bauern auf den Kreistagen nur eine, höchſtens zwei Stimmen erhalten ſollten. Welch ein Abſtand zwiſchen dieſer märkiſchen Engherzigkeit und dem kräftigen Gemeinſinn der Preußen! Dort im Ordenslande hatte ſich die Ritterſchaft längſt gewöhnt die kölmiſchen Grundbeſitzer als Ihresgleichen zu betrachten; ſie beantragte ſelber, daß der Landrath durch den geſammten Kreistag gewählt werde, ſonſt verliere er das Vertrauen des Kreiſes und die beiden unteren Stände müßten ſich gekränkt fühlen. In den anderen Provinzen beſtand die Ritterſchaft faſt durchweg hartnäckig auf ihrem hiſto- riſchen Rechte, während die Bauern, meiſt ſehr aufgeregt, Antheil an den Landrathswahlen und eine gerechtere Vertheilung der Stimmenzahl for- derten. Ueberall nahmen die Städte, in Sachſen ſogar der Stand der Fürſten, Partei für die Bauernſchaft; in Weſtphalen war der clericale Weſtfalus Eremita Sommer ihr eifriger Wortführer. Der König indeß wies alle Abänderungsvorſchläge zurück. Man merkte ihm wohl an, daß er, ſchlicht bürgerlich wie er war, die Wünſche der Bauern keineswegs mißbilligte; der preußiſchen Ritterſchaft ſprach er ſogar ſeine Anerkennung aus für ihren löblichen Gemeinſinn. Jedoch er vermochte mit ſeiner man- gelhaften Rechtskenntniß ſich gegen die hiſtoriſche Rechtsdoctrin des Kron- prinzen nicht zu wehren und beſchwichtigte die Klagenden durch die Ver- ſicherung: auf die Stimmzahl der Kreistage komme wenig an, da jedem Stande frei ſtehe in Theile zu gehen. So kamen denn in den Jahren 1825 — 28 ſieben neue Kreisord- nungen zu Stande, eine gemeinſame für Rheinland-Weſtphalen und je

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/389>, abgerufen am 24.11.2024.